Während der aktuellen Gefechte in den sog. “Volksparteien” hat es wieder Konjunktur: das Antipolitische. Die machen ja doch was sie wollen, arbeiten alle nur in die eigene Tasche, sind machthungrig und egoistisch, eine Wolfsgesellschaft. Vom wahren Leben wissen sie nix, kriegen überall den Arsch hintergetragen. Vom leisesten Umfragen-Gegenwind lassen sie sich von professionellen Lobbyist*inn*en und “Hauptstadtmedien” am Nasenring durchs Berliner Regierungsviertel ziehen.
Unternehmenskapitäne sind entsetzt, dass jede Entscheidung verschoben und dann zerredet wird, die kleinen Leute dagegen, dass sich an ihrer Lebenslage, die sich ständig verschlechtert, auch in Zukunft nichts bessern soll. Niemand hat Hoffnung. Die ist in der Koalitionsvereinbarung nicht vorgesehen, und kommt auch in den innerparteilichen Streitigkeiten nicht vor. Furcht vor der Zukunft gewinnt dagegen an Gewicht. Stabilitätsanker sind nirgends zu sehen.

Das sind keineswegs unbegründete Vorurteile. Diese Art zu Reden und zu Schreiben hat ein wahres Fundament. Hilfreich ist sie nicht. Jedenfalls wenn uns an Demokratie noch was liegt.

Neoliberalismus = Entwertung des Politischen und Gesellschaftlichen

Nach der Hochphase in der westdeutschen BRD der 70er Jahre mit 1 Mio. SPD-Mitgliedern und über 700.000 CDU-Mitgliedern (nur BRD, ohne DDR!) hat es eine fortgesetzte Abwertung der Partei-Politik, der Parlamente und der in ihnen aktiv engagierten Menschen gegeben. Meine These ist, dass die wichtigste Ursache dafür nicht die Verfehlung Einzelner oder einzelner Gruppen ist, sondern die neoliberale Entwicklung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie war und ist gekennzeichnet von der Abwertung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Regulierung und der Aufwertung der “Märkte”, Privatisierung und Ökonomisierung immer grösserer Gesellschafts- und Lebensbereiche. Diese Politik wurde von allen westdeutschen Parteien vorangetrieben. “Die Linke”-Partei mag sich unschuldig wähnen; ihre Vorläuferin SED dagegen war nicht unschuldig, sondern hat im Gegenteil durch ihr Versagen in historischem Ausmass zu dieser Entwicklung beigetragen.

Daraus ergab sich zwangsläufig ein Bedeutungsverlust des Politischen gegenüber dem Ökonomischen. Und das war die wesentliche Triebkraft dafür, dass die leistungsstärksten Talente immer weniger dazu drängten, demokratisch legitimierte Mandate zu erkämpfen, sondern stattdessen steile, und viel besser bezahlte Karrieren als Unternehmer*innen oder in Konzernen anzustreben. Schon vor ca. 10 Jahren habe ich im “Freitag” darauf aufmerksam gemacht. Seitdem hat sich nichts geändert, im Gegenteil, diese Tendenz hat sich bis heute beschleunigt.

Bescheidene saisonale Eintrittswellen in Parteien

Mitgliedereintrittswellen in Parteien – in viel bescheideneren Dimensionen – treten in der Regel nur noch auf, wenn eine Partei Aussicht auf Teilnahme an Regierungsmacht hat, und so mit Karriereoptionen locken kann. Eine Ausnahme bildet die aktuell fünfstellige Eintrittszahl in die SPD: hier lockt die privilegierte kurzfristige Teilnahme an einer aktuell relevanten Richtungsentscheidung, endlich mal ein Gefühl von Wichtigsein. Die Parteien werden nicht drumherum kommen, solche und andere basisdemokratische Entscheidungsprozesse viel stärker zu kultivieren. Linke Funktionär*inn*e*n, die das fürchten, werden mit Niederlagen bestraft. Vom Vorbild Labour bleiben die Jusos mit ihrer NoGroKo-Kampagne weit entfernt, was kaum überraschen kann. Denn sie wollen nur etwas verhindern, was ihnen schlimm erscheint. Aber was wollen sie erreichen? Was ist die Substanz der gewünschten SPD-Erneuerung? Warum soll die in Opposition besser gelingen als beim Regieren? Kann Regierungseinfluss nicht für bessere gesellschaftliche Bedingungen für Engagement sorgen, als wenn sich dieses gegen Regierungsrepression wehren muss?

