Beueler-Extradienst

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Corona ist wieder da – und tötet.

Die Corona-Inzidenzzahlen steigen wieder an. Kein Wunder, denn noch sind 25-30% der Bevölkerung nicht gegen Corona geimpft. Über 39.676 Neuinfektionen – der Rekord seit Entstehen der Corona-Krise. In Bayern  und in ostdeutschen Ländern stehen die Zeichen auf Sturm, in Landsberg etwa sind alle Intensivbetten mit Corona-Patient*inn*en belegt. Aber auch der Kölsche Karnevalsprinz ist am 11.11.21 – obwohl zweimal geimpft – auf Corona positiv getestet worden. Gleichzeitig fehlen bundesweit 4.000 Intensivbetten, weil das Klinikpersonal nach den ersten Wellen gekündigt hat. Seit 2020 hat sich Entscheidendes geändert: Es gibt wirksame Impfungen. Das ändert auch für die Pflegenden die Situation. Gleichzeitig ist klar, dass 95% der Intensivplätze von Ungeimpften belegt sind. Die Pflegenden werden zunehmend genervt und wütend. Schon wieder müssen dringend notwendige Operationen verschoben werden, verschieben ihrerseits Patienten Untersuchungen oder Behandlungen, weil sie Risiken in Kliniken fürchten.

Zumutung für die Pflegenden

Gute Freund*innen, die als Physiotherapeuten in Lungenkliniken – in Köln und im Allgäu – arbeiten, berichten in diesen Tagen ähnliches. Die Intensivstationen füllen sich, schon wieder müssen Krebs- oder Herzoperationen verschoben werden, weil Corona-Kranke die Intensivstationen blockieren. Nahezu alle Corona-Patient*innen, die auf Intensiv liegen, sind ungeimpft. Nicht wenige Pflegekräfte sind stinksauer, dass ihre Patiienten in ihren Augen diesen Aufenthalt hätten vermeiden können. Sie müssen professionell den inneren Impuls der Häme und Schadenfreude überwinden. Das Wissen darum verstärkt den ohnehin vorhandenen Stress bei Pflegekräften zusätzlich und bringt Kollegen zur Aufgabe.

Impfung keine individuelle Entscheidung

Wer das weiss, kommt nicht umhin,  zu erkennen, dass Aussagen wie die von Sahra Wagenknecht, die Entscheidung, sich impfen zu lassen, sei eine ausschliesslich individuelle Entscheidung, absurd sind. Für eine Marxistin nebenbei völlig daneben. Wer sich etwa als Mitarbeiter*in in der Altenpflege nicht impfen lässt, nimmt in Kauf, das Virus an vulnerable Gruppen weiterzugeben. Dass in Einzelfällen bis zu 50% der Beschäftigten in Altenheimen nicht geimpft sind, ist ein skandalös asoziales Verhalten. – Ein Spiel mit dem Leben vulnerabler Menschen, das in einigen  Altenheimen vor allem in Ostdeutschland 2021 bereits wieder Leben gekostet hat. Es ist schon erstaunlich, mit welcher inkonsequenten Scheintoleranz Teile der Politik auf dieses verantwortungslose Verhalten einer kleinen Gruppe von Pflegekräften reagieren und weiterhin jede Verpflichtung von Pflegepersonal in der Altenhilfe zur Impfung ablehnen. Es scheint so zu sein, dass insbesondere die privaten Pflegedienste, die mit schlecht bezahlten Mitarbeiter*innen, dafür aber um so höheren Renditen (laut “Frontal 21” bis zu 18% gegenüber 4,5% bei staatlichen Trägern) befürchten, dass ihnen dann die Pflegekräfte weglaufen. Wenn Jens Spahn und Hendrik Wüst die Impfpflicht ablehnen, haben sie wohl mehr die Interessen der privaten Träger, als die der Altenheiminsassen im Blick.

