Notizen zu einem allgegenwärtigen, widersprüchlichen und vieldeutigen Narrativ, Variationen inbegriffen
von Wolfgang Hippe

Auftakt

Der Begriff der „Offenen Gesellschaft”/„Open Society” ist in der Öffentlichkeit überall präsent und scheint zeitlos gültig zu sein. Er ist in aller Regel irgendwie positiv besetzt und soll den Rahmen für Liberalität, Egalität und Säkularität einer Gesellschaft bilden. Weitere Stichworte, die in Zusammenhang mit dem „Erfolgsmodell” auftauchen: Aufklärung, Offenheit, Partizipation, Fortschritt, Gerechtigkeit, Konsens, Interessenausgleich, Aufstiegschancen, Wachstum und Wohlstand. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Kurz: die „Offene Gesellschaft“ steht für ein umfassendes, aber unbestimmtes und deshalb interpretationsbedürftiges Versprechen für eine bessere Zukunft der Gesellschaft insgesamt. In Zeiten eines dominanten Neoliberalismus stellt sich allerdings die Frage nach der aktuellen Interpretation des liberalen Begriffs und den damit verbundenen Interessen.

Die Spanne der Befürworter einer „Offenen Gesellschaft” reicht von eher auf die sog. Zivilgesellschaft ausgerichtete Initiativen (z.B. Open Society Foundation, Initiative Offene Gesellschaft, Pulse of Europe, FuturZWEI) und Individuen aller Richtungen über die etablierten Parteien, ihnen zugeordnete und sonstige Stiftungen, Ministerien und internationale Organisationen wie die OECD bis hin zu Banken, Wirtschaftsunternehmen und Interessensverbänden aller Art. Auch in postkolonialen Diskursen taucht sie auf. Die breite Palette legt die Vermutung nahe, dass nicht alle Protagonistinnen dasselbe meinen (können), wenn sie das Narrativ beschwören. Ist das Stichwort einmal gefallen, scheinen sich im Diskurs allerdings weitere Ausführungen zu erübrigen. In aller Regel werden Begriff wie Narrativ vor allem als Branding (oder als Markensignal) eingesetzt.

Der Begriff der „offenen Gesellschaft” geht ursprünglich auf Überlegungen des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Karl Popper zurück. Er war Mitglied der Mont Pelerin Society, die von Friedrich von Hayek 1947 ins Leben gerufen wurde und als Urzelle der heutigen neoliberalen Weltanschauung gilt. Hayek definierte den Markt als einen nicht teleologischen Prozess. Popper konstatierte, dass sich aus der Weltgeschichte kein Sinn ableiten lässt. Hayek bezweifelte, ob Wirtschaftsprozesse im Einzelnen planbar seien. Popper bestand darauf, dass jedwede Erkenntnis erst im Nachhinein zu verifizieren sei. Deshalb wandte er sich auch gegen die Auffassung, „dass, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen“ sei. „Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden“, seien entgegen der entsprechenden Theorien weder „gewollt“ noch „geplant“. Zwar müsse man zugegeben, dass es derartige „Verschwörungen“ geben könnte, doch sei es eine „auffallende Tatsache, die die Verschwörungstheorie trotz der Existenz von Verschwörungen widerlegt“ sei, was ihre Resultate betreffe: „Verschwörer genießen nur selten die Früchte ihrer Verschwörung.“

Nicht nur wegen derartiger Ausführungen ist mehrfach herausgearbeitet worden, dass der Neoliberalismus definitorisch schwer zu fassen ist und „nur aufgrund seiner historischen Ausprägungen in den verschiedenen Formen umrissen werden“ kann. Anstatt sich um eine „eindeutige Begriffsbestimmung“ zu bemühen, sei es produktiver, entlang der historischen Entwicklung „die unterschiedlichen Strömungen und Ausprägungen innerhalb des neoliberalen Rahmens“ zu erfassen – dabei werde dessen gesamte „Klaviatur“ in Medien und Wissenschaft nachvollziehbarer.

Die These von der „Offenen Gesellschaft”/„Open Society” selbst basiert nicht auf einer klassischen Gesellschaftsanalyse, die sich mit Strukturen, Bevölkerung, Wirtschaft usw. befasst. Sie setzt sich vielmehr (ideengeschichtlich) mit den Modalitäten von Herrschaft auseinander und grenzt sich gegen totalitäre wie elitäre Tendenzen und entsprechende Herrschaftsmechanismen in sog. „geschlossenen Gesellschaften” ab. Zu ihnen gehören nicht nur stalinistische und nationalsozialistische/faschistische Systeme, sondern tendenziell auch Nationalstaaten.

Offen ist eine Gesellschaft aus Poppers Sicht immer dann, wenn sie sich nicht an (überzeitlichen) Dogmen oder Ideen (etwa dem „auserwählten Volk”, der „auserwählten” Rasse oder Klasse oder einer Religion) oder (überkommenen) Lebensweisen (etwa der „Ehe”) orientiert, sondern stets auf Reformen und mögliche Alternativen im bestehenden System und gegen entsprechenden Traditionen – und damit verbundenen Interessen (?) – setzt. Im Zentrum stehen weniger wie auch immer zu definierende Kollektive, eher die Einflussmöglichkeiten der einzelnen Individuen, ihrer Lebensart, ihrer Initiativen, Entscheidungen und Wünsche. So etwas wie „große Erzählungen“ gibt es für ihn nicht – eine aus der „Weltgeschichte“ abgeleitete „Wahrheit” existiert nicht. Ob ein Plan oder ein Vorhaben „richtig” liegen, hängt vielmehr vom Ergebnis ihrer praktischen Erprobung und der nachfolgenden Evaluation ab – ein etwaiges Scheitern inbegriffen. Das Konzept des wissenschaftlichen „Kritizismus” (oder „Kritischem Rationalismus”), dem Popper eng verbunden war, sieht so als „Ideal” keine „endgültigen”, sondern nur „vorläufige” Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Fragen und Probleme vor. Dazu ergänzte Popper: „In Wirklichkeit lässt sich (außerhalb der Mathematik und der Logik) nichts beweisen oder rechtfertigen.” Nur folgerichtig lehnte er jedwede Form von Visionen oder Utopien ab. Aber: eben weil es „keine Geschichte der Menschheit” gibt, liege der „wirkliche Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten” vielmehr bei dem „Leben des vergessenen, des unbekannten individuellen Menschen; seine Trauer, seine Freude, seine Leiden und sein Tod —sie sind der wirkliche Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten.”

Gleichwohl spielt in Karl Poppers ideellem, demokratietheoretischem Scenario der (nationale) Staat eine wichtige Rolle. Noch 1992 notierte er: „Der freie Markt benötigt den Schutz eines rechtlichen Rahmens, eines Rechtsstaats. Ein primitiver Markt — Tausch von Äpfeln gegen Spinat — mag vielleicht auch ohne diesen Rahmen auskommen. Aber ein so primitiver Markt bietet nur geringe Freiheit — in diesem Fall: geringe Wahlfreiheit. Falls man dringend ein Fahrrad braucht, kann auf einem Markt ohne Geld sein, dass keines zu bekommen ist. Wenn aber Geld einmal eingeführt ist, spielt der Staat eine wichtige Rolle (da er das Geld in den Verkehr bringt); und wenn ein so kompliziertes Gut wie ein Fahrrad gekauft und verkauft wird, entstehen Fragen nach dem Schutz des Verbrauchers, nach Gewährleistung, nach einer Garantie. Aber eine Garantie ist wertlos ohne eine Rechtsordnung mit einem ausgebauten Kaufrecht.” Deshalb empfiehlt er das Modell der „westlichen Rechtsordnung” als global gültiges Erfolgsmuster überhaupt: „Ohne den Aufbau eines Rechtsstaates ist eine freie Marktwirtschaft und eine Annäherung an die wirtschaftlichen Errungenschaften des Westens undenkbar.” Nur so könne man der „starren Tradition eines Regimes der Angst” entkommen und „Vertrauen” schaffen.

Im „Positivismusstreit“, einer inzwischen legendären Kontroverse um sozialwissenschaftliche Methodiken in den 1960ern, betonten dagegen Vertreter der „Kritischen Theorie” von der Gesellschaft wie Theodor W. Adorno oder Jürgen Habermas die „Abhängigkeit der Einzelerscheinungen” von der Totalität einer Gesellschaft: „Eine jede Einsicht von der Gesellschaft als ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren.” Die Fakten seien deshalb „selbst kein Letztes, sondern ein Bedingtes”. Kurz, es gelte, nicht nur gesellschaftliche Missstände auszumachen, sondern auch und vor allem deren Ursachen zu benennen. Entsprechende Themen u.a.: die ökonomische Basis der jeweiligen Gesellschaftsformation und damit verbundene Machtfragen. Daraus abgeleitete Erkenntnisse wären aus Sicht des „Kritizismus” freilich zumeist „Dogmen” ohne Bestand.

Variationen (1): die „Offene Gesellschaft“ als Utopie der „Mitte“

Die Rede von der „Offenen Gesellschaft” ist als Narrativ fest im alltäglichen Politdiskurs etabliert und hat sich längst von den Popper’schen Überlegungen gelöst. Ihre aktuellen „Freunde“ beschwören bei ihrer Argumentation stets eine wie auch immer geARTEte gesellschaftliche „Mitte” und betonen dabei die für sie auch heute noch „überraschende Relevanz” von Poppers Ideen aus den 1940er Jahren. Als negative Folie auch für die Jetzt-Zeit dienen ihnen die damaligen totalitären Herrschaftsformen – Stalinismus und Nationalsozialismus. Gelegentlich werden diese alten Raster für die Jetzt-Zeit mehr oder weniger überzeugend „modernisiert”. Dann geht es einmal um Putin und seine Propaganda, daneben um den EU-weiten Rechtspopulismus und die AfD hierzulande. Eine Variante der diversen „Analysen” in diesem Zusammenhang ist die These von der „Querfront”, wonach „Lechts und Rinks” (Ernst Jandl) eine „Einheitsfront” bilden. Hier folgt man offensichtlich den Totalitarismus-Theorien der 1950er Jahre. Nicht fehlen darf dabei der Appell an die „Anständigen“, sich diesen Angriffen entgegenzustemmen und die „Mitte“ und das „eigene Milieu“ zu verteidigen. Zu derlei passt auch eine zunächst von dem Soziologen Armin Nassehi entwickelte These, wonach „rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“.

Doch wofür steht dann (noch) die politische Mitte? Logischerweise kann man sie zunächst nur über ihre wie auch immer ausgemachten Ränder definieren – ohne „links“ und „rechts“ keine „Mitte“. Der Politologe Klaus Lenk hat schon vor längerem darauf hingewiesen, dass der „Mythos Mitte“ eng mit klassischen liberalen Positionen, der Ablehnung von Utopien und einem gewissen Pragmatismus verbunden ist. Zu den „Mitte-Denkern“ und „Mitte-Philosophen“ zählt er u.a. Adam Smith, John Stuart Mill und natürlich Karl Popper: „Inhaltlich geht es bei der Politik der Mitte um das einstige bürgerliche Lebensideal: um die Suche nach Gleichgewicht und Harmonie. Gegensätzliche Elemente wie Eigennutz und Gemeinnutz, Freiheit und Gleichheit sollen im Sinne der alten Weisheit eines dritten, mittleren Weges unterlaufen werden. Gelänge dies, sei auch das überkommene Rechts-Links-Schema zugunsten von “richtig” oder “falsch” endgültig überwunden.“
Wer mithin von der „Mitte“ redet, spricht im Subtext zugleich von der Harmonisierung sozialer Gegensätze, von der Absage an extreme Forderungen (etwa in der Umweltpolitik) und behauptet, einen realistischen, sachlichen, der guten Sache dienenden Standpunkt einzunehmen – Utopien gleich welcher Art sind dabei eher störend ebenso wie eine dialektische Beziehung zwischen zwei Meinungen oder Politiken.

Im politischen Alltag wird „die Mitte“ allerdings in aller Regel empirisch mit Hilfe der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt wird. Nach der sog. Gauß’schen Normalverteilung bildet sich die Häufigkeit einer (politischen) Meinung in einer „symmetrischen Glockenkurve“ ab, die nach „rechts“ und „links“ abfällt. Je steiler die Kurve, deshalb einheitlicher die „Mitte“. Das Ergebnis ist dadurch stets relativ. Wenn etwa die Mehrheit der Bevölkerung der Auffassung ist, dass „Opa kein Nazi war“, dann entspricht das der harmonischen Position der „Mitte“. Wenn die Mehrheit für „Hartz IV“ steht, dito. Im psychologischen Kontext wird der Ansatz zwar auch verwendet – aber darauf hingewiesen, dass die Annahme der Normalverteilung „theoretischer Natur ist, da sie nicht direkt aus dem Bedingungskomplex abgeleitet werden kann“.
Hinzu tritt ein weiterer Aspekt. Wenn bei Meinungsumfragen einer bestimmten Position zugestimmt wird, folgt daraus nicht zwingend, dass man sich im Alltag auch an dieser Auffassung orientiert. Die Mehrheit kann etwa energisch einen ökologisch orientierten Lebensstil befürworten, ohne die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen und das eigene Verhalten darauf auszurichten.

