Ein Jahr nach ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl stehen die Unionsparteien nicht schlecht da. In den Umfragen liegen sie stabil auf Platz 1 – mit deutlichem, bis zu zehn Punkte betragenden Abstand zur SPD-Kanzlerpartei und stets, wenn auch nur knapp, vor den Grünen. Von den bisherigen drei Landtagswahlen in diesem Jahr hat die CDU zwei gewonnen. Zudem führen SPD, Grüne und FDP derzeit einen Koalitionsstreit über Corona-Bekämpfung (FDP gegen SPD) und Energiepolitik (SPD gegen Grüne) auf, als ob eine Partei stark würde, wenn andere Ampelpartner in ein schlechtes Licht gerückt werden. Ob das den Wahlkämpfern in Niedersachsen hilft? Eine Woche vor ihrem Bundesparteitag jedenfalls kann die CDU halbwegs mit sich zufrieden sein. Vor allem haben sich Befürchtungen von Unions-Leuten nicht bewahrheitet, von der Ampelkoalition gehe eine solche Strahlkraft aus, dass der CDU ein Annus horribilis bevorstehe.

Es ist das dritte Mal in ihrer Geschichte, dass die Union nach jeweils langer Regierungszeit in die Opposition geschickt wurde. Vor ihrer Niederlage 1969 hatte sie zwanzig Jahre den Bundeskanzler gestellt. Vor ihrer Abwahl 1998 waren es 16 Jahre gewesen, so wie jetzt auch. Doch die Lage ist nicht gleich. Nach 1969 gab es in und zwischen CDU und CSU heftige Auseinandersetzungen, wie sie sich gegenüber der Ostpolitik der Brandt/Scheel-Regierung positionieren sollten. Offen ausgetragene Machtkämpfe kamen hinzu – Helmut Kohl gegen Rainer Barzel, Franz Josef Strauß erst gegen Barzel, dann gegen Kohl. Nach 1998 führten die Spendenaffären der CDU dazu, dass Wolfgang Schäubles Zeit als Parteivorsitzender bloß ein kurzes Interregnum war. Dann kam es zu Kämpfen zwischen der CDU-Parteivorsitzenden Angela Merkel und dem CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz. Kohl hatte sich überdies, bis kurz vor seinem Ausscheiden als CDU-Ehrenvorsitzender, verhalten, als sei er eigentlich immer noch CDU-Chef. Jetzt aber waren die Diadochenkämpfe in der Endphase von Merkels Kanzlerzeit ausgetragen worden – unter Beteiligung von Merz, Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet und Markus Söder. Die Wahlniederlage der Union 2021 war das Ergebnis, was sich scheinbar befriedend auswirkt. Und anders als Kohl treten die Ex-CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer und Laschet öffentlich kaum mehr auf. Merkel will abermals nicht beim Parteitag erscheinen.

Doch trügt der Schein der entspannten Lage? Ob die Union bei der Bundestagswahl mit dem dann 70 Jahre alten Merz als Kandidat antreten will und kann, ist natürlich längst nicht geklärt. Pannenfrei ist sein Agieren nicht. Vor allem aber steht sie vor einem strategischen Dilemma. In den 1970er-Jahren musste die Union die FDP aus der sozialliberalen Koalition herausbrechen, um den Kanzler zu stellen. Nun ist sie auf die Grünen angewiesen. Also gibt sich Merz rechtschaffen Mühe, sein Image als konservativer Hardliner abzustreifen, was freilich die vielen in der Union arg enttäuscht, die ihn genau deswegen zum Vorsitzenden gemacht haben. Der Streit über eine Frauenquote, der auf dem Parteitag entschieden werden soll, gehört dazu, ist aber bloß eine Nebensache.

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.