Heute meldete der Spiegel, dass uns die Bundesregierung und das Erdogan-Regime als Geisel ihrer Syrien-Kriegsführung nehmen. Geopfert wurden: die türkische Bevölkerung in Deutschland und der Türkei. Keine Visafreiheit heisst keine Reisefreiheit, Familien können nicht zusammenkommen, sich nicht unkompliziert besuchen, sondern bleiben getrennt, ein Entfremdungsförderungsprogramm, verfassungsfeindlich, denn dort steht die Familie unter Schutz. Das Erdogan-Regime erhält von der Bundesregierung – angeblich, die Bundesregierung interpretiert das ganz anders – einen geschichtspolitischen Persilschein, dass jüngst die Bezeichnung des Massenmordens gegen die Armenier vor rund hundert Jahren als “Völkermord” durch den Bundestag rechtlich nicht weiter von Belang sei. Die tollwutartige Nationalismusideologie in der Türkei, die dort als Klebstoff zwischen Islamisten und Kemalisten funktioniert, wahrt ihr Gesicht gegenüber der Großmacht Deutschland und kann sich also wieder ohne Ablenkung durch außenpolitische Rücksichten ihren innenpolitischen Interessen widmen. Was handelt die Bundesregierung für dieses giftige Geschenk aus? Dass MdBs wieder zur Luftwaffe nach Incirlik reisen dürfen. Boah ey, wie haben sie das bloss hingekriegt?
Für mich sind das weitere Symptome für die Feudalisierung der Politik. Nix merken von denen da draußen. Ihre Bedürfnisse und Probleme gar nicht erst ignorieren. Aber sich selbst aufblasen, und weiter aufblasen, um dann mit Symbolismen als Trophäe nachhause zu kommen als Beweis, wie man es denen aber gezeigt hat. Das ist es, was die Menschen an der Politik so anwidert.
Europäische Demokratien, unvollkommen wie sie in der Türkei wie auch in Deutschland sind, entwickeln sich so immer weiter zurück, dass sie vielleicht eines Tages da ankommen, wo aktuell so unterschiedliche Länder wie Usbekistan und Äthiopien gerade sind. Beide Problemfälle sind nicht so weit von uns weg, wie es aussieht.
Usbekistan ist ein strategisches Schlüsselstück in Mittelasien, wie Incirlik. Es ist für die westlichen Großmächte Luftwaffenbasis für Afghanistan-Einsätze. Es ist Rohstoffquelle und wichtiges Teilstück der chinesischen Seidenstraßenstrategie. Darum ist der hier verlinkte Handelsblatt-Bericht zu Recht erregt. Es ist eine Gefahrenquelle für den Weltfrieden. Um das hervorzuheben, hob das Hendelsblatt gleich noch diesen Gastbeitrag eines US-Wissenschaftler-Paares dazu, dessen recht geraffte analytische Sätze ja nicht falsch sind.
Äthiopien ist nicht nur als Wachstumsmarkt umkämpft, wie in dem FAZ-Bericht auch beschrieben. Vor allem ist es westlicher Hilfspolizist zur Eindämmung von Piratenwesen und islamistischen Milizen im Failed State Somalia. Die barackenartige Polizeiwache dieses Hilfspolizisten droht nun weggefegt zu werden, weil auch hier das Regime nicht mehr die geringste Ahnung von seinem Volk hat. Auch hier werden die Großmächte aus West und Ost nicht tatenlos zusehen, sondern zu Sicherung ihrer strategischen und ökonomischen Interessen intervenieren. Und zwar ohne uns zu fragen.
Und? Werden Sie jetzt auch nervös?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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