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Linke Kritik an ZeroCovid

Bei den Jungdemokraten habe ich einst gelernt, Politikkonzepte nicht nur formal, sondern auch denkend zu gliedern: Zielsetzung – Analyse – Strategie – Forderungen/Massnahmen/Aktionen. Das schafft Ordnung, im eigenen Kopf und im Konzept. Spätestens im Punkt Analyse muss in Rechnung gestellt werden, dass wir uns in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem bewegen, das derzeit mit den Instrumenten einer bürgerlichen Demokratie in geordneten Bahnen politisch gesteuert werden soll. Das ist die Ausgangslage.
Aus diesen Überlegungen entwickelten wir schon in den 70er Jahren u.a. eine Kampagne “Das Grundgesetz in die Gesellschaft hineintragen”. Das war in unseren Augen politischer (und systemkritischer) als es vordergründig klingt, weil wir sahen, dass die Grundrechte zwar “auf dem Papier” standen, was wir keineswegs als wertlos, sondern als Zwischenerfolg der Geschichte bewerteten. In der Praxis, materiell, materialistisch betrachtet, hatte aber nicht jeder Mensch die gleiche Chance, seine Grundrechte auch praktisch wahrzunehmen und auszuüben. Die Grundrechte blieben Postulat. Der berühmteste Satz, der in den 60er Jahren dazu kursierte, war der des konservativen ehemaligen FAZ-Herausgebers Paul Sethe: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Das schrieb er 1965; heute handelt es sich höchstens noch um ein Dutzend. Sethe fügte damals u.a. schon weise hinzu: „Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher.“ Ein klassisches Beispiel einer materialistischen Analyse: “Das ist nicht von Karl Marx, sondern von Paul Sethe.” – so Sethe selbst.
Daran musste ich denken, als ich erstmals den Wunschkatalog der ZeroCovid-Initiative las. Zahlreiche ehrenwerte linke Menschen haben sie mitgezeichnet, von denen ich spontan gedacht habe, wo die*der dafür ist, bin ich auch gerne dabei. Doch der im Text zum Ausdruck kommende Wunschkatalog erinnert eher an Kindergeburtstag oder Weihnachten, als an ein politisch durchdachtes Konzept. Auf mich hat er eine Anmutung, wie von linksliberal programmierten Algorithmen verfasst = 100%ig berechenbar. Er ist leider komplett frei von Gesellschaftsanalyse, von Triebkräften, seien sie ökonomisch oder anders motiviert, von Widersprüchen, Interessen und Träger*inne*n politischer Prozesse, die zusammengebracht oder konfrontiert werden müssten. Die Lektüre schockierte mich als Dokument des “gut gemeint”, aber allzu frei von intellektueller analytischer Anstrengung. Von Wissenschaft, der Widerspruch, Dazulernen, prozessual kontinuierlicher Erkenntnisgewinn innewohnen muss (“Der menschliche Erkenntnisprozess ist prinzipiell unabschliessbar”, Jungdemokraten, 1971), ganz zu schweigen. Wissenschaft ist komplizierter, als nur die Kenntnis der physikalischen Schwerkraft, oder der Plus- oder Minusbewegung von Infektionszahlen, die mann oder frau nur hinreichend missionarisch auf 0 wünschen muss. Dem biologisch hirnlosen Virus, das vermutlich schon vor uns auf dieser Welt war, wird es nicht schwerfallen, solch unterkomplexes Denken auszutricksen.
Jetzt habe ich selbst weit ausgeholt. War gar nicht meine Absicht. Ich möchte auf linke Kritik an ZeroCovid hinweisen. Die qualifizierteste, die mir bis heute Nacht unterkam, war die von Alex Demirović, einem Freund von Extradienst-Gastautor Dieter Bott, und Adorno-Schüler wie er: “Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist”, veröffentlicht bei “Analyse und Kritik”. Ich bemühe mich derzeit um die Nachveröffentlichung an dieser Stelle. Update 21.1.: das hat geklappt, hier ist er.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Annette

    Lieber Martin, ich halte die Forderung nach einem harten Lockdown gar nicht so falsch. Einen radikalen Schnitt machen, wie ich es schon vor einem Jahr gefordert habe – damit bin ich ja bei allen meinen Freunden abgeblitzt – macht dem Spuk vielleicht mal ein absehbares Ende. oder sollen wir auf den Frühling warten? Einen Krebs bekämpft man ja auch nicht, indem man immer noch mal ein Stückchen abschnippelt und wartet, bis was nachwächst. Ich neige ja eigentlich zu der Ansicht von Wolfgang Wodarg und den Schweden, aber warum sollte man es nicht mal auf die radikale Tour zumindest versuchen anstatt immer so halbherzig?

  2. Roland Appel

    Ich habe den Aufruf gelesen. Die Unterzeichner unterliegen dem tragischen Irrtum der zentralen Steuerbarkeit von Gesellschaften, sei es autoritär (China, Nordkorea) oder scheinbar freiwillig (Singapore, Südkorea). Das kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht klappen, weil der Denkansatz autoritär-techokratisch ist. Die gute, emanzipatorische Antwort wäre, wenn die politischen Entscheider zu differenzierten Modellen übergingen – ÖPNV nur noch mit Masken und doppelte Taktzeiten, echter Schutz mit Abstand und Masken in an allen Arbeitsplätzen, und Forschung und Aufklärung über Verhütungsmaßnahmen, welche funktionieren und welche nicht. Taxigutscheine für alle Patient*innen über 60, Schnelltests und FFP2 Masken kostenlos und für alle. Ausgangssperren sind zwecklos, wenn die Digitalisierung von Schulen, die Dänemark seit mindestens fünf Jahren verwirklicht hat, an der Engstirnigkeit von Schulbürokratie und Unwilligkeit von Lehrer*innen scheitert. Grundrechte sind unteilbar und können zwar eingeschränkt werden, wenn es kein milderes Mittel gibt. Aber die milderen Mittel werden zunehmend politisch liegengelassen und vermieden. Da fehte es der Kanzlerin – entschuldigung – an Kreativität und Phantasie.

    • Roland Appel

      Und den Unterzeichner*innen dieses Aufrufs auch.

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