Trotz dieser anti-utopischen Komplexitäten der „Mitte“ und obwohl Popper jedwede Visionen und Utopien abgelehnt hat, gilt die „Offene Gesellschaft” ihren heutigen „Freunden“ gleichwohl einerseits als erstrebenswerte Utopie, der man sich in kleinen Schritten und mit viel persönlichem Engagement annähern wolle/solle. Andererseits soll sie „dynamisch … in einer sozialen und natürlichen Umwelt, die stetig in Bewegung ist”, weiterentwickelt werden, denn „die Offene Gesellschaft braucht ja Kritik”. Der dann nicht so genannte utopische Blick nach Vorn verheißt: „In einer Offenen Gesellschaft gibt es kein Volk, sondern eine Bevölkerung, keine Lügenpresse, sondern Pressefreiheit, keinen Überwachungsstaat, sondern individuelle Freiheit und Privatheit, keine Willkür, sondern Recht.” Nicht thematisiert wird, dass Poppers Ansatz „das ungebrochene Vertrauen in die Grundtendenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts” voraussetzt, was immer darunter zu verstehen ist. Eine offene Frage, wie sich das mit der von den „Freunden” immer wieder hervorgehobenen Bedeutung der „ökologischen Frage” verträgt.

Derlei Statements stehen bei genauerem Hinsehen so weniger in der Tradition des „Kritizismus” denn in der andauernden Debatte um den Stellenwert politischer Utopien. Dabei ist die politische Utopie in der Vergangenheit immer wieder von ganz unterschiedlichen Positionen aus mindestens im Niedergang gesehen worden. Der schon erwähnte Jürgen Habermas hat bereits 1985 die „Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen Energien” konstatiert, Hans Magnus Enzensberger schrieb 1992 einen „Nachtrag zur Utopie” in einem Sammelband, der sich u.a. mit dem „Abschied vom utopischen Herrschaftswissen der Intellektuellen” befasste. Zuvor hatte Richard Saage das Ende einer „zentralen Variante des utopischen Denkens, nämlich ihrer autoritär-etatistischen Linie” diagnostiziert und eingangs wider den Zeitgeist Oscar Wilde zitiert. „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist”, hatte der 1891 geschrieben, „verdient keinen Blick, denn sie lässt die Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.”

Neben Oscar Wilde hätte Saage vielleicht auf William Gibson verweisen sollen, der mit seinen seit Mitte der 1980er Jahre erschienenen SF-Romanen Begriffe wie „Cyberspace” und „Matrix” prägte und damit nicht nur Hollywood angeregt hat. In Teilen hat er die Debatte um die gesellschaftlichen Perspektiven der Digitalisierung erahnt. Neben Gibson gibt es eine Vielzahl von Autoren, die schon früh auf aktuelle Folgen der kapitalistisch/imperialistisch/globalen Praktiken hingewiesen haben und deren Prognosen teilweise von der realen Entwicklung überholt worden sind. Genannt seien hier nur John Brunner und Ursula Le Guin oder Ernest Callenbach, der mit seiner SF „Ökotopia” aus dem Jahre 1975 auch die Ökologie-Bewegung hierzulande erreichte. Dazu Klassiker wie Aldous Huxley und dessen schon 1932 erschienener Roman „Schöne neue Welt“, der sinnbildlich ein späteres Programm namens „Kraft durch Freude” vorweggenommen hat. Das Konzept blieb nach 1945 unter anderem Namen und veränderten Konditionen auf der Tagesordnung. Später wurde daraus die „Freizeitgesellschaft”.

Auffällig ist, dass seitens der „Freunde der Offenen Gesellschaft” immer wieder und nahezu ausschließlich an George Orwells „1984″ erinnert wird. Eine negative Vision, die einerseits in das stalinistische Raster passt, andererseits den schon damals etablierten Herrschaftstechniken insgesamt nicht gerecht wird. Wenig überraschend, dass dann „Brazil” (R: Terry Gilliam) keine Erwähnung findet. Der Film entwickelt „1984″ als schwarze Komödie weiter: „Worum es in Brazil wirklich geht, ist, dass das System nicht aus großartigen Führern besteht, oder aus großartigen Maschinisten, die es kontrollieren”, so Terry Gilliam. „Es besteht aus einzelnen Menschen, die einfach ihren Job tun, als kleines Zahnrad, und Sam (die Hauptfigur, W.H.) beschließt ein kleines Zahnrad zu bleiben und letztendlich zahlt er den Preis dafür.” Dreißig Jahre später hat ein Kritiker angemerkt, „Brazil“ erscheine ihm mittlerweile weniger als eine sophisticated Parodie auf Orwells Roman denn als realistische Beschreibung der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang B.F. Skinners „Futurum Zwei” aus dem Jahr 1948. Die Stiftung Futurzwei, eine der Partnerinnen der Initiative Offene Gesellschaft , erinnert nicht nur mit ihrem Namen an die damit verbundenen behavioristischen Ansätze. Der Roman erzählt die Geschichte einer Art Hippie-Kommune, die sich erfolgreich der ökologisch orientierten Alternativwirtschaft verschrieben hat und die „Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft” lebt. In einem Vorwort von 1969 empfiehlt Skinner, einer der Väter des Behaviorismus, seinen Leserinnen u.a.: „Vereinfachen Sie Ihre Bedürfnisse. Lernen Sie, wie man mit weniger Eigentum glücklich sein kann.” Oder: „Es gibt keine Formen, die unwandelbar sind. Veränderungen können wiederum verändert werden. Akzeptieren Sie keine ewige Wahrheit, experimentieren Sie.” Derlei Anregungen finden sich auch im Stiftungsprogramm des 21. Jahrhunderts – von der „Kuchentratsch-AG” über das Lastenrad „Kasimir” bis zum Konzept „Langsam reisen”. Teilweise geht man ganz im Zeitgeist noch darüber hinaus. Etwa wenn Futurzwei fordert: „Glauben Sie an sich selbst.” Oder aufklärt: „Ihre Bewegung muss witzig und cool sein. Moral nützt nichts. Es muss steil gehen.” Es geht schließlich nichts gegen das Reiz/Reaktionsschema, auch wenn dabei manchmal der intendierte ironische Reflex unter die Räder kommt.

Bliebe noch anzumerken, dass 2016 ein besonderes Jubiläum begangen wurde. 500 Jahre zuvor ist „Utopia“, die namensstiftende Erzählung von Thomas Morus, erschienen. Dazu hat es eine Vielzahl von Betrachtungen, Kommentare und Würdigungen gegeben. Hier sei nur auf die Sendereihe des DLF verlinkt. Dort finden sich ganz unterschiedliche Anmerkungen zu der utopischen Fragestellung. Aus dieser Übersicht sei hier nur ein Statement zitiert, das sich strikt gegen die Dominanz einer utopischen Orientierung wendet: „Unserer Krise ist weder mit dramatischen Szenarien des Untergangs zu begegnen, noch mit moralisch aufgeladener Politik. Sondern mit klaren Analysen und mutigen gesellschaftlichen Debatten, die in konfliktreicher Erfahrung und alltäglicher Vernunft gründen. Ein kluger Pragmatismus ist jetzt gefragt, der auf große Visionen, die endgültige Lösungen versprechen, verzichtet.“ Soweit Ulrike Ackermann.

Variationen (2): Offenheit & Innovation

Die Verbindung der „Offenen Gesellschaft” und der mit ihr verbundenen Themen und Thesen von neoliberalen Ansätzen und entsprechenden neueren Konzepten von Herrschaft sind ungebrochen. Zentrale Stichworte wie „Offenheit” für Veränderungen, Fortschritt, Individualität, Transparenz und natürlich Innovation oder die Vorläufigkeit aller Erkenntnisse sind die gleichen, in unterschiedlichsten Wissensbereichen finden sich schnell Anknüpfungspunkte. Hier seien nur einige Aspekte benannt.

Aktuelle, neoliberale Management-Theorien wie das Nudging widmen sich entsprechenden Fragestellungen. Dabei geht es ebenso um „Anstöße” zur Förderung des Gemeinwohls wie der individuellen Entwicklung. Die Transparenz und damit die kollektive Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen gehören ebenso zum Programm wie die Förderung eines gesunden individuellen Lebensstils. Das Ganze firmiert unter dem Stichwort des „libertären Paternalismus”.
Hier könnte man auch das Self-Tracking oder „Quantified Self“ einordnen: digitale Apparate vermessen Menschen in ihrem Alltag und stoßen sie an, über quantitative Messdaten (Puls, Blutdruck, Blutzuckerspiegel) zur tieferen Selbsterkenntnis zu gelangen und so u.a. die berufliche Produktivität qualitativ zu verbessern. Themen dabei u.a.: die Ernährung oder Tipps zur Optimierung des Schlafens.

Die Theorien rund um Governance und Good Governance befassen sich mit der innovativen Auflösung überkommener hierarchisch organisierter Strukturen (nicht nur) im staatlichen Bereich. Zwingend verbunden ist das mit der Orientierung an einer wie auch immer geARTEten ökonomischen Effizienz. Im Ergebnis soll es zu einer vernetzten, kooperativen, individualisierten und sich selbst organisierenden (und oft digital vernetzten) Organisation mit flachen Hierarchien kommen. Kurz, es geht um das „Regieren ohne Regierung”. Dazu wird die grundsätzliche Dominanz privatwirtschaftlicher Managementmethoden auch im öffentlichen Sektor betont. Erst wenn der „Staatsapparat“ zu einem „Unternehmen” inkl. Anreizorientierung, Outsourcing, PPP umgeformt ist, ist er effizient. Dazu gehört zwingend die Installierung des Wettbewerbs der Anbieter von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. „Die Governance“, so Wendy Brown, „bezieht ebenso die Betonung der Integration ungleichartiger Elemente (eines Betriebs) in eine harmonisierte Menge von Zwecken aus dem Geschäftsleben ein, eine Integration, die auch Fungibilität (= Messbarkeit, Standardisierung) und Ersetzbarkeit jedes Elements voraussetzt, die Legitimität, sie wegzuwerfen oder bei Bedarf zu ersetzen. Auf diese Weise schweißt die ‚Ökonomisierung des Politischen‘, die von der neoliberalen Governance impliziert wird, Bürger zu einem gemeinsamen Unternehmen zusammen, während die klassischen Prinzipien der Gleichheit, der politischen Autonomie, der Universalität oder auch der paternalistische Schutz, der vom klassischen liberalen oder Wohlfahrtsstaat angeboten wurde, (bestenfalls) in den Hintergrund geschoben wird.“ Dazu wird der Bürger zum Kunden auch staatlicher Angebote.

Unverzichtbar in diesem Diskurs ist der Bezug zur neuerdings populären „disruptiven Innovation“. Im Gegensatz zum eher evolutionär orientierten (industriellen) „Fortschritt” – der „inkrementellen Innovation“ -, bei dem bereits existierende Produkte und Produktionsabläufe kontinuierlich verbessert und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen entsprechend erhöht wird (Stichworte: Stammbelegschaft, stabile Karrieremöglichkeiten), bricht die „Disruption” bewusst mit bestehenden Strukturen und der ansonsten von der „Mitte“ propagierten „Harmonie“. Kurz: „Innovation“ sticht „Harmonie“, um die „Mitte“ auf Dauer an der Macht zu halten.
Nicht nur bestimmte Produkte sind nun im wahrsten Sinne des Wortes „von gestern”. „Der” Markt wird „plötzlich” mit einem Produkt konfrontiert, das zunächst den Konsum, dann aber auch das soziale Verhalten insgesamt verändert, wenn man denn „offen” für den damit verbundenen neuen Lifestyle ist. Das soziale Verhalten passt sich Zug um Zug den innovativen Produkten an (ein triviales Beispiel: das Smartphone).
Marketing ist ein unverzichtbarer, oft übersehener Bestandteil des disruptiven Konzepts. Derlei hat freilich eine gewisse Tradition. Henry Ford (“Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde”) hat nicht etwa das Auto neu erfunden, „sondern dessen preisgünstige Massenfertigung eingeführt (unbelegtes Zitat: ,Wir liefern Autos in jeder Farbe. solange sie schwarz ist‘). Erst damit hat sich unsere Welt radikal verändert.” Auch wenn gelegentlich Kritik an der „disruptiven Evolution” geäußert wird, hat das die Karriere des Begriffs kaum behindert. Passend dazu kommt es bei diesem Trend – so der Hinweis – auf motivierte und kreative individuelle Unternehmerpersönlichkeiten an – kurz auf Start ups und damit verbundene Visionen. Was die Produktion betrifft, fällt in globalisierten Zeiten die Wahl natürlich auf den kostengünstigsten Standort – irgendwo da draußen.
Aktuell wird dazu vermehrt darauf hingewiesen, dass Disruption, jene „radikale, ebenso kreative wie zerstörerische Umwälzung”, auch Gesellschaft und Staat überformen, vor allem ganz unmittelbar die (politische) Kommunikation und damit auch das herkömmliche Verständnis von Öffentlichkeit beeinflussen (können): „Wenn politische Werbung technisch genauso wie kommerzielle virale Werbung funktionieren kann, dann kann jeder mit der richtigen Taktik im richtigen Augenblick die Aufmerksamkeit im Netz auf seine Themen ziehen.”

