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Der kulturelle Faktor

Sahra Wagenknecht macht symbolische Bedürfnisse verächtlich. Damit offenbart sie die kulturelle Achillesferse der politischen Linken.
„Man muß sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen“. An dieses Verdikt des sozialistischen Historikers Franz Mehring fühlt man sich erinnert bei der jüngsten Debatte um Sarah Wagenknecht.

Die Mischung aus Populismus und Häme, mit der die Linken-Politikerin argumentiert – geschenkt. Ihre Attacke belegt aber einmal mehr die groteske Missachtung dessen, was man den kulturellen Faktor nennen könnte – ein Kardinalfehler der Linken, nicht nur in der Partei ohne Sternchen, als die Wagenknecht Die Linke gern sähe.

Gegen ihr Zerrbild der Linksliberalen, gegen das Argument, Gender- und Sternchen seien Probleme der verwöhnten Gören der arrivierten Mittelschichten, ist schon genug eingewandt worden. Auch gegen die empathielose Herablassung, mit der sie real existierende Marginalisierte an den Katzentisch der „skurrilen Minderheiten“ verbannt. Der Kampf um nichtmaterielle Identitätsbedürfnisse wird keineswegs nur von Hafermilch-Trinker:innen mit von den Pro­fes­so­r:in­nen­el­tern finanzierter Eigentumswohnung und Greta-Aufkleber auf dem Tesla mit Sitzheizung in Prenzlauer Berg ausgefochten. Meist entstammen die Aufbegehrenden, die sich den Feldern von LGTIB+ oder People of Colour zurechnen, eher der prekären Subkultur.

Zwar mag manche Fraktionierung, die sich dort vollzieht, auch übertrieben und essenzialistisch sein. Dass es immer mehr werden, zeigt aber, dass das Aufbrechen der heteronormativen Zwangsjacke, das seit einigen Jahren in den Kulturen des Westens zu beobachten ist, einer bislang schwer vorstellbaren Vielfalt sexueller, ethnischer und kultureller Selbstverortungen endlich Raum und Sichtbarkeit gegeben hat.

Wenn Wagenknecht jetzt davon spricht, dass die Mehrzahl der Menschen sich „immer noch als Mann und Frau“ versteht, beruft sie sich auf eine verstaubte Spießermoral. Fast wundert es einen, dass sie nicht auch noch vor „Sodomiten“ gewarnt hat. Mit ihrer Wortwahl befestigt sie auch die Machtverhältnisse, auf denen diese Rollenverteilung in der Regel fußt.
Wechsel akzeptiert
Dass keineswegs nur Gender-Aktivist:innen darum kämpfen, Geschlechtervielfalt als Teil der menschlichen Kultur und Geschichte anzuerkennen, sondern auch Ethnolog:innen, scheint bei der Mutter Teresa der Proletarier aus Marzahn-Hellersdorf und Wanne-Eickel nie angekommen zu sein. Von Nordamerika über Indien bis Thailand fanden fanden Gen­der­for­sche­r:in­nen unzählige Varianten und Kombinationen „dritter“, „vierter“ und weiterer Geschlechter. Viele präkolumbianische Kulturen kannten mehr als zwanzig soziale Geschlechter. Die allesamt den institutionalisierten Wechsel von Geschlechterrollen akzeptierten.

Nur an der Oberfläche unserer Wahrnehmung besteht die Welt aus binären Gegensätzen: Himmel und Erde, Feuer und Wasser oder Mann und Frau. Sie wieder festschreiben zu wollen, zeugt von dem mangelnden Verständnis für die ins Fließen geratenen Übergänge zwischen diesen Polen. Sie zeugt auch von kolonialistischem Hochmut. Die Pathologisierung solcher Lebensformen kam mit den Eroberern aus dem Westen.

Vor allem negiert Wagenknecht, dass es neben der sozialen auch so etwas wie symbolische Ungerechtigkeit gibt. Denn diese bislang nicht bemerkten und im Alltag nicht bloß über die Gehaltshöhe, sondern auch auf dem sozialen „Bildschirm“ ausgeblendeten Identitäten haben ein Recht darauf, als solche angesprochen, dargestellt zu werden: Teilhabe ist nicht nur soziale und materielle Teilhabe, sondern auch symbolische.
Krise symbolischer Anerkennung
Das fängt bei der zu niedrigen Zahl von Frauen in den Parlamenten weltweit an und hört bei den genderneutralen Toiletten nicht auf. Es war auch lange „ungerecht“, dass es keine Nach­rich­ten­spre­che­r:in­nen mit Migrationshintergrund gab, obwohl die Gesellschaft, zu denen sie sprachen, längst nicht mehr biodeutsch aussah. Es war immer ungerecht, ja, es entsprach symbolischer Gewalt, Menschen mit einem Geschlechtsdispositiv zu bezeichnen, das ihnen nicht entspricht.

