Beueler-Extradienst

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Sechsundfünfzig Prozent “Weiter so”

Die Delegierten des SPD Parteitages haben das getan, was wir alle von der SPD gewohnt sind: Erst wird gemurrt und am Ende stimmt man der Parteispitze zu, weil man sich ja nicht selbst enthaupten will. Schulz, Nahles und die Führung der SPD können von Glück sagen, dass es noch einmal, vermutlich ein letztes Mal, gutgegangen ist. Was sie daraus machen können, ist völlig offen. Das wichtigste Ergebnis der Debatte war, dass es nicht um den einen oder anderen Spiegelstrich ging, auch nicht um die Nachforderungen, die nun in Form der Abschaffung der anlasslosen Befristung von Arbeitsverträgen, der Gleichstellung von an privaten und an Kassenpatienten erbrachten ärztlichen Leistungen, sowie der Neuverhandlung des Familiennachzuges von Flüchtlingen noch als Auftrag an die Verhandler formuliert wurden. Nein es geht in der SPD ums Eingemachte, es geht ums Ganze. Darum, dass die SPD schon zu Rot-Grün mit den Hartz-Reformen und insbesondere in den letzen GroKos faktisch gegen die Interessen der Armen und Schwachen, ihrer Kernwählerschaft Politik gemacht hat.

Zukunft verschlafen, Gerechtigkeit versäumt

Die SPD-Basis hat erkannt, dass es die SPD war, die das Auseinanderklaffen von Arm und Reich nicht aufhielt. Dass keine Vermögenssteuer, keine Erbschaftssteuer, keine Kapitaltransaktionssteuer, für mehr soziale Gerechtigkeit seit 20 Jahren gefordert, aber niemals umgesetzt wurden. Und dass die SPD 2018 eine Flüchtlingspolitik mitträgt, die im Wahkampf thematisch von der AfD dominiert, von der SPD nicht widersprochen und jetzt von der CSU faktisch umgesetzt wird. Dass die Genossen zwar am Ende des Parteitags singen, man schreite “Seit an Seit”, aber eben nicht mit der neuen Zeit, sondern im Irgendwann und Irgendwohin, wo keine Hoffnung auf Gerechtigkeit besteht. Nein, die SPD, das wurde auf diesem Parteitag deutlich, hat ihre Bindungskraft für die Menschen verloren, weil sie die Zukunft verschlafen hat. Auf die Folgen der Digitalisierung, immer schneller folgender Modernisierungsprozesse, des Wandels von Arbeit und Veränderung der Bürgerrechte, und von bisher sicher geglaubten Lebensfaktoren wie Bildung, Ausbildung, Schutz bei Krankheit, im Alter und Schaffen einer lebenssichernden Rente hat die SPD keine Antworten gegeben. Sie hat immer nur “Schlimmeres verhindert”, aber das reicht endgültig nicht mehr aus. Sie hat im Wahlkampf 2017 versprochen, das so nicht mehr weiter zu machen und macht es nun doch – das ist das Kernproblem, nicht das, was Schulz und Co. im Einzelnen verhandelt haben.

 

In Wirklichkeit ging es bei diesem SPD-Parteitag nicht um die Frage, ob die Verhandler einen weiteren Auftrag bekommen sollen, sondern darum, wie die SPD die nächsten vier Jahre und ihre Existenzkrise überstehen kann. Und da hatten die Gegner der Verhandlungen, trotz guter analytischer Argumente auf ihrer Seite, einen kardinalen Fehler gemacht: sie konnten keine Perspektive anbieten. Hätten sie offensiv für Neuwahlen und eine andere gesellschaftiche Mehrheit mit einer SPD, die die Sorgen und Abstiegsängste der Menschen wieder ernst nimmt, gestritten, hätten sie Perspektiven zumindest andeuten können. So waren sie nur dagegen, hielten offen, ob die SPD nicht besser doch lieber stärkste Opposition spielen wollte, wohl wissend, dass das nicht funktionieren wird, ohne Neuwahlen. Kevin Kühnert hat sich zwar als rhetorisch geschicktes Nachwuchstalent empfohlen, aber er hat auch nicht gewagt, über den Tag hinaus zu denken. Olaf Scholz, das hat der Parteitag deutlich gemacht, hatte da den sichereren Urnstinkt, als Vorsitzender der Antragskommission konnte er kritisch integrieren und trotzdem für die Verhandlungen sprechen und geschickt betonen, dass die SPD einen Erneuerungsprozess benötigt. Er hat seine Position gefestigt, mit ihm wird zukünftig auf jeden Fall zu rechnen sein.