Zwischenstopp – Fragmentisierung, Kompetenz, Kreativität & ein peinliches Geheimnis

Derlei Beispiele für theoretische neoliberale Konzepte in unterschiedlichsten Feldern von der Kultur- über die Sozial- bis hin zur Finanzwissenschaft und -politik ließen sich endlos fortsetzen. Im Ergebnis tritt dabei die gesamtgesellschaftliche Perspektive der „Offenen Gesellschaft“ jeweils hinter kleinteilig-fachspezifischen und einer letztlich an (ökonomischer) Effizienz orientierten Vorstellung zurück. Oder anders ausgedrückt: sie verschwindet hinter dem jeweiligen Fachjargon und ist nur mit erheblichem Aufwand = vielen Seiten Text und entsprechenden Verweisen wieder herzustellen. Derlei ist u.a. unter dem Stichwort Fragmentisierung (oder neumodisch Diversity) zusammengefasst worden.

Dem entspricht wiederum, dass der Neoliberalismus über kein geschlossenes Gedankengebäude oder ein einigermaßen homogenes Denk- und Praxismodell verfügt. Er variiert seine Positionen nach Belieben, wenn es denn dem Erhalt der neoliberalen Vorherrschaft dient. Beim ihm handelt es sich – Stand der Diskussion – deshalb weniger um eine Wirtschaftstheorie denn um eine quasi-religiöse Weltanschauung, die auf eine „offene“ Gesellschaft zielt und in deren Zentrum das Narrativ vom „Markt” steht. Der schwebt gottgleich über allem und verspricht: jeder ist seines Glückes Schmied, wenn er nur offen für Veränderungen und Innovationen gleich welcher Art ist. Mantra-mäßig darf dazu der stete Verweis auf die Rationalität der neoliberalen Wirtschaftsmodelle nicht fehlen.

Einerseits opfert man so die klassischen Vorstellungen von Humanität im Allgemeinen und setzt unverhohlen auf die Produktion eines verwertbaren „Humankapital”, andererseits propagiert man eine „Regierung des Selbst” und damit verbunden eine scheinbare individuelle Autonomie. Stichworte hier etwa: Self Management, Authentizität und Hingabe an den Job, mit der wiederum ein Glücksversprechen verbunden ist. So könnte z.B. ein Praktikum ohne Bezahlung wg. Kontakten & Praxiserfahrung bei der persönlichen Karriereplanung hilfreich sein.
Ein Scheitern in diesem perfekten, rational durchkomponierten System kann nur an individuellem Versagen liegen. Es gilt daher für den Einzelnen, das Optimum aus seiner Kompetenz, seinem Know How und seiner Kreativität zu machen und sich als gesund, attraktiv und flexibel zu präsentieren. Man muss an sich selbst glauben, dazu eher entschieden, cool und witzig sein als moralisierend oder auf die Einhaltung etwaiger ethischer Regeln bedacht – ganz wie es etwa die Stiftung Futurzwei aus ihrem Blickwinkel scheinbar ironisch, aber doch ganz zu Recht empfiehlt.

Zentral sind weiterhin die Begriffe von Kompetenz und Kreativität.

Die Vermittlung von „Kompetenz“ bestimmt seit einigen Jahren die noch immer so genannte Bildungspolitik. „’Kompetenzorientierung` lautet das Zauberwort, das nun die Lehr- und Studienpläne dominiert”, so der Philosoph Konrad Paul Liessmann 2014, „Das Ziel von Bildungsprozessen ist nicht mehr eine wie auch immer definierte Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene Mensch, der mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ihm angeblich erlauben, in jeder Situation die angemessenen Entscheidungen zu treffen.” Und: „Historisch gesehen wurzelt das Kompetenzkonzept nicht in der Pädagogik oder Bildungstheorie, sondern in der Ökonomie. Die ersten Kompetenzmessungsmodelle wurden mit dem Ziel entwickelt, Prüfungsverfahren für die unterschiedlichsten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zu gewinnen, um deren Einsatz für Unternehmen zu optimieren.” Der in der Schweiz vorgelegte „Lehrplan 21″ sieht so für die dortigen Schulen u.a. die Vermittlung von rund 4.500 Kompetenzen vor. Nicht nur hier ist von Sachkompetenz, sozialer Kompetenz, interkultureller Kompetenz und schließlich Kompetenzkompetenz die Rede. Damit ein her geht „die neoliberale Aufweichung der Bildung“.

Die Förderung von „Kreativität“ gehört seit Anfang der 1990er Jahre zum wirtschafts- und kulturpolitischen Mainstream. Nachdem hierzulande zunächst die Kulturwirtschaft wieder entdeckt wurde, gewann seit der Jahrhundertwende die Kreativwirtschaft und damit wiederum die „Kreativität“ an Bedeutung. Prägend dabei war der Einfluss des amerikanischen Soziologen Richard Florida. Er beschäftigte sich seit Mitte der 1980er Jahren mit der Industriestruktur und veröffentlichte dazu u.a. auch eine Untersuchung mit dem Titel „Beyond Massproduction“. Eine seiner frühen Erkenntnisse: wer in den westlichen Industrieländern nur auf die industrielle Massenproduktion setze wie die Automobilindustrie, werde auf Dauer verlieren. Derlei könne man in Zukunft überall auf der Welt kostengünstiger organisieren. Stattdessen empfahl er, die creative economy in den Blick zu nehmen und damit verbunden die sich etablierende „kreative Klasse” zu fördern. Sie setzt sich aus einem breiten Spektrum von „Wissensarbeitern“, Fachleuten aus Technik und Naturwissenschaften, dem Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigten in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und der öffentlichen Sicherheit zusammen. Hinzukommen Künstler und andere Kulturberufe – diese „Bohemiens” sorgen nicht nur für Innovation und Kreativität an sich, sondern schaffen – sozusagen nebenbei – die neue Urbanität der „Creative Cities“. Der anstehende „Reset“ von Wirtschaft und Gesellschaft werde sich an den 3 „T“s = Technologie, Talent, Toleranz orientieren müssen, um eine „neue Ära des Wohlstands“ zu begründen. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz konstatierte dazu: „Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, denn wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.“ Das gesellschaftliche Regime werde deshalb zunehmend von einem „Kreativitätsdispositiv“ dominiert werden .
Später hat Florida allerdings eingestanden, dass seine Wachstumsprognosen zur Kreativwirtschaft allzu optimistisch waren und es in der Realität wenige Gewinner und viele Verlierer auch in der „Kreativen Klasse“ gegeben habe.

Im Diskurs um die „Offene Gesellschaft” geht es also nachvollziehbar nicht nur um demokratietheoretische Begriffe wie Freiheit oder Sicherheit (ursprünglich vor staatlichen und deshalb totalitären Übergriffen), sondern dahinter um alle Politikfelder und vor allem um die Rahmenbedingungen für „die“ Wirtschaft und damit verbunden um Wirtschaftspolitik und ihre Folgen – übrigens ein weißer Fleck im Popper’schen Ansatz ebenso wie Fragen des Sozialen und der Sozialpolitik.

Zur „neoliberalen Hegemonie” (Philipp Ther) gehört zum einen – das sei nochmals betont -, dass im politischen Diskurs alle vom neoliberalen Mainstream abweichenden politischen Meinungen, Gruppierungen und Parteien konsequent an den Rand gedrängt werden. Die „Mitte” wird zum entscheidenden, stabilisierenden Element des neoliberalen Politsystems insgesamt stilisiert. Abweichungen davon sind nur als „Populismen” – egal ob rechts oder links – erklärbar und müssen entsprechend bekämpft werden. Eine Distanzierung ist hier Pflicht. Logisch ist, dass Meinungen jenseits des Mainstreams – egal welcher Art – als nicht rational gelten.

Zum anderen wird die Existenz unterschiedlicher territorial definierter Interessen („Standort”) nicht nur nach „innen“ ausgeblendet – also Fragen nationaler oder auch nur regionaler Identitäten, Kulturen, Geschichten und Geschäfte, die angeblich der „geschlossenen Gesellschaft” verbunden sind. Auch der „offiziell“ immer wieder positiv unterlegte „offene” globale Austausch wird relativiert, wenn die Grenzen allzu offen werden. Dazu hat der Soziologe Stefan Lessenich angemerkt: „Zu der in den ‚freiheitlichen Demokratien‘ der westlichen Welt praktizierten Lebensweise gehört ganz wesentlich die Einschränkung der Freiheit Dritter. Die nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Philosophen Karl Popper beschworene und bis auf den heutigen Tag von Staatsrepräsentanten jeder Couleur immer wieder wortreich proklamierte ‚offene Gesellschaft‘ hat ein peinliches Geheimnis: Sie lebt mit, ja geradezu von ihrer effektiven Schließung gegenüber einem als zudringlich, übergriffig und bedrohlich wahrgenommenen ‚Außen‘.“
Dazu sei noch einmal das zeitlose Mantra der „Offenen Gesellschaft” wiederholt, diesmal in Gestalt eines Zitates des sozialliberalen Ralf Dahrendorf. Als Politiker & Professor hat er schon in den späten 1960er Jahren eine übergreifende Definition sowohl für die engere Weltsicht von Karl Popper als auch für den heutigen neoliberalen Mainstream formuliert: „Wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja, ermutigt werden, also in einer offenen Gesellschaft. Sie wenn nötig zu verteidigen und sie jederzeit zu entwickeln, ist daher die erste Aufgabe.”

Variationen (3): ein Kampfbegriff

Die häufige Verwendung des Narrativs von der „Offenen Gesellschaft“ legt nahe, dass es sich hier auch um einen politischen Kampfbegriff handelt. Er soll die Follower in ihrer Auffassung bestärken und davon abweichende „Mindermeinungen“ als Meinungen von Minderheiten ausweisen. Letztendlich umfasst aus Sicht der „Freunde” die „offene“ Mitte der Gesellschaft angeblich vier Fünftel der hiesigen Bevölkerung – was immer wieder betont wird. Wenn die „Freunde“ vom „Wir” sprechen, ist mithin von „der” Mehrheit die Rede – mit Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten ist nur bedingt nachvollziehbar, wie diese Annahme zustande kommt.

Nimmt man etwa die Wahlen (Bundestag, Landtage, Kommunen) zum Maßstab, muss man bei diesem Ansatz jenseits der Höhe der Wahlbeteiligung jeweils die Wähler von „rechts”- und „linksradikalen” Parteien abziehen und landet dann stets jenseits der aufrechten 80 %.
Guckt man auf den aktuellen „Aktionsplan gegen Rassismus” der Bundesregierung, geht der davon aus, dass „rund ein Viertel bis ein Drittel” aller Befragten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Großbritannien und Italien „menschenfeindliche Einstellungen erkennen” lassen, was „keine offene, freiheitliche Demokratie unwidersprochen hinnehmen” dürfe.
Nach den Ergebnissen einer früheren Umfrage war ein Fünftel der Bevölkerung (Ostdeutschland: 24 Prozent; Westdeutschland: 19 Prozent) „linksradikalen“ Thesen zugeneigt und davon überzeugt, dass eine Verbesserung der Lebensbedingungen nur durch eine Revolution möglich sei. Nach der heftigen Kritik an dieser Interpretation relativierten die betroffenen Wissenschaftler allerdings ihr Ergebnis. Da „aus finanziellen Gründen” eine erneute Erhebung nicht möglich war, wurden die vorhandenen Daten erneut durchgesehen, teilweise relativiert, aber im Kern als „realistisch” verteidigt. Unabhängig davon konstatieren die Autoren: „Gravierender als den Anteil von linksradikal/linksextrem eingestellten Personen bewerten wir die hohe Unzufriedenheit mit der praktizierten Demokratie in Deutschland, die in unserer Befragung sichtbar wurde. Das Unbehagen an den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zuständen sollte nicht übersehen werden, selbst wenn die derzeitige Situation in Deutschland vor allem im Vergleich zu anderen Ländern als äußerst stabil eingestuft werden kann. Ob sich dies bei einer Zunahme des Flüchtlingsstroms in den nächsten Jahren ändert und wenn ja, wie sich das politisch niederschlägt, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht absehen.” Dieser kurze Ausflug in die Empirie zumal ohne die Würdigung rechtsradikaler Einstellungen dürfte genügen, um die ominösen „offenen” 80% zu relativieren. Das entsprechende Wording kann man deshalb als Branding einstufen.

