Ulrich Horn wies hier auf ein NZZ-Interview von Joseph Fischer hin. Es ist lesenswert, weil Fischer – zumindest potenziell, wenn er was von seinem heutigen Beratergeschäft verstehen sollte – weit einflussreicher sein müsste, als er es in seinem früheren Job als Bundesaussenminister (in der Begriffswelt des damaligen Bundeskanzlers: “Kellner”) war. Fischer masst sich an, quasi aus dem Handgelenk heraus, weiterhin für die heutige Partei der Mitte (Die Grünen) zu sprechen, indem er stalkerhaft-lobend deren Parteispitze für sich vereinnahmt. In Wahrheit spricht er in der NZZ für das aussenpolitische Establishment aller ehemaliger und künftiger Regierungsparteien.
Fischer merkt so wenig wie dieses Establishment, dass die alte strategische Weltsicht mitten im Zusammenbruch ist. Die alte atlantische Freundschaft mit den USA wird nicht zurückkommen, im Gegenteil. Es war nicht die unberechenbare mangelnde Geschäftsfähigkeit des Donald Trump der Kern des Problems, sondern Interessengegensätze. Die dauern fort. Die USA werden sich auf das Spitzenspiel um die Weltmacht gegen China konzentrieren. Eine, souveräne, selbstbewusste, starke EU wäre dabei keine Hilfe, sondern ein a.o. störender zusätzlicher Konkurrent. Frankreich und Deutschland, wiederum gegenseitige Konkurrenten um die EU-Führung, hätten gerne eine solche EU, sind aber nicht dazu imstande, sie strategisch auf einer Ebene gemeinsamer Interessen zu entwickeln. Am Beispiel der heraufziehenden Konflikte im Ost-Mittelmeer, die Malte Daniljuk/telepolis jüngst in einem Dreiteiler anschaulich analysiert hat, ist zu erkennen, wie die USA die EU zu beschäftigen gedenken, damit sie im Kampf mit China nicht dazwischenredet.
Eine starke EU könnte eine friedensstiftende Vermittlerrolle in dieser für den Planeten lebensgefährlichen Polarisierung spielen. Sie wird aber nicht ernstgenommen. Das liegt weniger an ihrer fehlenden militärischen Schlagkraft, als an ihrer politischen Unzurechnungsfähigkeit. Und ihrer technologischen und kulturellen Zurückgebliebenheit. Das europäische Bewusstsein hat sich bis heute nicht von seinen kolonialen Verbrechen “erholt” – gemeint hier nicht im moralischen, menschenrechtlichen Sinne, sondern im Sinne einer eigenen Intelligenzentwicklung zur Wahrnehmung der Welt, sie sie heute ist. Damit hat offensichtlich der Herr Fischer als Repräsentant dieses Denkens besonders grosse Probleme.
Die mit wachsender Dringlichkeit zu lösende Aufgabe, die Erde als Ort menschlicher Lebensformen zu erhalten, ist im imperialen Konkurrenzmodus nicht zu bewältigen. Es geht um die Identifikation und ehrgeizige Verfolgung gemeinsamer Interessen. Also das, was die Kinder schon die ganze Zeit machen, und von den Erwachsenen fordern. Finden Sie mal die Stelle in Fischers Interview, die das behandelt.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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