Die Linkspartei sucht auf ihrem Bundesparteitag nach Perspektiven. Die Trennung von Wagenknaecht und Co. hat – das war zu spüren – bei vielen Linken Erleichterung geschaffen. Doch die Frage nach dem neuen Kurs bleibt unbeantwortet. Die Dissidenten Wagenknecht und Komplizen haben sich für eine linksautoritär-rechtspopulistische Sekte entschlossen. Sie trifft die Befindlichkeit vieler Ex-DDRler und kann vielleicht der AfD ein paar Stimmen abnehmen. Die Linke aber schmort offensichtlich im eigenen, zum Teil linksidentitären Saft.

Dabei gab es mehr, um nur die eigenen Wunden zu lecken und altbekanntes wie den demokratischen Sozialismus und die Partei für die Abgehängten und Verlierer zu feiern. Der Parteitag hat gezeigt: Die Linke hat noch keine Strategie. Sie hat auch  noch keine Analyse, wo sie gesellschaftlich wirksam eingreifen könnte. Denn sie hält daran fest, Partei der Verlierer, der “kleinen Leute”, sprich  des modernen Proletariats zu sein. Nur: sie begründet dies mit intellektuellen und gut elaborierten Reden und Programmen – die die Betroffenen nicht verstehen würden, selbst, wenn sie sie erreichten. Diesen Teil der ehemaligen linken Wähler*innenschaft kann sie, wenn sie ihren Inhalten treu bleibt, getrost Wagenknecht überlassen. Das bedeutet nicht, dass eine linke Partei nicht Wähler*innen der sozial benachteiligten Schichten erreichen könnte. Die Grünen NRW haben das 1995 vorgemacht und sensationelle 10% auch mit Gewinnen  in den damals grün-fernen sozialen Brennpunkten wie Bonn-Tannenbusch, Köln-Chorweiler oder Duisburg-Marxloh erreicht.

Wagenknechts Handicap, über das niemand spricht

Sahra Wagenknechts Interview im “Kölner Stadtanzeiger” am letzten Wochenendes hätte zu 90% auch Alice Weidel halten können. Das schüren abgeschmackter Vorurteile – die Grünen woillten offene Grenzen und Bleiberecht für alle, ihre Wähler seien vor allem die Wohlhabenden – ist genau so abgeschmackt wie rechts – ebenso ihr Schüren von Ressentiments gegen Islam und die “fremde Kultur” der Flüchtlinge. Sie behauptet wie die AfD, Deutschland sei überfordert und müsse jetzt restriktiv gegen Flüchtlinge vorgehen. Zu suggerieren, ohne Atomkraft und Braunkohle gäbe es für E-Autos und Wärmepumpen nicht ausreichend Strom, offenbart ihre völlige Inkompetenz an der Grenze zur Leugnung des Klimawandels. Früher sei die Bahn pünktlich, die Ärzte ohne Wartezeiten gewesen, ist ebenso lächerlich, wie das Verballhornen von Bioladen und angeblich aufgezwungenem grün-alternativem Lebensstil. Wagenknecht macht, was sie am besten kann. Sie schürt ihre Form von Klassenkampf. Neid, Fake-News, Vorurteile und “drauf” auf die Flüchtlinge. Ein braunes Paket in rotem Geschenkpapier. Hätte sie Erfolg, bekäme eine kleinbürgerlich-faschistische AfD eine reaktionär-autoritäre Stimme selbsternannten Proletariats an ihre Seite. An deren Spitze neben Porsche-Fahrer Klaus Ernst die Königin der Nebenverdienste MdB Wagenknecht strahlen und die einstigen Vorkämpferinnen für Migration und Asyl, Muhammad Ali und Sevim Dagdelen nun für Einwanderungsbegrenzung sind. Die Wagenknecht-Truppe ist ebenso verlogen wie überbewertet.