Bleiben wir bei den Begrifflichkeiten. Wie schon erwähnt, empfiehlt sich bei der Beschäftigung mit neoliberalen Trends immer wieder ein Blick zurück. Im 21. Jahrhundert ist das Ziel der „Freunde“ die „Offene Gesellschaft”, ein paar Jahrzehnte zurück wurde in der damaligen BRD mit ähnlichen Argumenten und einem vielleicht sogar noch größeren Engagement die „freiheitlich demokratische Grundordnung” (FDGO) propagiert. Als Leitbild zu Zeiten des Kalten Krieges formuliert, steht (oder stand) die FDGO im Gegensatz zum „kommunistischen Block” für Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz und eine westliche „streitbare Demokratie”. Die sollte sich jederzeit gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können. Das schloss nach Außen den Einstieg in das westliche „Verteidigungsbündnis”, nach Innen den Kampf gegen „innere” Feinde ein, etwa durch das Verbot politischer Parteien, die die demokratischen Spielregeln aus Sicht der FDGO-Vertreter zur Abschaffung der Demokratie vermeintlich nutzten oder nutzen wollten. Zugleich zeigten die (neo)liberalen Protagonisten dieser Zeit Flexibilität. Als das anfangs propagierte Narrativ von der „freien Marktwirtschaft“ auf gewisse Vorbehalte stieß, wurde es kurzerhand und erfolgreich durch das von der „sozialen Marktwirtschaft“ ersetzt – ein propagandistisches Erfolgsmodell bis heute.
Die FDGO war trotz der frühen Einbindung der BRD in europäische Zusammenhänge das Ordnungssystem eines klassischen Nationalstaates und entsprechend mit staatlichen Institutionen eng verbunden. Sie stand wegen der Bedeutung der damals noch präsenten Gewerkschaften auch für eine umfangreiche Sozialpolitik, die eine öffentlich vorgehaltene Daseinsvorsorge ebenso einschloss wie das Vorhalten einer öffentlichen Infrastruktur. Zugleich war die vor-individualisierte Gesellschaft klarer strukturiert: Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften oder die Kirchen verfügten über hohe Mitgliederzahlen und sorgten mit ihrem Engagement u.a. auch für eine starke Akzeptanz der institutionalisierten Politik. (Inzwischen sollen derlei Aufgaben sog. bürgerschaftliche oder zivilgesellschaftliche Gruppen übernehmen.)

Die Ausgrenzung politischer „Abweichungen” nach Links oder Rechts war schon damals Programm, allerdings wurde noch deutlich zwischen beiden politischen Richtungen unterschieden. Dominierend war auch damals das Bekenntnis zu einer wie auch immer zu definierenden „Mitte”. Dagegen gilt die „Offene Gesellschaft” heute als grenzüberschreitendes und global reklamiertes Modell, kurz: sie steht für die Globalisierung westlicher Werte (wie sie schon Karl Popper empfohlen hat). Die EU und ihre offenen Grenzen nach Innen dienen hier als Orientierung.

Variationen (4): Für die Nation nur das Beste

Irritierenderweise wird der Begriff der „Offenen Gesellschaft” auch zur Beschreibung der hiesigen real existierenden national(staatlich)en Gesellschaften genutzt. Wir alle leben also bereits in einer „Offenen Gesellschaft” — allen Populismen & Utopien zum Trotz. Als Indiz hierfür wird einerseits u.a. die Möglichkeit zur öffentlichen Debatte über alles und jedes genannt. Andererseits wird, um einer möglichen Kritik zuvorzukommen, immer wieder betont, dass die aktuellen Zustände derzeit (noch) nicht wirklich dem mit ihr verbundenen Ideal (oder der Utopie) entsprechen. Deshalb gibt es „natürlich” noch viel zu tun. Schließlich ist eine „offene Gesellschaft” nie „perfekt”. Es geht mithin ums Prinzip (siehe Dahrendorf). Im Rahmen der EU soll die „Offene Gesellschaft” deshalb als Signal für Weltoffenheit und Toleranz und als Abgrenzung gegen jedweden Populismus dienen.

Das demokratische System hierzulande gilt in diesem Zusammenhang als „das Beste an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilität, was die deutsche Geschichte zu bieten hat”, so exemplarisch der grüne „Vordenker” Ralf Fücks. Aus seiner Sicht gilt es, einen neuen, demokratischen Patriotismus und damit „eine Überwindung des altbackenen, sich gegen Fremde abgrenzenden, kulturell homogenen Deutschlands” zu erreichen. Aus seiner Sicht verläuft die „Hauptkampflinie” nicht zwischen national und postnational, sondern über den „Begriff der Nation” und dessen „tatsächliche” Bedeutung. Einerseits stehe hier ein „Verfassungspatriotismus” = eine politische Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten einer „Schicksalsgemeinschaft” gegenüber, die sich durch Abstammung und kulturelle Tradition zusammenfügt. Diese mit Vehemenz gegen populistische Versuchungen vorgetragenen Varianten der Staatsbürgerschaft sind so neu nicht. Seit Beginn der Moderne wird zwischen ius solis und ius sanguinis unterschieden. Nach ersterer Auffassung erwirbt man die Staatsbürgerschaft und damit verbundene Rechte und Pflichten, wenn man auf einem bestimmten (vielleicht demokratisch verfassten) Territorium geboren wird. Bei letzterem ist die Abstammung entscheidend – hier spielt „Kultur” eine wesentliche Rolle. Der Gag: Das Grundgesetz bekennt sich in Art. 116 zur letzteren Variante: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.” Versammelt sich so in „unserer” Verfassung die „Fiktion der gemeinsamen Abstammung” als eine Variante des „mystischen Nationalismus”, versehen mit dem Hinweis auf den „dunklen Urgrund deutscher Seele und Lebensart”, was Ralf Fücks vehement anprangert? Die praktische Konsequenz, eine Initiative der (grünen) „Freunde“ der „Offenen Gesellschaft” für eine Verfassungsänderung, erspart er sich und uns. Derlei wäre derzeit wohl kein gutes Marketing. Hier tut sich freilich ein weites Feld auf. Nur ein Beispiel: die EU-Kampagne gegen die in Polen vorgesehene gesetzliche Neuregelung zur Richterwahl. Die inkriminierten Gesetzesentwürfe gleichen in vielen Punkten deutschem Recht.

Wenn man aktuelle Diskussionen im Rahmen der „Flüchtlingskrise” um die Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Garantien und Rechte verfolgt, landet man schließlich bei der Relativierung nationaler Grenzen nicht nur beim EU-Pass, sondern letztlich bei einer Global Citizenship. Eine Konstruktion (oder ein Narrativ), die/das bisherige Definitionen in diesem Feld angreift und die entsprechenden Befugnisse von Nationalstaaten zumindest relativieren will. Hier müssten zwangsläufig regionale und kulturelle Unterschiede zu Gunsten allgemeiner rationaler, grenzüberschreitender (menschen-) rechtlicher Regelungen zurücktreten. Freilich ist „Global Citizenship mindestens derzeit nicht vereinbar mit nationalen Bedürfnissen, ganz im Gegenteil”, so Irina Bokova, eine der Befürworterinnen. „Ich möchte hier eines klarstellen – Global Citizenship ist kein rechtlicher Begriff, sondern vielmehr ein Gefühl der Solidarität mit anderen und mit unserem Planeten.” Ausgespart bleiben bei diesen Diskurs-Varianten die realen globalen sozialen Ungleich-Verhältnisse und die damit verbundenen grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Interessen.

Variationen (5): Noch einmal Karl Popper

Wie schon erwähnt, sieht Karl Popper den „wirklichen Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten” im „Leben des vergessenen, des unbekannten individuellen Menschen; seiner Trauer, seiner Freude, seinen Leiden und seinem Tod — sie sind der wirkliche Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten.” Deshalb lehnt er für die und in der „Offenen Gesellschaft“ jede Form von Machtpolitik ab: „Die Geschichte der Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte der nationalen und internationalen Verbrechen und Massenmorde (einige Versuche zu ihrer Unterdrückung eingeschlossen). Diese Geschichte wird in der Schule gelehrt, und einige der größten Verbrecher werden als ihre Helden gefeiert.” Zugleich konstatiert er: „Unsere intellektuelle wie auch unsere sittliche Erziehung ist korrupt. Sie ist verdorben durch die Bewunderung der Brillanz: durch die Bewunderung der Weise, in der Dinge gesagt werden, die an die Stelle einer kritischen Betrachtung des Gesagten (und des Getanen) tritt. Sie ist verdorben durch die romantische Idee des Glanzes einer Bühne, auf der wir alle Schauspieler sind. Wir werden dazu erzogen, bei all unseren Handlungen die Galerie im Auge zu behalten.”
Das liest sich einerseits wie eine linksradikale Kapitalismuskritik, andererseits wird das Narrativ vom selbstlosen Engagement des „Westens” zur Verbesserung der Welt relativiert und damit auch der stets präsente liberale Fortschrittsglaube in Frage gestellt. Die Geschichte der Massaker westlicher Machtpolitik hat Zbigniew Brzezinski, Berater einer Reihe von US-Regierungen, knapp zusammengefasst: „Im groben Zeitraum der letzten beiden Jahrhunderte” habe die Kolonialpolitik zu Morden „an kolonisierten Völkern in einem Ausmaß geführt, das mit den Naziverbrechen während des Zweiten Weltkriegs vergleichbar ist: Wir sprechen hier von Hunderttausenden und sogar Millionen von Opfern.” Dabei sei erstaunlich, dass „Länder, die heute, zumindest der Absicht nach, vergleichsweise am offensten für multiethnisches Zusammenleben sind”, federführend für diese Verbrechen waren. Die Rede ist von Großbritannien und Frankreich.

Karl Popper lehnte – desillusioniert nicht nur von seinen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Stalinismus – zwar Visionen oder Utopien jeder Art ab. Dennoch war er lebenslang „auf der Suche nach einer besseren Welt” – so der Titel eines 1984 erschienenen Sammelbandes mit Essays und Vorträgen aus 30 Jahren. Sein zentrales Argument allerdings auch hier: bei einem Vergleich der schlechten Wirklichkeit mit dem Entwurf einer idealen, besseren und utopischen Zukunft werde die Diskrepanz zwischen beiden „Realitäten” überdeutlich: sie sei unüberbrückbar, desillusionierend und vor allem demotivierend. Das Beharren auf utopischen Lösungen verstellt aus seiner Sicht den Blick auf mögliche Reformen im Kleinen oder anders ausgedrückt auf realpolitische Perspektiven. Ein Beharren auf dem utopischen, nicht realisierbaren Anliegen stabilisiert das jeweils kritisierte System indirekt. Popper war so ein unbedingter Anhänger der Realpolitik und der kleinen Schritte.

Im realpolitischen Alltag kommt in der Tat ganz im Popper’schen Sinne der Überprüfung und Falsifikation von „Fakten” eine gewisse Bedeutung zu. Dazu gehört auch eine gewisse Kenntnis über die in diese Prozesse eingebundenen widerstreitenden Interessen und Lobbies. Popper geht es indes eher um allgemeinere philosophische Fragen, wenn es um diese Praktiken geht: „Wir fangen an einem vagen Ausgangspunkt an und bauen auf unsicheren Fundamenten. Aber wir können vorankommen: Manchmal lehrt uns Kritik, dass wir Unrecht hatten; wir können aus unseren Fehlern lernen, aus der Einsicht, dass wir einen Fehler gemacht haben.” Für die große Politik konstatiert er: „`Die alte Frage ,Wer sollen die Herrscher sein?’ muss ersetzt werden durch die realistische Frage ,Wie sollen wir sie bändigen?'” Sein Diktum deshalb: „Das Entscheidende ist allein die Absetzbarkeit der Regierung, ohne Blutvergießen.”
Dazu konstatiert er: „Alles Leben ist Problemlösen”. Da wir nicht die Zukunft vorhersagen können, „müssen (wir) ins Unbekannte, Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für die Sicherheit, sondern zugleich auch für die Freiheit.”

Man kann diese Überlegungen in drei Sätzen zusammenfassen: 1. „Irren ist menschlich”, 2. „Wir müssen es immer wieder versuchen”, 3. „Wir müssen alles im Blick haben”. Dabei muss es allerdings der Erkenntnis wegen stets rational und an Argumenten entlang zugehen. Nach seinen Vorstellungen ist deshalb in einer Demokratie das Mehrheitswahlrecht nach britischem und US-amerikanischem Muster ideal. Es bietet die Möglichkeit, sich wohl überlegt zwischen zwei unterschiedlichen Programmen entscheiden zu können. Damit ist die Chance für die jeweils unterlegene Partei verbunden, sich in der Opposition zu erneuern. Das deutsche Verhältniswahlrecht lehnte er ausdrücklich ab, weil damit eine Abschwächung der inhaltlichen Konturen der Parteien verbunden sei. Und mehr noch: „Der Proporz schafft die Gefahr, dass der Wahlentscheid der Mehrheit bagatellisiert wird und damit auch der Einfluss einer Wahlniederlage auf die Parteien – ein wohltätiger Einfluss, den die Demokratie brauchen kann. Und für einen klaren Mehrheitsentscheid ist es wichtig, dass es eine möglichst gute und starke Oppositionspartei gibt. Sonst sind die Wähler oft gezwungen, eine schlechte Regierung weiter regieren zu lassen, weil sie Grund haben anzunehmen: ,Es kommt nichts Besseres nach.”

