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Iran (II) – zur Lage im Land

von Ali Mahdjoubi

Die aktuellen Proteste in Iran sind vor allem eins: verständlich und wohl begründet! Die allermeisten Teilnehmer an den Aufständen, Protest- aber auch zerstörerischen Aktionen sind junge Menschen, die nichts anderes und kein anderes politisches System kennen als die Islamische Republik Iran (IRI). Sie kennen nichts anderes als eine erniedrigende Behandlung durch die Machthaber, nichts anderes als die Teilung der Bevölkerung in „Eigene“ und „Nicht-Eigene“, nichts anderes als Stoppschilder bei Wahlen und verfassungsrechtlich verbrieften Teilhabemöglichkeiten, nichts anderes als eine auf allen Ebenen korrupte und käufliche Justiz, nichts anderes als Entrechtung in vielen Feldern des gesellschaftlichen Lebens, nichts anderes als offene, mittelalterlich begründete Diskriminierung und Entwürdigung von Frauen und ebenso Diskriminierung und Entrechtung von religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten.
Diese jungen Menschen, aber nicht nur sie, haben in den zurückliegenden 10-20 Jahren die Erfahrung gemacht, dass alle Initiativen und Bemühungen, zum Beispiel mit dem Instrument der Wahlen, die übrigens durch die Vorsortierung durch den Wächterrat nie freie Wahlen (gewesen) sind, die Politik im Allgemeinen und im Besonderen sowie die Teilung und Verteilung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen zu beeinflussen bzw. zu ändern, nichts gefruchtet haben. Denn mit ihren Wahlentscheidungen, mit ihren legalen oder illegalen Protesten und teilweise auch bewussten Verstößen gegen die vorgegebenen Moralvorstellungen und Verhaltensnormen der IRI konnten sie weder die Monopolstellung der Pasdaran (sogenannte Revolutionsgarden) im Wirtschaftsleben, noch die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft noch die totale und totalitär angelegte Macht des Staatsoberhauptes, Ali Khamenei, und seines Hauses (Bejt-e-Rahbari, was wörtlich Führers Haus bedeutet) zu brechen oder halbherzige Reformen auf den Weg zu bringen. Das politische System der IRI hat sich für große Teile der Bevölkerung als reformunfähig, dogmatisch und unbelehrbar erwiesen. Gleichgültig, wen die Menschen durch Wahlen ins Parlament geschickt oder mit der Regierungsarbeit beauftragt haben, scheiterten sie an den uneinnehmbar erscheinenden Mauern des „Führers Hauses“. Daher ist es nicht wirklich verwunderlich, dass sich die eher wirtschaftlich motivierten Initial-Proteste sehr schnell zu den bis dahin selten vernommenen Forderungen gegen die Person des Staatsoberhauptes, Ali Khamenei, entwickeln konnten. Der Frust und das Wutpotenzial sind derart groß, dass jede Vorhersage der künftigen Entwicklungen sehr schwer ist.

Wut und Furchtlosigkeit, Sympathie und Sorge

Seit dem Beginn der aktuellen Proteste und Aufstände in Iran habe ich erst gestern die Gelegenheit gehabt, mit meinen Verwandten und einigen vertrauenswürdigen Freunden aus der Schulzeit zu telefonieren, die sich seit der Gründung der Islamischen Republik Iran (IRI) in der Opposition zu ihr wähnen und deshalb viele Verluste und Einschränkungen im Laufe der letzten 39 Jahre hingenommen und erlitten haben. Ihre Berichte und Einschätzungen sind für mich stets authentischer und realistischer als Bilder und Stimmungen, die die Medien oder in sozialen Netzwerken verbreitet werden.
Hier die kurze Zusammenfassung der Einschätzungen: Bisher sind es eher die jungen Menschen in kleinen Provinzstädten, die todesmutig auf die Straße gehen. Auffällig ist, dass zahlenmäßig weniger Menschen unterwegs sind als bei den Protesten der letzten „Grünen Bewegung“, aber qualitativ mit mehr Wut, Furchtlosigkeit und Risikobereitschaft. Dieser Punkt ist auch in großen Städten zu beobachten. Die breiten urbanen Schichten und die in jeder Hinsicht geschwächte Mittelschicht des Landes verfolgen diese Entwicklungen zwar mit Sympathie, aber abwartend und auch mit einer gewissen Sorge. Zwar wünschen sie sich den Joch der IRI vom Hals, haben aber die Sorge, später mit Verhältnissen zu Recht kommen zu müssen, die ihnen aus Syrien, Ägypten, Libyen und Irak bekannt sind. Fakt ist, dass diese bzw. jede Revolte gegen die IRI ohne aktive Teilnahme dieser urbanen Schichten keinen Erfolg haben kann. Deshalb ist es wichtig, dass der Anteil von blinder Gewalt in den aktuellen Protest- und Aufstandsaktionen wesentlich reduziert wird. Sonst wird sich die Mittelschicht dem Ganzen nicht anschließen. Das wiederum würde es den Sicherheitsorganen leichter machen, die jungen Revoltierenden einfacher zu isolieren und zu unterdrücken.