 Ziellos und mit Beißhemmung

Dass der Vorsitzende Schirdewan die Doppelzüngigkeit des Wagenknecht-Clans nicht anprangerte, stattdessen in Zukunftsoptimismus ausbrach, ist verständlich, wird aber nicht reichen, die “Linke” wiederzubeleben. Die dann doch zur Spitzenkandidatin für Europa aufgestellte Carola Rackete hat im Vorfeld des Parteitags bereits deutlich gemacht, dass sie meint, die Linke müsse ihren Namen und damit grundsätzlich ihr Profil verändern. Daran ist viel richtiges. Denn zum einen hat die Restlinke sich ohnehin eher in die Richtung der grün-alternativen Milieus entwickelt, als dass sie das klassische SED-Publikum anspricht, das früher die PDS wählte, heute die AfD bevorzugt. Zudem ist der von Schirdewan und anderen beschworene “demokratische Sozialismus” leider derzeit so attraktiv wie eine Halle voller Altpapier.  Das bedeutet nicht, dass die Fähigkeit zur marxistischen Gesellschaftsanalyse, ein humanes Weltbild, das eine gerechte und nach Gleichheit strebende Gesellschaft erreichen will, aus der Zeit gefallen wäre. Auch eine antikapitalistische Kritik des Wirtschaftssystems gehört dazu – ebenso wie pazifistische und friedensorientierte Impulse, ohne die Realitäten des Ukrainekrieg und die Brutalität des  Überfalls der Hamas aus den Augen zu verlieren. Aber die Linke steht dafür bisher nicht.

Die Linke für sozialliberale Programmatik öffnen

Zum anderen gibt es viele sozialliberale Menschen, die von den Grünen und der FDP enttäuscht sind. Verteidigung des Asylgrundrechts, eine gerechtere Unternehmensbesteuerung, Erbschafts-, Vermögens- und Tobinsteuer finden diese sozialliberal denkenden Menschen ebenso wichtig wie ein Gesundheitssystem, das statt der Profite wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ein Rentensystem, das die Unternehmer und ihren Produktionsfortschritt in die Verantwortung für die alternde Gesellschaft wieder einbezieht. Dazu eine rationale Außenpolitik, realistische Friedenspolitik, gerechte Besteuerung und eine konsequente Umweltpolitik – die sich z.B. gegen SUVs der Elektromobilität wendet, mit der die Industrie dieselben Fehler macht, wie mit den bisherigen Verbrennern. Nicht zuletzt eine religionsferne, dem säkularen Staat verpflichtete Politik der Trennung von Kirche, Moschee und Staat.

Ja, es gibt einen Bedarf für eine Partei, die die Grundrechte verteidigt, für Gerechtiugkeit und Chancengleichheit eintritt – für all die Werte, die SPD, Grüne und FDP in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehr oder weniger verwässert oder hinangestellt haben.  Es würde sich lohnen, beim alten Liberalen Karl-Herrmann Flach nachzulesen, was fortschrittlicher Liberalismus und demokratischer Sozialismus gemeinsem haben.

Lies nach bei Flach

“Die Auffassung, dass Liberalismus und Privateigentum an Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte, die in unserer Zeit fortleben.” Das dürfte für die “Linke” nicht schwer zu verdauen sein. Die nächsten beiden Gedanken vielleicht schon eher: “Liberalismus heisst Einsatz für die größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden gesellschaftlichen Situation. Der Liberalismus ist nicht auf ein Gesellschaftsmodell festgelegt.” und “Wer abweichende Ideen als Häresie verbietet und kritisches Leugnen des Gültigen als Ketzerei verfolgt, behindert nach liberaler Auffassung den gesellschaftlichen und politischen Fortschritt”….”Wer Minderheiten in ihren Rechten einschränkt, zwängt die Gesellschaft in Formen der Erstarrung.  Geistige Freiheit und Minderheitenschutz sind daher für die Entwicklung der Gesellschaft unverzichtbar. Ihre Voraussetzung ist Toleranz.” oder an anderer Stelle: “Es geht letztlich darum, die beiden großen europäischen Revolitionen, die französische von 1789 und die russische von 1917 miteinender zu versöhnen. Sozialismus und Liberalismus sind eben nicht Feuer und Wasser, sondern in ihrem ursprünglichen Bemühen um den Menschen durchaus vereinbar.”

Eine sozialistisch-sozialliberale Partei?

Wer es wie auch immer drehen oder wenden mag: durch die Spaltung der Linken und den Abgang der Wagenknecht-Truppe ins populistische Lager ist der Weg einer relevanten Linken offen. Sie könnte sich für die linksliberalen, bürgerrechtlichen und konsequent ökologischen Kräfte öffnen, die von FDP und Grünen nicht zuletzt im Abnutzungskampf der Ampelkoalition genervt, enttäuscht und frustriert worden sind. Aber dafür bedürfte es eines deutlichen Schritts, einer echten programmatischen Neuausrichtung und der Entwicklung eines neuen Kompromisses der Grundwerte der Partei. Ein weiter Weg, eine Zumutung für manche altgediente Genoss*inn*en, aber vielleicht ein lohnender Schritt der Transformation.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net