Das Popper’sche Modell setzt also voraus, dass es in der wirklichen politischen Welt überwiegend rational begründete, nachvollziehbare Alternativen gibt und dass dabei die mit der Machtfrage verbundenen Interessen benannt oder nach heutigem Jargon „transparent” dargestellt werden (können) und deshalb allgemein nachvollziehbar und bekannt sind. Und natürlich, dass auch der Bürger ebenso wie die Bürgerin bei ihren Wahlentscheidungen rational abwägen und am Ende die Vernunft siegt. Den Popper’schen Wahlbürger (oder homo politicus) kann man in Punkto Rationalität mithin durchaus mit dem homo oeconomicus der klassischen Wirtschaftswissenschaften vergleichen.
Zu beachten ist, dass die klassischen liberalen Ökonomen wie Adam Smith oder David Ricardo noch zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre unterschieden. Ein Zuviel an wirtschaftlichem Einfluss auf die Politik lehnten sie teilweise sogar ab. Sie plädierten mithin für einen differenzierten Einsatz von Vernunft. Erst der Neoliberalismus sorgte dafür, dass der homo oeconomicus das übergreifende Leitmotiv für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche wurde. Der klassische homo politicus wurde dabei wahlweise ersetzt oder vereinnahmend umdefiniert.

Der „Offenen Gesellschaft” stehen in Poppers Konzept „geschlossene Gesellschaften” gegenüber. Deren Formen reichen von der archaischen Stammesgesellschaft bis hin zu ideologisch geprägten Gemeinschaften, die sich auf ein „auserwähltes Volk” (wie derzeit Israel), auf eine „auserwählte Klasse” (wie die untergegangene UdSSR) oder eine „auserwählte Rasse” (wie NS-Deutschland) stützen. Der klassische Nationalstaat muss in diesem Sinne längerfristig überwunden werden, um zu einer echten „offenen Gesellschaft” gelangen zu können. Das Ziel wäre dann wohl eine der Ratio verpflichtete und interessenübergreifend agierende „offene Weltgesellschaft” mit einer entsprechenden, schon erwähnten Global Citizenship –eine wesentliche, selten erwähnte Voraussetzung dabei: eine garantierte und ausreichende Grundversorgung der Weltbevölkerung insgesamt. Im Zuge dieser Entwicklung müsste aus Poppers Sicht dazu die Herrschaft der Eliten zugunsten eines egalitären Systems zurückgedrängt werden. Dabei ging es ihm weniger um das klassische „persuit of happiness” als vielmehr um die Minimierung von Leiden.

Variationen (6): Öffentlichkeit und mehr

Eine wesentliche Voraussetzung für eine Gesellschaft, sei sie nun als freiheitlich-demokratisch oder als offen definiert, ist nach der Überzeugung Poppers wie der „neuen“ Freunde der „Offenen Gesellschaft“ die Existenz einer übergreifenden, mehr oder weniger kritischen Öffentlichkeit, kurz die Präsenz pluralistisch aufgestellter Medien, die die Aktivitäten der Politischen Klasse auf unterschiedlichen Ebenen kommentierend begleiten (und vielleicht kritisieren und ggf. korrigieren) zumindest theoretisch von entscheidender Bedeutung. Eng damit verknüpft war und ist wiederum die Vorstellung eines mehr oder weniger rationalen und qualifizierten gesellschaftlichen Diskurses, der auf den Austausch von Argumenten und deren Beurteilung setzt. Zugleich bewegt sich dieser Diskurs innerhalb eines gewissen Rahmens. Dieser war bereits zu Zeiten des Kalten Krieges hegemonial auf die Verteidigung „westlicher Werte” und gegen die „realsozialistischen Systeme“ gerichtet.

Schon früh hat Jürgen Habermas auf den „Strukturwandel” der (bürgerlichen) Öffentlichkeit aufmerksam gemacht. „Öffentlichkeit” habe sich ursprünglich gegen den Feudalstaat und dessen Einfluss gerichtet und sei ihrem Selbstverständnis nach so etwas wie ein „staatsfreier Raum” gewesen. Aus dieser Staatsferne und einer egalitär ausgerichteten Produzentenstruktur heraus habe sie ihre Wirkung entfaltet. In der Folge wurde diese „ideale” Öffentlichkeit allerdings refeudalisiert. Einerseits bestimmten zunehmend weniger Verlagshäuser und deren Eigentümer die Nachrichtenvermittlung, andererseits wanderte die einst staatsferne Sphäre zunehmend in den Einflussbereich der Politischen Klasse. Öffentlichkeit wurde in ihrer Funktion als „außerstaatliche” Kontrollinstanz einerseits zunehmend instrumentalisiert und übernahm andererseits bei passender Gelegenheit kritiklos Argumente und Positionen dieser Elite und ihrer Finanziers.

Hinzu tritt ein zweiter Aspekt. Ob sich die öffentliche Meinung tatsächlich rational konstruiert, darf bezweifelt werden. Schon lange vor den Aufgeregtheiten über angebliche oder tatsächliche Fake News waren Begriffe wie Propaganda, Public Relations oder Agenda Setting, Aufmerksamkeitsökonomie, Meinungsmache und neuerdings Framing fester Teil der Kommunikationspolitik und der medialen Praxis. Neu ist lediglich, dass diese Mechanismen sich im Zuge der Digitalisierung noch weiter verfeinert haben und vor diesem Hintergrund offener, wenn auch mit geringer Wirkung thematisiert werden. Am Beispiel der „Propaganda” lassen sich gewisse Mechanismen des von political correctness geprägten Mainstream aufzeigen. Das Stichwort wird schnell mit dem NS-System, Joseph Goebbels und dem Sportpalast („Wollt Ihr den totalen Krieg?”) verbunden. Bewusst oder unbewusst wird verdrängt, dass die Werbewirtschaft = die professionelle, privatwirtschaftliche „Propaganda” nach den gleichen, inzwischen weit ausgefeilteren Techniken agiert und Teil eines weltweiten Business mit entsprechendem Einfluss auf die (Zivil-)Gesellschaft ist. Ihr Umsatz in Deutschland beträgt derzeit jährlich rund 15 Mrd. Euro. Um hier nur ein Beispiel zu nennen: am Anfang jeder Werbekampagne oder großer PR-Präsentationen steht die Erstellung sog. mood boards (Stimmungsbilder). Dabei geht es nicht um die Qualitäten eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten (politischen, vielleicht argumentativen) Aussage. Vielmehr wird ermittelt, welche gefühlsgeprägten Stimmungen sich jeweils mit der zu bewerbenden Marke, dem Projekt, dem Namen, der Partei usw. ganz unabhängig von dem jeweiligen Anlass verbinden(lassen).
Einschlägige „Nachrichten”-Medien achten bei der redaktionellen Auswahl und Ausrichtung ihrer Themen und Nachrichten darauf, entsprechende Stimmungslagen zu berücksichtigen oder auch zu vereinnahmen und zu steuern.
Der Ursprung dieser heute überall präsenten Praxis liegt „theoretisch” im Jahr 1928. Damals schrieb Edward L. Bernays in seinem begriffsprägenden Essay „Propaganda“: „The conscious and intelligent manipulation of the organized habits and opinions of the masses is an important element in democratic society. Those who manipulate this unseen mechanism of society constitute an invisible government which is the true ruling power of our country. We are governed, our minds are molded, our tastes formed, our ideas suggested, largely by men we have never heard of. This is a logical result of the way in which our democratic society is organized. ”

Ein entsprechendes Modell gibt es mittlerweile auch explizit für den politischen Raum. Aktuelle Diskurse orientieren sich hier übergreifend am Konzept Soft Power. Der Begriff ist vergleichsweise jung. Der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph S. Nye hat ihn 1990 erfunden. Damit wird eine „Form der Machtausübung” bezeichnet, „andere für sich einzunehmen oder zu einer in eigenem Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Soft Power gründet sich auf die Überzeugungs- und Anziehungskraft der Akteure, die ihnen aus Sicht anderer Glaubwürdigkeit verleiht”, so der unverdächtige „Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages”. Soft Power kann sowohl von Staaten und internationalen Organisationen wie von „zivilgesellschaftlichen Organisationen, internationalen Unternehmen sowie Einrichtungen im kulturellen Bereich” praktiziert werden. Das Spektrum reicht hier „von Harvard bis Hollywood”, so der Wissenschaftliche Dienst mit Hinweis auf Nye.
Der „Gegensatz” von Soft Power ist im übrigen Hard Power, die traditionellen und nach wie vor nicht nur latent vorhandenen Formen wirtschaftlicher und militärischer Einflussnahmen und der damit verbundene Druck auf Dritte inklusive des Einsatzes von Drohnen oder der offensiven Bestechung von Machteliten. Eine besondere Facette dieser Praktiken sind neuere Formen der weltweiten Überwachung à la NSA. Hier fließen in Teilen Hard Core und Soft Core zusammen. Freunde der „offenen Gesellschaft” befürworten im Übrigen militärische Einsätze im Kampf gegen deren „Feinde”. Erinnert sei nur daran, dass „unsere” Freiheit auch in Afghanistan und Mali „gesichert” wird. Oder wie es der Grüne Joschka Fischer jüngst formuliert hat: Soft Power funktioniert nur, wenn mit Hard Power gedroht werden kann. Ähnliches hat der derzeitige Bundespräsident bereits in seiner Amtszeit als Außenminister mehrfach verlautbart.

Seit neuestem spielt in den entsprechenden Debatten auch das Framing eine wesentliche Rolle. So konstatiert etwa die Neuro-Linguistin Elisabeth Wehling, es sei „höchste Zeit, unsere Naivität gegenüber der Bedeutung von Sprache in der Politik abzulegen”. Nicht „objektive” Fakten und deren „rationale” Würdigung bestimmten das menschliche Denken, sondern „gedankliche Deutungsrahmen”, die Frames. Sie verleihen Fakten erst einen Sinn, „indem sie Informationen im Verhältnis zu unseren körperlichen Erfahrungen und unserem abgespeicherten Wissen über die Welt einordnen”. Menschliches Denken lebt von Analogien. Wenn ein bestimmter Begriff fällt, simuliert es Bedeutungszusammenhänge und ruft entsprechende Erinnerungen ab. Dabei werden Dinge wie „Bewegungen, Geräusche, Gerüche, Emotionen, Bilder und vieles mehr” zusammengebracht, die in der Regel nicht als Teil von „Sprache” wahrgenommen werden. Diese „kognitive Simulation” wirkt auf die Wahrnehmung insgesamt. Sind Frames einmal etabliert, prägen sie alle Eindrücke, Bekanntes wird dabei schneller einsortiert. Frames, so Wehling, sind (ideologisch) selektiv: „Sie heben immer bestimmte Gegebenheiten hervor, indem sie ihnen eine kognitive Bühne bereiten, und blenden andere Gegebenheiten aus, indem sie ihnen keine Rolle in dem Stück zuweisen, das auf dieser Bühne gespielt wird.” Kurzum: „Bei gleicher Faktenlage machen die Frames die Musik.” Nicht nur im Alltag, sondern auch und vor allem in der Politik regiert deshalb das „Metaphoric Mapping”. Blockbuster-Sätze wie „Moral ist rein” oder „Kultur ist gut” sind Allzweckwaffen. Auf sie können sowohl Werbung, Religion, Weltanschauung oder Politik zurückgreifen – etwa: „Mit dieser Auffassung/Politik/Meinung beschmutzen Sie die Nation/das Christentum/das Frauenbild usw.” Wer etwa „in politischen Debatten versäumt, Fakten in solchen Frames begreifbar zu machen, die seiner Weltsicht entsprechen, der kreiert ein ideologisches Vakuum…. Wer darüber hinaus die Frames seiner politischen Gegner nutzt, propagiert deren Weltsicht, und zwar höchst effektiv. Denn sprachliche Wiederholung von Frames – egal ob sie bejaht oder verneint werden – stärkt sie in unseren Köpfen und lässt sie zunehmend zum gesellschaftlichen und politischen Common Sense werden.” Sie schlussfolgert: „Sprache ist keine Ergänzung zu politischer Gestaltung. Sprache ist politische Gestaltung.”

Variationen (7): die „offene Gesellschaft” immer dabei

Der Begriff der „Offenen Gesellschaft” ist seit den 1960er Jahren fester Bestandteil der politischen Debatten über gesellschaftliche Perspektiven hierzulande. Viele prominente Politikerinnen, seit den 1970er Jahren auch alle Bundeskanzlerinnen bis hin zu Bewerbern wie Peer Steinbrück oder Martin Schulz, haben sich auf die eine oder andere Weise darauf bezogen. Bei allen Parteien und ihren Stiftungen spielt die These eine gewisse, teilweise eine herausragende Rolle.

Seit einigen Jahren hat die Propagierung der Idee von einer „Offenen Gesellschaft” auch in der „Zivilgesellschaft” an Fahrt aufgenommen. Sie wird als Lösung oder mindestens als Lösungsansatz für eine Reihe von krisenhaften Entwicklungen angeboten. Kurz, sie dient als übergreifendes positives Narrativ in Zeiten allgemeiner Besorgnis. Auch wenn die verwendeten Begrifflichkeiten nicht immer verständlich, Vorschläge nicht immer miteinander kompatibel sind, gilt doch wegen der Harmonie-orientierten „Mitte“: „Miteinander sprechen — zuerst”.