Allergie gegen politisches Tagesgeschäft

Das sind die tagesaktuell unbeantworteten Fragen. Dass kaum noch strategische Köpfe zu finden sind, die darauf Antworten erarbeiten, liegt daran, dass die klügsten Köpfe heute eine gut begründete Allergie gegen das politische Tagesgeschäft haben. Es ist historisch kein Zufall, dass, auch wenn sie beständig von Haien umkreist werden, ausgerechnet jetzt zwei Trümmerfrauen die beiden Regierungsparteien anführen sollen. Mein Mitautor Rainer Bohnet unterstellt ihnen – sicherlich zutreffend – “Machthunger”. Ohne ginge es nicht. Alle Wahlsieger*innen der Geschichte waren von ihm angetrieben.
Die meisten Jungs mit Machthunger haben sich – noch deutlich rechtzeitig vor der Rente – aus der demokratischen Politik verpisst, und sind zum Reichwerden übergewechselt. So, wie kaum Männer Krankenpfleger, Kita-Erzieher oder Grundschullehrer werden, weil das alles harte Arbeit mit schlechter Bezahlung bedeutet, so werden die machthungrigen Männerscharen in der Politik auch immer dünner. Jedenfalls jener, die strategische Klugheit, politischen Weitblick und Selbstkontrolle ihres Hormonhaushalts in ihrer Persönlichkeit verbinden können. Dass es in dieser Republik Frauen gibt, die das mitbringen, ist in meinen Augen keine Gier, sondern Opferbereitschaft.
Das Kritisieren jener, die die heutige Parteipolitik betreiben, ist einerseits demokratisch erforderlich, oft richtig, und wird in diesem Blog, auch von mir, ausgiebig betrieben. Es ist aber auch billig. Denn die Objekte dieser Kritik werden weniger, und dabei nicht besser.

Parteipolitik-System verbessern und anders konditionieren

Das systemische Problem sind aber die vielen Millionen in unserer Gesellschaft, die über solche Fähigkeiten und Charaktereigenschaften verfügen, die aber nicht in politischem Engagement verschwenden wollen. Darum müsste sich linke, demokratische Politik darum kümmern, wie diese Branche, dieser Engagements- und Arbeitsmarkt, wieder Bedeutung gewinnen kann. Die Rahmenbedingungen dafür müssen verbessert werden – das wäre eine staatliche Aufgabe. Und die Möglichkeiten der demokratischen Einflussnahme: das gilt für den Staat und für die Parteien selbst.
Meine Idee wäre, dass die Grösse der Parlamente, die Zahl der zu erringenden Mandate und Karrieren an die Wahlbeteiligung gebunden wird. Niedrige Wahlbeteiligung = kleiner Bundestag, und umgekehrt. Ebenso die Wahlkampfkostenerstattung und sonstige Finanzierung der Parteien und ihrer Stiftungen. Der erzieherische Effekt auf die Parteien kann nur grandios werden. Sie müssten anfangen, sich wieder über Wichtiges zu streiten, statt beständig über sich selbst. Und das dann gerne sehr öffentlich. Nur wenn ihnen das gelingt, ist eine Wende zum Besseren überhaupt möglich.

Merkel, Nahles, Baerbock/Habeck, Kipping/Riexinger – das ist doch eine schöne und bedeutende Aufgabe.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net