 

Kulturbruch und personelle Götterdämmerung

Überhaupt zeigten die Reden, dass sich beim Personal Götterdämmerung andeutet. Neben Olaf Scholz hat Andrea Nahles die wichtigste und emotionalste Rede des Parteitages gehalten und gezeigt, dass sie derzeit die heimliche Parteichefin ist, die weiss, wie die Mitglieder ticken. Auch Manuela Schwesig hat in einer taktischen Rede gezeigt, dass sie weiss, wo die Probleme wirklich liegen und Malu Dreyer entwickelt sich mehr und mehr zum ruhenden Pol des Vertrauens in der Sozialdemokratie. Von Martin Schulz kann man das ebenso wenig behaupten, wie von Ralf Stegner. Schulz’ Körpersprache drückte noch stärker als seine schwache Rede aus, dass er sein Pulver längst verschossen hat, ein Parteivorsitzender auf Abruf, der nur aus Höflichkeit und Solidarität im Wissen, dass dies der Gesamtpartei jetzt noch mehr schaden würde, nicht gleich geschlachtet wird. Ihm klebt nicht an, dass er für die Verhandlungen kämpft, sondern dass er das Erreichte der Sondierungen als “hervorragendes Ergebnis” darstellte und sich damit auch sprachlich im Vergleich zu seinem Auftritt am Wahlabend den 1.Preis der Wendehälse redlich verdient hat. Und so manchen Delegierten dämmerte, ob sie sein “…Ich werde als Bundeskanzler…” nicht schon im Frühjahr als realitätsfernes Getöse hätten erkennen müssen.

 

Auch Ralf Stegners Tage könnten gezählt sein – seinen vollmundigen Ankündigungen in Sachen Bürgerversicherung, denen nur heiße Luft folgte, ließ er nun wieder ein ebenso vollmundiges Versprechen folgen, nämlich dass es die in den Sondierungen mit der CDU vereinbarten Internierungslager für Flüchtlinge nicht geben werde – geglaubt hat ihm das wahrscheinlich kaum noch jemand. Rudolf Scharpings Blick des “elder Statesman” im hellblauen Kaschmirpulli ist beispielhaft für viele Führungsleute so getrübt, dass er nur 28 Jahre regierende SPD sehen und keine Widersprüche erkennen kann. Bei der Rede des DGB-Vorsitzenden – früher ein Höhepunkt des Parteitages – hörte die Mehrheit der Delegierten trotz markigem Gebrüll nach wenigen Sätzen kaum mehr zu. Manch sozialdemokratischer Habitus der Vergangenheit findet in der SPD 2018 einfach keinen Resonanzboden mehr. Fast noch interessanter war, wer auf diesem Parteitag nicht das Wort ergriff. Sigmar Gabriel zum Beispiel und keine einzige Führungsperson aus NRW, der “Herzkammer der SPD”.

 

Ein Sieg ohne wirkliche Perspektive

Stefan Weil, der ehrliche Makler einer GroKo aus Niedersachsen und Andrea Nahles, die die Rampensau gab – diese beiden haben es wahrscheinlich herausgerissen. Spätestens ab Dienstag wird sich zeigen, ob die Verhandler um Martin Schulz mit ihrem 56% – Sieg glücklich werden oder ihn noch bereuen werden. Wenn sie der CDU/CSU ein Stöckchen hingehalten zu haben, das die nicht mal ansehen, geschweige denn darüber springen wird. Das große Entgegenkommen der CDU/CSU wird es schon um den bayerischen Wahlkampfs willen nicht geben, denn Neuwahlen braucht die Union im Gegensatz zur SPD mit ihrer Haltung nicht zu fürchten. So bleibt die Frage offen, wie die SPD-Führung in diesem Zustand glaubt, aus der Regierung heraus eine Erneuerung ihrer Partei erreichen zu können. 18% und das Ende der SPD als Volkspartei sind nicht nur greifbar geworden. “Die Situation ist da!” hat Altkanzler Konrad Adenauer gesagt. Es ist nicht einmal mehr eine Frage der Zeit.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Du hast wohl Mike Groschek, den NRW-Landesvorsitzenden, übersehen und überhört. Er hat, auf einer Ebene mit der von Dir zu Recht hervorgehobenen Malu Dreyer, zu Beginn geredet und begrüsst.
    Groschek hat ein optisches Performance-Handicap, aber kein intellektuelles, im Gegenteil. Als Konkursverwalter der NRW-Hinterlassenschaft von Hannelore Kraft ist er jetzt der Trümmermann, der in der einstigen Herzkammer aufräumen muss. Und er hat vor dem Parteitag nach meinem Eindruck (vor-)entscheidende Strippen gezogen. Er ist einer der Wenigen in der Ruhrgebiets-SPD, die strategisch noch alle Tassen im Schrank haben.
    Es gibt auch noch Kutschaty, der in Essen las UB-Vorsitzender das ist, was Groschek auf NRW-Ebene ist; und Baranowski, den OB von Gelsenkirchen, ein intelligenter Kerl, der in der Öffentlichkeit aber weitgehend untergetaucht ist. Vielleicht hat der in seiner Verwaltungsführung einfach zu viel Krisen zu managen. Dortmund OB Sierau dito, der will wohl von niemandem bundesweit erkannt werden 😉
    Ob das alles reicht, dass die da jemals wieder auf die Beine kommen, das weiss ich auch nicht. Arme Svenja.

    • Roland Appel

      Ja, den hatte ich übersehen – Danke!

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