Zu den großen Problemen, zu deren Lösung sie beitragen soll, gehören zunächst die materiellen und immateriellen Ressourcen des demokratischen Systems selbst. Hier geht es u.a. um Politikverdrossenheit und Entpolitisierung im Zuge der postdemokratischen Wende, um den Rechtspopulismus und einen neuen Nationalismus, den Niedergang der EU usw. Hierhin gehören die Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Individualisierung und die schleichenden Auflösung der etablierten und meinungsprägenden Mittelschichten, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie die wachsende Unübersichtlichkeit im Zuge der Entgrenzung der Nationalstaaten im Zuge der Globalisierung. Selbstverständlich ist der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Minderheiten. Auch der zunehmenden Fragmentierung von Öffentlichkeit soll begegnet werden. Insgesamt wird die Digitalisierung als besondere Bedrohung der menschlichen „Zivilisation” insgesamt gesehen – „Analog ist das neue Bio”, so der Titel eines einschlägigen Werkes.
Natürlich soll die „Offene Gesellschaft” auch einen entscheidenden Beitrag bei Themen wie dem Klimawandel oder den weltweiten Völkerwanderungen leisten. Die „Offene Gesellschaft” soll die schädlichen Folgen des Neoliberalismus ebenso auflösen wie drohenden Totalitarismen weltweit entgegentreten. Sie soll der internationalen Solidarität ebenso verpflichtet sein wie der Pflege einer gelungenen Nachbarschaft im Stadtteil. Kurz, es gibt kein Problem, für das sie nicht zuständig wäre —und das Wichtigste: sie bietet potentiell Lösungen für alles. Im Fall eines Falles darf sie ihr Konzept auch mit Gewalt = militärisch durchsetzen.

In jedem Fall treten ihre Protagonisten für „Offenheit” und „offene Grenzen” ein. Und: sie feiern die „Offene Gesellschaft” wie schon ausgeführt emphatisch als „neue Utopie”. Man müsse „das Träumen wieder lernen”. In unserem „postmateriellen” und „postideologischen Zeitalter” gelte es, sich aus „den ideologischen Klauen eines über den Kommunismus triumphierenden Kapitalismus” zu winden, natürlich hinein ins Offene. Es gelte, ein „positives Selbstbild” zu entwickeln. Man müsse die Zukunft „neu” denken, „nicht in nationalen Grenzen, sondern europäisch, global”. Vorangetrieben werde derlei von der „Elite” – „klugen Politikern, hohen Beamten, von Philosophen, den Churchills dieser Welt”, so André Wilkens, einer der Protagonisten in einem Interview. Man müsse sich dazu eingestehen, „dass das Leben nicht geradlinig, sondern mit vielen nützlichen Fehlern gepflastert ist, dass man mit Imperfektion leben kann und sollte, denn diese erzeugt die Energie, die uns vorantreibt, zu einer immer weniger imperfekten Welt.” Jedenfalls „muss (!) eine offene Gesellschaft Krisen immer als Chance begreifen”, so Alexander Carius, ein anderer Protagonist. Die Vergangenheit sei jedenfalls „immer der Feind der Zukunft.” Kein Blick zurück also, vielmehr der permanente Aufbruch „ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere” (Popper).

Derlei Statements geben gar nicht mehr vor, sich am Popper’schen Kritizismus zu orientieren. Sie pflegen stattdessen einen Jargon, der etwa beim Coaching in Sachen Management und Marketing im Rahmen des neoliberalen Mainstream gepflegt wird. Hier geht es immerzu vorwärts, steht man zu seiner Performance, eine „Kultur des Scheiterns” ist notwendiger Bestandteil nicht nur des nach allen Seiten offenen business von start-ups, Führungskräfte müssen durchsetzungsfähig, aber auch offen und zur Selbstkritik fähig sein, wenn sie Fehler machen – was nicht auszuschließen ist. Hier hilft der Leadership-Trust-lndex. Er empfiehlt Führungskräften wie im Falle SAP, sich ihrer Glaubwürdigkeit wegen an vier Leitmotiven zu orientieren:
• „Integrität (Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit, Authentizität, Standhaftigkeit)
• Gutwilligkeit (Schaffung eines unterstützenden Klimas, Fehlen von eigennützigen, gar destruktiven Absichten, Sorge um und Achtung der Interessen des Geführten; besonders die Emotionen ansprechend)
• Aufgabenbezogene Führungsfähigkeiten (ansprechende Zieldefinition, Demonstration von
Fachwissen, Schaffung unterstützender Strukturen, Definition verbindlicher Normen)
Offene, transparente Kommunikation
Es geht nicht (mehr) um separierte Büros für Führungskräfte oder eine Benotung von Mitarbeitern von oben herab, sondern um Kommunikation ohne Hierarchie, Offenheit und Vertrauen, nicht mehr um Weiterbildung, sondern um permanentes Training. SAP beispielsweise will die bisher übliche Bewertung von Mitarbeitern durch einen permanenten digitalen „Dialog“ ersetzen.

Die Historikerin Sabine Donauer skizziert die Entwicklung dieses „unternehmerischen Gefühlsmanagements”, das seit rund hundert Jahren mit Konzepten für „ein emotional positives Erwerbsverhältnis” befasst ist und helfen soll, „Klassenhass” zu beseitigen. Es geht hier wieder um die Harmonisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, um die Stabilisierung der „Mitte“. Oder methodisch gesprochen um die Verhinderung dialektischen Denkens und die damit verbundene Akzeptanz widerstreitender Interessen.
Eigentlich- so die Autorin – „müssten wir heute eine streikwütige Bevölkerung erleben” angesichts der „stagnierenden und sinkenden Reallöhne”. Dass nichts dergleichen passiert, sei „ohne die emotionale Ordnung” nicht zu verstehen, die mit der „Wirtschaftsordnung verwoben” sei. Dave Eggers beschreibt passend dazu in „Der Circle” die schöne neue Arbeitswelt in einem fiktiven Internet-Konzern, der Apple, Facebook und Google geschluckt hat und Zug um Zug die Privatsphäre der Mitarbeiter durch eine freundliche Totalkontrolle ersetzt — als „Beiprogramm” bietet er dazu kostenlose Kulturangebote und Sterneköche in der Kantine.

In Frage steht auch, ob „unser“ Zeitalter = das 21. Jahrhundert – tatsächlich (noch) als „postmateriell” und „postideologisch” bezeichnet werden kann, wie es die Freunde der „Offenen Gesellschaft“ gerne tun.
Die Diagnose „Postmaterialismus“ geht auf den US-amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart zurück, der in den 1970er Jahren für die westlichen Industrieländer einen Wertewandel diagnostizierte. Der Grund: angesichts eines befriedigenden materiellen Wohlstands nähme die Bedeutung immaterieller Werte zu. Nicht mehr die Sorge um Lebensmittelpreise oder um Sicherheit und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ständen jetzt im Mittelpunkt, sondern Partizipation, Selbstverwirklichung, intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse inkl. des Rechtes auf freie Meinungsäußerung. In diesem Zusammenhang gruppiert sich aus soziologischer Sicht die Bevölkerung der westlichen Welt neu: es gibt nun zahlreiche soziale Milieus, sortiert nach den jeweiligen unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen. Die grundlegende These dabei: ändern sich die Lebensverhältnisse, ändern sich auch die Werte. O-Ton Inglehart: „Wer Hunger hat, entwickelt eine gänzlich andere Strategie und somit Werte als einer, der satt ist.“ Angesichts der „Wiederkehr“ von sozialer Unsicherheit und Ungleichheit seit Beginn der 2000-Jahre ist auch in der Fachdiskussion von einem „Wandel des Wertewandels“ die Rede. So stellt sich die Frage, inwieweit und wie lange der Begriff „postmateriell“ noch tragfähig ist und wenn ja, für wen.

Das postideologische Zeitalter wurde nach gängiger Interpretation mit dem Ende des realen Sozialismus 1989 eingeläutet. Der us-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama diagnostizierte seinerzeit das „Ende der Geschichte“ und damit verbunden die beginnende weltweite Vorherrschaft liberaler Demokratien nach westlichem Muster, kurz er postulierte den endgültigen Sieg des Liberalismus. Derzeit wird die öffentliche Debatte von der Widerkehr „populistischer“ Weltsichten und Parteien weltweit dominiert. Was ist also von der Diagnose der „Freunde“ von der Fortdauer des „postideologischen Zeitalters“ zu halten?

Variationen (8) Die „Offene Gesellschaft” & Perspektiven ihrer „Freunde”

Beginnen wir mit einer Erinnerung. Vor zwanzig Jahren skizzierte der sozialliberale Ralf Dahrendorf am Beispiel der USA und von Großbritannien in offenem Widerspruch zum neoliberalen Mainstream die schon damals absehbaren Folgen der neoliberalen Globalisierung: „Mittlere und untere Einkommen stagnieren oder sinken: Die für Generationen kennzeichnende Erwartung steigender Realeinkommen gilt nicht mehr. Zugleich wachsen Spitzeneinkommen, ja überhaupt die oberen zehn Prozent der Einkommen, außerordentlich. Die Einkommensschere öffnet sich, nachdem sie sich jahrzehntelang tendenziell geschlossen hatte. Es entsteht eine neue Kategorie der Superreichen.
Ihr Gegenstück ist nicht nur der zunehmend prekäre Mittelstand von Angestellten und Managern, sondern vor allem der Ausschluss einer beträchtlichen Zahl, also die Entstehung einer Unterklasse. Quantitative Schätzungen sind schwierig, aber zehn Prozent dürfte in vielen Ländern eher zu niedrig gegriffen sein. Ausschluss bedeutet, dass Menschen keinen Zugang mehr haben zum Arbeitsmarkt, zu relevanten sozialen Prozessen (einschließlich der Supermärkte, der Fußballstadien und dergleichen), zur politischen Teilnahme.
In der Shareholder-Stakeholder-Sprache formuliert, bedeutet dies, dass die direkt am Unternehmensgewinn Beteiligten alle Vorteile, die indirekt an der Unternehmensexistenz Interessierten alle Nachteile haben. Der Weltmarkt frisst die Teilhabe-Suchenden und lässt die, die Anteile haben, ungeschoren.“ Zugleich warnte er: „Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat, dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht. Globalisierung ersetzt die Institutionen der Demokratie durch konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen.“
Dahrendorfs Beitrag war Teil einer Debatte, die von Ulrich Beck und anderen u.a. zu “Perspektiven der Weltgesellschaft” angestoßen worden war und die sich grundsätzlicher mit der „Modernisierung“ westlicher Gesellschaften befasste. Ein prominenter Begriff in diesem Zusammenhang: die von Colin Crouch ins Spiel gebrachte Postdemokratie.

Seither ist die damalige Dahrendorf’sche Analyse empirisch zwar vielfach bestätigt worden. Derlei hat freilich nicht dazu geführt, dass die Dominanz der neoliberalen Politik vom öffentlichen Mainstream und der „Mitte“ grundsätzlicher in Frage gestellt worden wäre – nur ein weiteres Indiz, dass zentraler Bestandteil des neoliberalen Systems die Dominanz der Ideologie über Fakten ist, was ansonsten gerne zum Kennzeichen populistischer bis totalitärer Ideologien herangezogen wird.
Zur Erinnerung gehört, dass die rot-grüne Agenda 2010 für „mehr Wachstum und Beschäftigung“ erst 2003 – also sechzehn Jahre nach Dahrendorf – verabschiedet wurde – der Vorlage stimmten auf Sonderparteitagen rund 80 % der SPD- und rund 90 % der Grünen-Delegierten zu – allesamt Vertreter aus der „Mitte“ der Gesellschaft. Mit im Boot war seinerzeit auch die Bertelsmann Stiftung, die die Agenda wesentlich beeinflusst hat.

Ein gutes Jahrzehnt nach der „Agenda 2010“ beschäftigt die neuen „Freunde“ der „Offenen Gesellschaft“ die Frage, was „angesichts der katastrophalen Folgen der neoliberalen Politik für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft“, die wesentlich von der „Mitte“ vorangetrieben worden ist, getan werden kann. Das Ziel der angestrebten „ökosozialen Zukunftspolitik”: die Gesellschaft übergreifend und perspektivisch „ökosozial zu modernisieren”. Zur Umsetzung gehören sowohl und vor allem kleine Verbesserungen im Alltag wie die Beschäftigung mit dem großen Ganzen. Dazu bietet etwa Harald Welzer als Ausgangspunkt drei Szenarien: „Das erste wäre die Pfadwechsel-Welt, in der tatsächlich, gleichsam im letzten Moment, eine ökosoziale Transformation mit dem Ziel eines radikal anderen, nämlich nachhaltigen gesellschaftlichen Naturverhältnisses” eingeleitet würde. Das zweite wäre „eine multipolare Welt, in der die wirtschaftlich stärksten Akteure mit immer härteren Bandagen um die knapper werdenden Ressourcen konkurrieren”, was noch mehr Gewalt und noch mehr Flüchtlingsströme mit sich bringen würde. Die dritte Variante: eine „Gated Community-Welt, in der die Reichen sich symbolisch wie faktisch vor den gestaffelten Gruppen der Beschäftigten, Prekarisierten, Ausgegrenzten, Überflüssigen abschotten”— Gewalt nach draußen inbegriffen. Welzer befürchtet, dass sich die „privilegierte Einwohnerschaft der frühindustrialisierten Länder” (= die EU) „irgendwo zwischen Scenario zwei und drei befinden”. Das ist durchaus nachvollziehbar, allerdings warnen schon seit gut drei Jahrzehnten Initiativen vor der „Festung Europa“ (oder „Gated EU“). 2014 formulierte zu diesem Thema der damalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Ende seiner Amtszeit ganz im Sinne der „Mitte“: „Umringt von einem Kranz von Krisen, stellt sich unsere Allianz, unsere transnationale Gemeinschaft, als eine Insel der Sicherheit, der Stabilität und des Wohlstands dar.”