Machtkampf im Machtzentrum?

Viele in der säkular eingestellten Mittelschicht sind sogar der Meinung, dass diese Proteste der Ausdruck eines teilweise entglittenen Machtkampfs innerhalb der unterschiedlichen Machtzentren der IRI sind. Davon versprechen sie sich nichts Gutes. Nicht selten hört man den Kommentar, dass das alles Vorbereitungen seien, um Rouhanis Regierungsunfähigkeit zu begründen, zu beweisen und ihn mit Hinweis auf die angeblich verloren gegangene Kontrolle abzusetzen. Damit würden sie das erreichen, was sie bei den Präsidentschaftswahlen nicht erreichen konnten.

Dass die Hauptfiguren der iranischen Staatsführung ausländische Mächte wie die USA, Saudi Arabien und Israel hinter diesen Protesten sehen und die Revolte als Aktivitäten „unserer Feinde“ bezeichnen, beeindruckt in den urbanen Mittelschichten mittlerweile kaum jemanden. Es ist zu fadenscheinig, um Menschen zum Nachdenken zu bringen. Dass sich Trump, die saudische Führung oder Netanjahu positiv zu diesen Protesten äußern, verunsichert die urbanen Mittelschichten zusätzlich, weil sie nichts Positives, Fortschrittliches oder Menschenrechtsfreundliches mit diesen Figuren verbinden. Diese Äußerungen bestärken aber die fundamentalistischen Kreisen in ihrer Propaganda, die Feinde Irans stünden hinter diesen Protesten.

Ich persönlich bin im Moment sehr skeptisch, ob die Staatsführung der IRI in der Lage ist, sich auf tiefgreifende Reformen dahingehend einzulassen, um einen Ausweg aus dieser Staatskrise zu ermöglichen. Die zur Unterdrückung der Proteste eingesetzten Ressourcen werden auf jeden Fall eine vielleicht positive Folge in außenpolitischer Hinsicht haben: Der Staatsführung der IRI werden die Mittel ausgehen, ihre Verbündeten in der Region wie bisher unterstützen zu können. Das wird zum Beispiel unmittelbare Folgen in Syrien und Irak haben. Sollten aber am Ende die Fundamentalisten und die totalitaristischen Machtkreise die Gewinner dieser Krise sein und alle „Kompromissler“ von der politischen Bühne jagen, muss man mit einer zunehmend abenteuerlichen und destruktiven Politik Irans in Afghanistan, am Persischen Golf und in Irak rechnen.

Kein Menschenrechtsrabatt durch UNO und EU!

Die EU und die UNO-Strukturen haben in dieser Situation eine große Verantwortung. Sie müssen darauf bestehen, dass man trotz aller diplomatischen Entspannungen der letzten Jahre keinen Rabatt bei Menschenrechten und der Einhaltung der Menschenrechte gewähren will und kann. Die breiten Bevölkerungsschichten in Iran brauchen keine Opportunisten á la Trump oder den saudischen Kronprinzen als ihre Unterstützer, sondern eine internationale Gemeinschaft, die keine kleinkarierten Abrechnungen im Sinne hat, sondern eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik in der ganzen Region sowie die großen Fragen der Zukunft.

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Ein Kommentar

  1. Martin Köhler

    Danke Ali, für diese “nicht offizielle” Einschätzung. Ich war vor kurzem 2 mal im Iran (dienstlich-Agrarforschung) und es ist ein faszinierendes Land mit wunderbaren Menschen. Wer weitere “inoffizielle” Einblicke in das gesellschaftliche und politische Leben dort bekommen möchte sollte von Ramita Navai “Stadt der Lügen” lesen, klasse !

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