Es gibt also eine veritable Krise der symbolischen Anerkennung. Gerechte Repräsentation funktioniert in der postindustriellen, digitalisierten und durchvisualisierten Gesellschaft nun mal auch über den Schein: also über Sprache, Symbole, Zeichen, Chiffren. Womit wir bei der Kunst wären, die Franz Mehring abtat.

Sie sind nicht deswegen plötzlich zweitrangig oder bloß die (post)strukturalistische Marotte eines intellektuellen Geistesadels französischer Provenienz, weil sich die Klassenfrage – weniger martialisch ausgedrückt: die Schere zwischen Arm und Reich – derart zugespitzt hat. Und mit dem Nichtmateriellen, dem Schein haben (materialistische) Linke offenbar immer noch ihre Probleme.

Das symbolische und kulturelle Kapital, dieser von den Mechanismen in der Welt der „feinen Unterschiede“, also dem Feld, in dem symbolische Machtkämpfe ausgefochten werden, abgeleitete Begriff Pierre Bourdieus steht bei Klassenkämpfern noch immer unter dem Verdacht, den orthodoxen Kapitalbegriff aufzuweichen. Dabei reproduzieren sich Klassen, Pseu­doma­lo­che­r:in­nen vom Schlage Wagenknechts sei’s gesagt, nicht nur über Geld und Vermögen, sondern auch über die unsichtbaren Reichtümer: Geschmack, Manieren, Haltung. Auch bekannt unter dem Namen Habitus.

Mit diesem verkürzten Gesellschaftsbild ist kein alternativer Staat zu machen. Solange Linke aller Parteien kein Verständnis für diese kulturelle Dimension des „Klassenkampfes“ entwickeln, so lange wird die „Arbeiterklasse“, für die Wagenknecht zu kämpfen vorgibt, „ohnmächtig gegen diese erhabenen Mächte“ (Franz Mehring) bleiben.

Warum also nicht die materielle mit der symbolischen Emanzipation verknüpfen? Sie sind die zwei Seiten derselben Medaille des Kampfes gegen Unterdrückung in all ihren Manifestationen. So wie Sahra Wagenknecht das eine gegen das andere ausspielt, hinkt das nicht nur Lichtjahre dem Diskurs hinterher. Es ist ganz einfach dumm und reaktionär.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Wenn Sie lieber eine ökonomisch abgeleitete Wagenknecht-Kritik bevorzugen, die gibts z.B. hier:
    https://oxiblog.de/wagenknecht-zurueck-zum-guten-alten-kapitalismus/
    Und einen politisch und gewerkschaftlich gut durchdachten Vorschlag zur Güte – aus einer Industriegewerkschaft! – gibt es hier:
    https://www.fr.de/politik/fridays-for-future-gewerkschaft-radikale-realismus-hans-juergen-urban-90476440.html

  2. Helmut Luda

    Wenn Ingo Arend wie auch andere TAZisten sich regelmäßig und stetig forcierend an Frau Wagenknecht abarbeiten, ist dies allmählich eher öde wie intellektuell abgenutzt.

    Und wenn beispielsweise mittels einem aus dem Jahr 1979 stammenden Deutungsangebot, dem Hauptwerk von Pierre Bourdieu, was Arend vermutlich zu Studienzeiten, da seinerzeit wie vordem Elias als ein recht innovativer Diskurs gehandelt, versucht hat zu rezipieren – es ist tatsächlich recht interessant konfiguriert – gleichwohl seit längerem durch Beiträge von Beck, Liessmann, Nachtwey et. al. „überwunden“, der „Klassenkämpferin“ Wagenknecht die Fähigkeit zu der Distinktion versucht wird abzusprechen, funzelt die Leuchte der Erkenntnis höchstens trübe.

    Und wenn sich Arend zudem darin versteigt der „PseudomalocherIn“ Wagenknecht „Zerrbild, …empathielose Herablassung, …verstaubte Spießermoral, …kolonialistischem Hochmut und …„Sodomiten“-Warnungen …“ anzuhängen, wirkt dies extraordinär und überdies als psychoanalytisches Aufgabenfeld nicht uninteressant.

    Und wenn Arend zudem nicht ablässt, den oftmals als Antisemiten klassifizierten und heute kaum wirkungsmächtigen Franz Mehring als Zeuge seines Urteils heranzuziehen, dann wendet sich Ingo Arends letzter Satz summa summarum schlicht gegen ihn selbst:

    „Es ist ganz einfach dumm und reaktionär.“

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