Bedroht wird die „Offene Gesellschaft“ weiter von der aufziehenden „Smarten Diktatur” des „digitalen Kapitalismus” à la Google, Amazon und Facebook, die grenzüberschreitend und global den „Zivilisationsprozess” insgesamt konterkariert: „Die Freiheit, die Handlungsspielräume eröffnet und zugleich für ihre Verteidigung braucht, ist heute radikal gefährdet“, bilanziert Welzer, „durch ökologischen Stress, durch räuberische Formationen, durch autokratische Regierungsformen, durch Überwachung und durch Hyperkonsum.” Dem schließt sich die Frage an, nicht „wie wir, das sind Sie und ich, unsere Freiheit verteidigen und sichern, sondern wie wir sie zurückerobern können.” Doch wer ist wiederum mit „wir” gemeint? Was ist „zurückzuerobern”, was zu „verteidigen”?
„Freiheit”, notiert Harald Welzer dazu auf den ersten Seiten der „Smarten Diktatur”, „ist nicht einfach da, sondern für sie muss gehandelt werden”. Eine „moderne Staatlichkeit, die auf der Idee der Freiheit basiert”, benötige deshalb eine Verwaltung, eine Justiz, die Polizei und die Bundeswehr. Die warb 2015 mit dem Slogan „Wir kämpfen auch dafür, dass Du gegen uns sein kannst”. (Erinnert das nicht ein wenig an Rosa Luxemburgs oft zitiertes „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden”?) Welzer jedenfalls findet den Bundeswehrslogan einen „ziemlich klugen Satz”, denn man müsse bereit sein, das „Paradox” der Freiheit „jederzeit gegen Feinde der Freiheit zu verteidigen”. Denn es ist „mit allem vorbei, wenn die Menschen aufhören, für eine offene Gesellschaft zu kämpfen”, so die Einleitung im Sammelband der „Freunde”.

Derlei erinnert daran, dass seit rot-grünen Zeiten „unsere” Freiheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Die dortigen Drohneneinsätze werden vom deutschen Ramstein aus koordiniert — die Opfer sind mehrheitlich Zivilisten. Derlei hat in „Offenen Gesellschaften“ eine gewisse Tradition. Als z.B. 1996 Madeleine Albright, die damalige US-Außenministerin und Intima des grünen Joschka Fischer gefragt wurde, ob der Tod von einer halben Million Kinder im Irak zur Liquidierung des geschlossenen Systems des Saddam Hussein vertretbar gewesen sei, antwortete sie in der Fernsehshow „60 Minuten“ am 12. Mai 1996: „Wir glauben, es ist den Preis wert.”

Passend dazu findet sich im aktuellen „Futur.Zwei-Magazin für Zukunft und Politik“ ein Interview mit Joschka Fischer, dem grünen Außenminister der rot-grünen Hartz IV-Regierung. Die „offene Gesellschaft“ war für ihn angesichts der „Enge“ und des „Drucks“ in der Bundesrepublik der 1950er Jahre eine wirkliche Alternative: „Die liberale Weltordnung, wie wir sie kennen, war alles andere als perfekt, aber sie löste den Faschismus ab, der dank eines ganz wesentlichen Beitrags der Vereinigten Staaten gottseidank besiegt wurde.“ Zur aktuellen Lage konstatiert er angesichts der Globalisierung: „Es geht nicht nur um westliche Unterschichten, sondern um berechtigte Ansprüche einer großen Mehrheit rund um den Globus.“ Er wendet sich mit Verweis auf Emmanuel Macron gegen alte Kategorisierungen: „Es gibt die einfache Welt von links und rechts nicht mehr“. Und Schließlich: „Softpower bringt man nur dann zum Tragen, wenn Sie auch über Hard Power verfügen, das heißt, wenn die Leute das ernst nehmen.“ Derlei Formeln sind in der „Offenen Gesellschaft“ wohl bekannt.

Die politischen Perspektiven von Macron lobt das Magazin auch an anderer Stelle. Dabei geht es um mehr als Tagespolitik, denn der französische Präsident stelle die „Frage einer glückenden Zukunft“ in den Mittelpunkt und verliere sich nicht in „derzeit noch immer üblichen kulturellen Fragen, die sich gern im Ästhetischen und Historischen“ ergehen. Schließlich gehe es um die „Erneuerung der politischen Klasse“. Beklagt wird allerdings, dass er in seiner Streitschrift „Revolution“ seine Inhalte nicht angemessen überbringe: „das demokratische, progressive und auch patriotische Pathos“ werde „nicht mit einem sprachlichen Stil und einem authentischem Ich transportiert, das an die ästhetisch-idealistischen Bedürfnisse eines eher kulturell als politisch konditionierten (?) Bürgertums anschließt.“ Über diese „stilistisch-narrative Schwäche“ müsse man indes hinweg sehen, weil Macron es „wirklich ernst“ (!) meine. Inzwischen gibt es allerdings auch ein wenig Kritik am Hoffnungsträger. Nichtsdestotrotz hat er das Ranking der Soft Power-Staaten durcheinander gebracht. Frankreich hat die USA und auch Deutschland eben auf die Plätze verwiesen.

Auffällig sind die Leerstellen in einschlägigen Publikationen rund um die „Freunde“. Einerseits wird etwa der „Mangel an positiver Berichterstattung über das, was gut läuft in der Offenen Gesellschaft“ beklagt und deshalb lokalen, auch kleineren Initiativen viel Platz eingeräumt, um sie als nachahmenswert vorzustellen. Derlei findet sich in aller Regel auch im Lokalteil regionaler Blätter. Ein anderes Beispiel: Das transform Magazin will „Anstöße für den gesellschaftlichen Wandel geben, ohne eine Richtung vorzuschreiben“. Es geht um „Ideen“, die Menschen und ihr Umfeld verändern – „hin zu einem guten Leben. Der gehobene Zeigefinger bleibt dabei stets in der Tasche“: inspirieren statt missionieren – nudging allerorten. Das Magazin ähnelt in Gestaltung und Inhalten den einschlägigen Seiten und Magazinen der „Freunde“.
Andererseits werden „der“ Neoliberalismus und seine negativen Politiken gegeißelt, doch es fehlen von wenigen Ausnahmen abgesehen konkrete Hinweise oder gar Namen. Derlei könnte vielleicht die „Mitte“ schrumpfen lassen …

Zwischenstopp: Transformationsdesign

Die Unterstützung „zivilgesellschaftlichen“ oder bürgerschaftlichen Engagements kann durchaus sinnvoll sein. Doch dann stellt sich die Frage, welche Veränderungen im Großen betrieben werden müssen, um die Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung mindestens zu begrenzen.
Der US-amerikanische Ökonom Dani Rodrik kritisiert den Trend hin zu immer mehr freiem Welthandel und einer unbegrenzten Mobilität von Kapital und Arbeit schon länger. Derlei beeinträchtige „den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht“ (um Dahrendorf zu zitieren) und sei mit „Demokratie und Nationalstaat“ nicht zu vereinbaren, so Rodrik: „Wenn wir die Globalisierung weiterführen wollen, müssen wir entweder den Nationalstaat oder demokratische Politik aufgeben. Wenn wir die Demokratie behalten und vertiefen wollen, müssen wir zwischen dem Nationalstaat und internationaler wirtschaftlicher Integration wählen. Und wenn wir den Nationalstaat und Selbstbestimmung bewahren wollen, müssen wir zwischen einer Vertiefung der Demokratie und einer Vertiefung der Globalisierung wählen.” Und: “Politische Gemeinschaften organisieren sich eher auf heimischer als auf globaler Ebene. Wer die immanenten Grenzen einer Globalisierung nicht erkennen will, leistet einen Beitrag zu den aktuellen Fehlleistungen der Globalisierung.” Deshalb werde „der Anti-Globalisierungstrend“ bleiben. Das müsse man zur Kenntnis nehmen, aber nicht nur deshalb die Regeln ändern und sich dabei am „realistischer weise Machbaren“ orientieren. Ihm schwebt eine Mischung aus „Freihandel und Protektionismus“ von „moderaten“ Nationalstaaten vor, die Installation einer Global- oder Weltregierung gehört aus seiner Sicht nicht zur Lösung.

In Deutschland sehen das „Freunde“ der „Offenen Gesellschaft“ anders – und größer. Dem „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) geht es um die Installation eines „Weltgesellschaftsvertrages“ für eine neue „Weltwirtschaftsordnung“: „Dessen zentrale Idee ist, dass Individuen und die Zivilgesellschaften, die Staaten und die Staatengemeinschaft sowie die Wirtschaft und die Wissenschaft kollektive Verantwortung für die Vermeidung gefährlichen Klimawandels und für die Abwendung anderer Gefährdungen der Menschheit als Teil des Erdsystems übernehmen. Der Gesellschaftsvertrag kombiniert eine Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratische Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung).“ Umgesetzt werden soll der damit verbundene Wertewandel vom „gestaltenden (National-)Staat“ und einem von ihm getragenen internationalen Vertragssystem, dazu von „Pionieren des Wandels“ als zentralen Akteuren vor Ort. Ersterem kommt die entscheidende Bedeutung zu: Er „steht fest in der Tradition der liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie, entwickelt diese aber im Sinne der Zukunftsfähigkeit demokratischer Gemeinwesen und freier Bürgergesellschaften weiter und berücksichtigt die Grenzen, innerhalb derer sich Wirtschaft und Gesellschaft auf einem endlichen Planeten entfalten können.“ Angestoßen wird der angestrebte Transformationsprozess freilich von den „Pionieren des Wandels“ (Change Agents), die es bereits in allen Bereichen der Gesellschaft gebe. Meist würden sie als „Nischenakteure“ starten, dann aber „einer Innovation nach und nach zu Bedeutsamkeit verhelfen, bis diese sich schließlich als neue gesellschaftliche Praxis etabliert“. Am Ende steht die „Routinierung“ der innovativen Konzepte. Schematisch stellt sich deren Etablierung so dar: vom Nischenakteur zum Agenda Setter – dann zum Meinungsführer und schließlich zur Veränderung des Mainstream. Das scheint dem Konzept der inkrementellen Innovation zu entsprechen.
Der Schwerpunkt der Aktivitäten müsse bei den „drei Hauptpfeilern der heutigen Weltgesellschaft“ liegen: den Energiesystemen inkl. des Verkehrssektors, den urbanen Räume und den Landnutzungssystemen der Land- und Forstwirtschaft. Das Ganze erinnert ein wenig an ein Vorhaben zur Förderungen „wissensbasierter“, technisch und ökologisch orientierter Start-ups. Allerdings weist der WBGU darauf hin, dass angesichts der systemischen Komplexität nicht alle Schritte wirklich planbar seien, man müsse vielmehr mit einem langandauernden Prozess rechnen. Den damit verbundenen „globalen zusätzlichen Investitionsbedarf für eine Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft im jährlichen Durchschnitt in einer Größenordnung von mindestens 200 Mrd. bis zu etwa 1.000 Mrd. US-$ bezogen auf den Zeitraum bis 2030 sowie deutlich über 1.000 Mrd. US-$ jährlich bezogen auf den Zeitraum zwischen 2030 und 2050 bewegt.“ Da diese Summen „in ihrer Größenordnung staatliche Budgets überschreiten“, werde „ein Großteil der Finanzierung über private Unternehmen oder institutionelle Investoren (u. a. Investmentfonds, Pensionskassen, Versicherungen) geschehen“ müssen. Insgesamt veranschlagen die Wissenschaftler für die weltweite Transformation um die 30 Jahre: „Die Wissenschaft hat die Aufgabe, Optionen aufzuzeigen; beschließen müssen die demokratisch legitimierten Entscheidungsträger.“

Das Konzept orientiert sich schon im Titel an den Überlegungen zur „Großen Transformation“ von Karl Polanyi. Der Historiker analysierte unter diesem Stichwort die Herausbildung der Industriegesellschaften im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Übergreifend betrachtet geht es hier um einen Zeitraum von insgesamt guten 200 Jahren. Aus Polanyi’s Sicht ging es dabei im Kern um einen grundsätzlichen „Konflikt zwischen dem Markt und den elementaren Erfordernissen eines geordneten gesellschaftlichen Lebens“. Denn um zu gewährleisten, dass „der (damalige) Industrialismus nicht zur Auslöschung der Menschheit“ führe, müsse er „den Erfordernissen der menschlichen Natur untergeordnet werden. Die eigentliche Kritik an der Marktgesellschaft besteht nicht darin, dass sie auf ökonomischen Prinzipien beruhte …, sondern dass ihre Wirtschaft auf dem Eigeninteresse beruhte. Eine solche Organisation des Wirtschaftslebens ist völlig unnatürlich und im rein empirischen Sinne außergewöhnlich.“ Die „Neigung zum Tauschhandel“ sei keineswegs „ein allgemeiner Wesenszug des Menschen in seiner wirtschaftlichen Aktivität“. Die damit zusammenhängenden „rationalistischen Konstruktionen“ der Ökonomen von Adam Smith & Co entsprächen nicht den „Erkenntnissen der modernen Anthropologie“ – vielmehr sei der Gesellschaft die „Marktorganisation aus nichtökonomischen Gründen“ vom Staat aufgezwungen worden. Dagegen gelte es nach den bitteren Resultaten dieser Politik, wieder den „Vorrang der Gesellschaft vor diesem Wirtschaftssystem“ zu erreichen.

