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„Roboterhafte Bemühungen”

Die russische Entscheidungsfindung auf dem Schlachtfeld weiterhin fragwürdig“ (US-Thinktank „ISW“)

Dass die Kampfkraft der russischen Armee nur noch von der strategisch-taktischen Schwäche ihrer Führung unterboten wird, verwundert schon seit vielen Wochen. Gegenwärtig führt diese Armee vor allem begrenzte Symbolangriffe durch, um ein Schauspiel für Kriegsunterstützer zu bieten (riecht die Symbolik schon nach „Ardennenoffensive“ 1944/45?). Große Teile des russisch besetzten Nordostens der Ukraine, die Putin ja eigentlich „befreien“ wollte, hat er dagegen wohl schon aufgegeben. Sie dürften demnächst wirklich befreit werden – und zwar von den russischen Okkupanten.

Dieser Krieg ist für Russland ein desaströser Absturz im geopolitischen Ranking der Mächte. Und für die Ukraine ein Freiheitskrieg, der historische Grundlage für ein demokratisches nationbuilding sein kann/wird.

Aus dem Tagesbericht des ISW:

„Die russischen Streitkräfte führen weiterhin sinnlose Offensivoperationen rund um Donezk und Bakhmut durch, anstatt sich auf die Verteidigung gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu konzentrieren, die weiter vorrücken. Die russischen Truppen greifen weiterhin Bakhmut und verschiedene Dörfer in der Nähe von Donezk an, die für die Kriegsbefürworter in der Donezker Volksrepublik (DNR) von emotionaler Bedeutung sind, aber ansonsten kaum eine Rolle spielen. Offenbar setzen die Russen einen Teil der sehr begrenzten Reserven, die in der Ukraine zur Verfügung stehen, für diese Bemühungen ein und nicht für die verwundbaren russischen Verteidigungslinien, die eilig entlang des Flusses Oskil im östlichen Gebiet Charkiw errichtet wurden. Die Russen können nicht darauf hoffen, bei Bakhmut oder in der Stadt Donezk in ausreichendem Maße zu gewinnen, um die ukrainischen Gegenoffensiven zum Scheitern zu bringen, und scheinen ihre fast roboterhaften Bemühungen um Bodengewinne im Gebiet Donezk fortzusetzen, die sich zunehmend von den allgemeinen Realitäten des Schauplatzes zu entfernen scheinen.

Das Versäumnis Russlands, groß angelegte Verstärkungen in die östlichen Gebiete Charkiw und Luhansk zu entsenden, macht den größten Teil des von Russland besetzten Nordostens der Ukraine für die anhaltenden ukrainischen Gegenoffensiven äußerst anfällig. Möglicherweise haben die Russen beschlossen, dieses Gebiet nicht zu verteidigen, obwohl der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt erklärt hat, dass der Zweck der “speziellen Militäroperation” die “Befreiung” der Gebiete Donezk und Luhansk sei. Der Verteidigung der russischen Errungenschaften in der Südukraine Vorrang vor der Verteidigung der Nordostukraine zu geben, ist strategisch sinnvoll, da die Gebiete Cherson und Saporischschja sowohl für Russland als auch für die Ukraine von entscheidender Bedeutung sind, die dünn besiedelten landwirtschaftlichen Gebiete im Nordosten dagegen weit weniger. Die fortgesetzten russischen Offensivoperationen um Bakhmut und Donezk, bei denen ein Teil der sehr begrenzten russischen Kampfkraft auf Kosten der Verteidigung gegen ukrainische Gegenangriffe eingesetzt wird, könnten jedoch darauf hindeuten, dass die russische Entscheidungsfindung auf dem Schlachtfeld weiterhin fragwürdig ist.

Die ukrainischen Streitkräfte scheinen ihre Stellungen östlich des Flusses Oskil und nördlich des Flusses Siverskij Donez auszubauen, was es ihnen ermöglichen könnte, die russischen Truppen, die sich um Lyman herum halten, einzukesseln. Weitere ukrainische Vorstöße nach Osten entlang des Nordufers des Siverskij Donez könnten die russischen Stellungen um Lyman unhaltbar machen und die Zugänge nach Lyssytschansk und schließlich Sewerodonezk öffnen. Die russischen Verteidiger in Lyman scheinen immer noch zu einem großen Teil aus BARS-Reservisten (Russian Combat Army Reserve) und den Resten von Einheiten zu bestehen, die bei der Gegenoffensive im Gebiet Charkiw schwer beschädigt wurden, und die Russen scheinen keine Verstärkungen aus anderen Teilen des Gebiets in diese Gebiete zu leiten.“

Mehr zum Autor hier.

Anm. d. Red.: Lesen Sie zum Vergleich auch Andrew Bacevich/TomDispatch/Overton: “Russlands leistungsschwaches Militär (und das US-Militär) – Hätte die russische Armee in der Ukraine besser abgeschnitten, wenn sie mehr darauf geachtet hätte, wie die US-Streitkräfte mit solchen Dingen umgehen? Bequeme Lektionen, die das Lernen behindern.”

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

3 Kommentare

  1. Reinhard Olschanski

    Der von Martin Böttger anhängte Artikel bringt einige interessante und kritische Informationen zur amerikanischen Militärpolitik der letzten 20 Jahre. Allerdings führt er auch vom Thema weg, denn der Autor vergleicht ein bisschen Äpfel mit Birnen, d.h. die Ukraineinvasion der russischen Armee mit u.a. dem Afghanistankrieg der USA (der Afghanistankrieg der Sowjetunion wird ausgespart). Der Ukrainekrieg ist vorwiegend ein konventioneller Landkrieg, auch wenn wir einerseits zahlreiche Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung sehen, die das „Konventionelle“ am konventionellen Krieg in erschreckender Weise überschreiten, und andererseits eine Partisanentätigkeit von Seiten der Ukrainer, die nur zu gut verständlich ist. Aber ganz überwiegend ist es eben ein konventioneller Krieg, während die USA (wie zuvor die Sowjetunion) es in Afghanistan mit einer asymmetrischen Kriegsführung zu tun hatten, der beide Mächte mit ihrer konventionellen Militärlogik nur wenig entgegenzusetzen hatten. Der langen Rede kurzer Sinn: Russland „versagt“ in der Ukraine genau dort, wo alle glaubten, dass es besonders stark sei, nämlich in der konventionellen Kriegsführung. Das ist das eigentliche militärische und mittelfristig wohl auch politische Debakel für Putin, das die geopolitischen Karten bereits jetzt neu gemischt hat.

    • Martin Böttger

      Dein Hinweis trifft zu. Ich würde lediglich ergänzen: für Zivilpersonen sind sowohl die “Äpfel” als auch die “Birnen” mit Lebensgefahr, Traumatisierung und Tod verbunden. Und dem faktischen Verlust fast aller Menschenrechte.

  2. Roland Appel

    Bleibt die Frage, wie Putin weitermacht. Wenn das alles zutrifft, was Du schreibst und zitierst, lieber Reinhard, dann handelt es sich bei dem Getöse, das Strack-Zimmermann (FDP), Anton Hofreiter (Grüne) und Michael Roth, (SPD) derzeit wieder um Leoparden 2 veranstalten, um nichts als dieselben narzisstischen Profilierungsversuche, mit denen die größten Looser der Koalitionsvereinbarung als Nicht-Verteidigungsministerin, Nicht-Agrarminister und Nicht- mehr-Staatsminister im Auswärtigen Amt schon im Frühsommer die Öffentlichkeit belästigt und der eigenen Koalition geschadet haben.

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