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Weh getan

Von Günter Bannas

Aus gegebenen Anlässen ein Blick in die Vergangenheit. Im April 1993 trat Björn Engholm vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurück. Sogleich meldete Gerhard Schröder, Ministerpräsident in Niedersachsen, Interesse an. Rudolf Scharping, SPD-Regierungschef in Mainz, hob ebenfalls den Finger, dann auch Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundestagsabgeordnete und Chefin des linken SPD-Bezirks Hessen-Süd. Das war der SPD-Spitze gerade recht, wollte sie doch den Aufstieg Schröders, der damals als „links“ galt, verhindern. Ihre Kalkulation: Schröder und Wieczorek-Zeul würden das „linke“ Lager spalten. Ein SPD-Mitgliederentscheid wurde angesetzt – ohne Stichentscheid. Wieczorek-Zeul erhielt 26 und Schröder 33 Prozent. Scharping bekam 40 Prozent und wurde SPD-Vorsitzender. Doch er wollte auch Kanzler werden, was aber Oskar Lafontaine, der SPD-Napoleon aus dem Saarland, ebenfalls wollte. Scharping setzte sich durch, wurde Kanzlerkandidat und verlor 1994 gegen Helmut Kohl.

Scharping ging als Oppositionsführer nach Bonn – und hatte von nun an zwei mächtige Gegner in der SPD: die Ministerpräsidenten Schröder und Lafontaine. Deren Freunde sorgten dafür, dass Scharping in der Bundestagsfraktion Schwierigkeiten bekam. Im Bundesrat stimmten sie anders ab, als es Scharping wollte. Im Sommer 1995 wurden immer neue Zweifel verbreitet, ob Scharping geeignet sei. Die Debatten wurden durch seinen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur 1998 verschärft. Es trat keine Ruhe ein. Scharping entließ „seinen“ SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen, weil er irrigerweise glaubte, dieser sei Urheber abträglicher Schlagzeilen.

Im November 1995 kam es zum Showdown. Parteitag in Mannheim. Scharping hielt eine Rede. Zwar titelte Bild „Scharping stark wie nie“. Doch die Delegierten sahen das nicht so. Vor Verzweiflung hatten sie gestöhnt. Die mächtige SPD-Antragskommission beschloss Anträge, die Scharpings Führungsanspruch unterminierten. Tags darauf, am Abend, gab Lafontaine als Vorsitzender der Kommission einen „Bericht“ ab. Lafontaine redete sich in Rage, und die Delegierten brüllten vor Begeisterung. Er müsse nun bei der Wahl des Parteivorsitzenden antreten. Lafontaine ließ sich willig drängen. Sogar die Satzung wurde geändert, damit er gegen Scharping antreten durfte. Lafontaine gewann. Scharping sagte: „Oskar, manches hat bitter weh getan.“ Gestern vor 24 Jahren war das.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.

Ein Kommentar

  1. Roland Appel

    Ich habe diesen Parteitag auf “Phoenix” live verfolgt. Lafontaines Rede und Kandidatur waren eine Erlösung gegen die bleierne Schläfrigkeit der Regentschaft Scharpings, der die SPD nicht politisch führte, sondern den Grußonkel gab. Er kam im Gegensatz zu Kohl politisch über Rheinland-Pfalz nie hinaus. Schon als er vom Parteipräsidium zum Vorsitzenden gewählt worden war, kam er zu spät – er saß mit mir in einer Schüler*innendiskussion im Gymnasium Nonnenwerth auf dem Podium. Auf meine Frage, ob er nicht in Bonn sein müsse, antwortete er: “Aaach, das klappt schon, ist nicht so wichtich.” Er verließ sich auf seinen Ziehvater Johannes Rau. Nur hatte dessen Götterdämmerung bereits begonnen und er verlor 1995 die absolute Mehrheit in NRW. Als Oskar “putschte”, regierte schon Rot-Grün in der Herzkammer der SPD. Der Beginn eines langsamen, aber stetigen Abstiegs der ältesten Volkspartei, die die Zeichen der Zeit bis heute nicht erkannt hat. Und jeder/m Vorsitzenden der Karrieretruppe wurde seither übel weh getan.

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