Ob denn dem Marktsystem die Verfügung über Arbeit, Boden und Geld tatsächlich entzogen wurde, wie Polanyi hoffte, darf in Zeiten der neoliberalen Globalisierung indes bezweifelt werden. Zum offenen neoliberalen System gehören nicht nur das Finanzkapital, Hedgefonds oder Managertum, sondern auch staatliche Regulierungen wie Hartz-IV oder entsprechende Steuergesetze. Der Staat und damit die Politische Klasse übernehmen in diesem System sogar eine zentrale Aufgabe. Ihnen obliegt es, Regeln, die das neoliberale Projekt insgesamt gefährden könnten, mindestens zu behindern. Wenn es denn gilt, den Kapitalismus neu zu erfinden, soll das NEO ganz vorne stehen. Das kann die Duldung von „Nischenakteuren“ durchaus mit einschließen, unter Unterständen können ihre Aktivitäten sogar in die „Mitte“ der „Offenen Gesellschaft“ integriert werden.

Um ein Beispiel zu nennen: im Rahmen einer Global-Governance-Architektur empfiehlt der WBGU der „Bildung für Transformation eine größere Bedeutung“ zuzuweisen. Deshalb sollte sie „in die schulische und universitäre Ausbildung, in Berufsbildung und berufsbegleitendes Lernen integriert werden.“ Und: „Impulse dafür könnten auch kulturelle und künstlerische Formate im Rahmen von Museen, Zukunftsausstellungen oder Musik- und Filmfestivals geben.“ Dergleichen soll sich auch gegen den „Hyperkonsum“ richten und könnte durchaus von einer trendigen „Mitte“ angenommen werden. In Deutschland gibt es so mittlerweile mehrere Hochschulen, die einen Studiengang „Transformationsdesign“ anbieten. Ziel des Fachs ist es, die angesprochenen globalen Veränderungsprozesse im Allgemeinen unter dem Leitbild einer „zukunftsfähigen Moderne“ zu untersuchen. Im engeren Sinne geht es um Fragen des Produktdesigns, um Architektur und Stadtplanung, Governance-Fragen und soziale Innovationen, generell um die Verhinderung der Übernutzung von Ressourcen und eine öko-soziale Ausrichtung. Kurz, es geht um die Umsetzung der Erkenntnis, dass „Fortschritt“ oder „Modernisierung“ nicht immer mit einem wirklichen qualitativen Wandel für Mensch und Umwelt verbunden waren und sind. (Anmerkung: ohne „Krisensemantik” ist der Diskurs rund um die Modernisierung freilich nie ausgekommen.) Inzwischen ist auch ein „Handbuch Transformationsforschung“ erschienen.
Interessanterweise stammt der Begriff „Transformationsdesign“ aus Großbritannien, wo er 2004 dem Vernehmen nach auf Anregung des Labour-Ministerpräsidenten Tony Blair etabliert wurde: „Transformation-design means a human-centered, interdisciplinary process that seeks to create desirable and sustainable changes in behavior and form – of individuals, systems and organizations – often for socially progressive ends.“ Der britische Design-Professor John Wood etwa hat dazu ein Konzept „The Design of Micro-utopias“ – in der Hoffnung entworfen, dass „ein Denken über lange Zeiträume hinweg die Hauptsache für Regierungen und Pädagogen“ werden könnte.

Variationen (9): Über den Tellerrand

An Stelle einer Zusammenfassung sei zum Schluss auf eine Reihe von Aspekten hingewiesen, die quer zur Debatte um die „Offene Gesellschaft“ und ihre neoliberale Prägung liegen und die je für sich bestimmte Aspekte der Diskussion relativieren oder auch in Frage stellen (könnten).

Stichwort „Mitte“

Die „Mitte“ nimmt eine zentrale Rolle der Kampagne für eine „Offene Gesellschaft“ ein. Wie zuletzt im Falle des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung lange diskutiert worden ist, hängt in Deutschland die politische und gesellschaftliche Teilhabe wesentlich vom sozialen Status und dem Einkommen („wirtschaftliche Teilhabe“) ab. Arme gehen nicht wählen, Politiker nehmen ihre Lage und damit verbundene Interessen kaum wahr. Das Gleiche gilt für die gesellschaftlichen Eliten, wie Michael Hartmann in zahlreichen Untersuchungen belegt hat. Zugleich nimmt die gesellschaftliche Spaltung zu, die Lage der unteren Mittelschichten wird prekärer. Oliver Nachtwey berichtet davon in seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“. In dem Sammelband „Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen“ (Heinz Bude/Philipp Staab hg.) wird dem Paradox nachgegangen, dass sich zwar die Ungleichheit der Lebensverhältnisse zwischen den „alten Industrieländern“ und den „neuen Schwellenländern“ teilweise verringert, zugleich aber die gesellschaftliche Spaltung in diesen Ländern insgesamt beträchtlich wächst. Einen historischen Überblick zum Thema liefert Hartmut Kaeble mit „Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“.
Zu dem Begriff der „Mitte“ selbst hat Ulf Kadritzke einen historischen Essay „Mythos ‚Mitte‘. Oder: die Entsorgung der Klassenlage“ vorgelegt, in dem er eingangs konstatiert: „Ob politisch, kulturell oder gesellschaftlich gedeutet, die Mitte der Gesellschaft erscheint wesentlicher als das Ganze, dessen Teil sie doch ist.“

Stichwort „Politische und gesellschaftliche Teilhabe“

Eine Reihe von Analysen zum Zustand westlicher Zivilgesellschaften legt ihren Schwerpunkt nach dem behaupteten Ende des Links-Mitte-Rechts-Schemas auf kulturelle Standards. So argumentiert etwa der Soziologe Wolfgang Merkel, man müsse „berücksichtigen, dass sich die Inhalte dessen, was wir als links und rechts beschreiben, verschoben haben. Die historisch inhaltliche Achse, auf der linke und rechte Positionen verortet werden konnten, war die Verteilungsfrage gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands.“ Seit dem cultural turn sei das anders: „Kulturell links ist seitdem das Eintreten für die multikulturelle Gesellschaft, liberale Immigrationsregelungen, erleichterte Einbürgerung, Gleichberechtigung der Geschlechter, der sexuellen Präferenzen von Hetero- und Homosexualität, Weltoffenheit der Gesellschaft und die Befürwortung der fortschreitenden Integration. Rechts war und ist dagegen das Beharren auf patriarchalischen Verhältnissen, den Nationalstaat, eine nationale Leitkultur und die Positionierung gegen die multikulturelle Gesellschaft.“ In dieser holzschnittartigen Zuordnung sind in seiner Diktion die „Linken“ nun die „Kosmopoliten“, die „Rechten“ nun die „Kommunitaristen/Nationalisten“. Ein ähnliches Begriffspaar bilden „Hyperkultur” und „Kulturessentialismus”: erstere global, marktorientiert und grenzüberschreitend „offen”, letzterer an traditionellen Grenzziehungen und „geschlossenen”, nationalen Gemeinschaften orientiert.

Diesen kulturalistisch orientierten Dualismus spricht auch Didier Eribon in seinem vieldiskutierten Buch „Rückkehr nach Reims” an – allerdings mit deutlich anderem Zungenschlag. Er erinnert: „Links zu sein, sagt Gilles Deleuze in seinem Abecedaire, das heiße eine ,Horizontwahrnehmung` zu haben (die Welt als Ganze zu sehen, die Probleme der Dritten Welt wichtiger zu finden als die des eigenen Viertels). Nicht links zu sein hingegen bedeute, die Wahrnehmung auf das eigene Land, auf die eigene Straße zu verengen. Seine Definition ist der Art, in der meine Eltern links waren, diametral entgegengesetzt. Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt. Man schaute auf sich selbst, nicht in die Ferne, und zwar in geschichtlicher wie in geografischer Hinsicht. Und auch wenn man oft wiederholte, dass eine ,richtige Revolution’ vonnöten sei, so war diese Forderung doch eher auf die eigenen Lebensumstände mit ihren Härten und Ungerechtigkeiten gerichtet als auf einen Umsturz des politischen Systems.”.

Auch dem Soziologen Stefan Lessenich missfällt die Kulturalisierung der Probleme. Der „Offenen Gesellschaft“ bescheinigt er eine „imperiale Lebensweise“ und schlägt vor, das Wort „neoliberal“ durch die Bezeichnung „wohlstandsautoritär“ zu ersetzen. Eines seiner Beispiele beleuchtet exemplarisch die Welt der „Kosmopoliten“ und die Leerformel des „Hyperkonsums“. In Deutschland ist der Agrarsektor inzwischen beschäftigungspolitisch marginal, die Nahrungsmittelversorgung der wachsenden Bevölkerung trotzdem besser als je zuvor – nicht nur der Produktivitätssteigerungen, sondern auch der Verlagerung der landwirtschaftlichen Nutzflächen nach draußen wegen. In Argentinien z.B. gibt es kaum noch Rinderzucht, hier werden Sojabohnen für den europäischen Markt angebaut.
Dass die Liebe zu „Öko“ nicht immer zu politischem Engagement führt, meint Ingolfur Blühdorn: „Das emanzipatorische Projekt der neuen sozialen Bewegungen mutiert zum Projekt des (post)demokratischen Managements zunehmender ökologisch-sozialer Ungleichheit und Exklusion.“ Aber er warnt: „Der Zwang, jede Analyse sogleich in konkret umsetzbare Politikempfehlungen umzusetzen, ist nichts weiter als ein Kastrations- und Gleichschaltungsinstrument.“
In einem weiteren „kulturellen“ Ansatz wird – Stichwort „Hyperkonsum“ – die heutige „Verbraucherdemokratie“ zum Ausgangspunkt genommen. Hier ist einerseits von dem „sozialstrukturell segmentierten und fragmentierten Zustand der Zivilgesellschaft“ die Rede, andererseits seien die „Prozesse der Marktvergemeinschaftung … weit davon entfernt, demokratische Lernkurven zu beschreiben“ (Jörg Lamla „Verbraucherdemokratie. Politische Soziologie der Konsumgesellschaft“).

Noch ein Nachtrag zur „kulturellen Wende“: Das Publikum öffentlich geförderter Kultureinrichtungen (Schauspiel, Oper, Museen) ist in aller Regel besser gebildet, besser verdienend und schon etwas älter – kurz der „Mitte“ zugehörig. Aus diesen Kreisen kommt auch die Mehrheit bei Veranstaltungen der „Freunde“ der „Offenen Gesellschaft“ oder von „Pulse of Europe“, vor allem wenn diese in den entsprechenden Räumlichkeiten stattfinden.
Unter dem Stichwort „Die große Regression“ versucht der Suhrkamp Verlag übrigens querbeet, den aktuellen politischen Verwerfungen auf die Spur zu kommen.

Stichwort „Offene Grenzen“

Angesichts der elenden Zustände in der globalisierten Welt stellt sich die Frage, ob offene Grenzen tatsächlich dazu beitragen, die damit verbundenen Probleme zu lösen. Nach Ansicht des Philosophen Julian Nida-Rümelin würden offene Grenzen kaum dazu beitragen. Es geht aus seiner Sicht um einen Spagat „zwischen Ethik und Rationalität in der Flüchtlingsfrage“. Darüber gelte es zu streiten.
Radikaler formuliert ein anderer Philosoph. Konrad Liessmann meint: „Ohne Grenzen könnten wir nicht leben“, denn „Schauen wir uns an, was die Grenze bewirkt. Sie lässt das eine enden, gleichzeitig das andere beginnen und umgekehrt. Und sie verleiht beiden Bereichen Kontur und Gestalt. Vor allem macht sie das eine vom anderen unterscheidbar – oder: Sie behauptet diese Unterschiede. Das ist das Eigentliche, das Grenzen interessant macht. Wenn ich also von Grenzen spreche, spreche ich von Unterscheidungen. Ohne Grenzen wäre nichts wahrnehmbar.“ Und: „Wörtlich könnte man Definition mit Abgrenzung übersetzen.“ Wenn wir über Grenzen reden, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass es dabei nicht nur um die Flüchtlingsfrage geht.

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