Die Relevanz der angeblichen “Langzeitfolgen”

Das Gegenargument der einigermaßen seriösen Impfskeptiker ist, die Folgen der Impfung, insbesondere eventuelle Langzeitfolgen seien eben nicht erforscht und nicht absehbar. Das stimmt auf den ersten Blick, hält angesichts der realen Erfahrungen mit Impfungen aber keiner rationalen Betrachtung stand.  Bei inzwischen sieben Milliarden verabreichten Impfdosen kann von Mangel an Erprobung wohl keine Rede mehr sein. Ja, es sterben in ganz seltenen Fällen Menschen nach der Impfung. Ja, es gibt mit den Herzmuskelentzündungen und Thrombosen in ebenfalls relativ seltenen Fällen gefährliche Nebenwirkungen der Impfung bei bestimmten Impfstoffen. Das Paul-Ehrlich-Institut veröffentlicht dazu regelmäßig Risikoberichte, die öffentlich zugänglich sind. Aber es gibt so gut wie keine  belastbaren Daten über angebliche “Langzeitschäden” von Impfungen. Es gibt – insbesondere bei Impfungen, die gegen Infektionen der Tropen immunisieren sollen – allergische Reaktionen, Unverträglichkeiten, Schocks, aber die Mehrzehl tritt sofort oder zeitnah nach der Impfung auf. Dass jemandem zehn Jahre nach der Impfung mit MRNA-Impfstoff ein zweiter Kopf oder ein drittes Bein wächst, ist etwa so wahrscheinlich, wie die Gefahr, von den Borg assimiliert zu werden.

Ein übersteigerter, abwegiger Sensibilitätsbegriff

Impfverweigerer, die derzeit auf den Intensivstationen liegen, hätten sich vor den Nachteilen einer Corona-Intensivbehandlung schützen können, deren Überlebenschance nach wie vor bei 50% liegt. Dieses Todesrisiko wird selbst von manchen seriösen Impfkritiker*inne*n  gegen eine vergleichsweise lächerliche Freiheitseinschränkung  aufgerechnet. So begründete etwa dieser Tage die Buchautorin Svenja Flaßpöhler (“Sensibilität”) – bei “Lanz” – ihre Bedenken folgendermaßen: Die Impfung ihrer Kinder über 12 – medizinisch empfohlen – begründet die “Philosophin”, als Zumutung, sie sei ein “Eingriff in die Sebstbestimmung über den eigenen Körper” und Jugendliche seien während der Pubertät so vielen Veränderungen ausgesetzt – dann auch noch einer Impfung? Das lehnt sie ab.

Frau Flaßpöhler möchte ich folgendes entgegensetzen: ich habe zu Beginn meiner Pubertät mit 12 Jahren eine massive Maserninfektion durchgemacht – vier Wochen “out of Order”, übelste Fieberschübe, tagelang halbe Bewußtlosigkeit, Apathie, Schmerzen und nach der Genesung den Anschluss an Latein und Mathe in der Schule verpasst – fünfer, sechser und Sitzenbleiben – was hätte ich für eine Impfung gegeben! Mit 14 Jahren Mumps – übelste Schmerzen, Schwellungen, Angst vor Komplikationen (Unfruchtbarkeit), wieder vier Wochen Auszeit und nur, weil ich beim Wechsel von NRW nach Baden-Württemberg nochmal eine Klasse wiederholt habe, hielt sich der schulische Lernschaden in Grenzen. Wie gerne hätte ich mich Impfen lassen! Ich wäre für den kleinen “Eingriff in die körperliche Integrität” dankbar gewesen, die mir diese Leiden und viel brutalere Eingriffe in meine körperliche Integrität erspart hätte. Und dies obwohl oder weil ich mich damals aufgrund unserer Geschichte schon intensiv für Grund- und Verfassungsrechte interessiert habe.

Das völlige Verwimmen von Maßstäben

Aber was geht in “modernen” Eltern wie Frau Flaßpöhler vor, die derartige Grausamkeiten inclusive “Corona” ihren Kindern lieber zumuten, anstatt sie davor zu beschützen? Was ist das für eine vorgebliche “Sensibilität”? Welche Maßstäbe sind hier offensichtlich voillkommen ins Rutschen geraten? Ich rede nicht von Schwurblern und ideologisch vernagelten Impfgegnern der Neonazi- AfD- oder QAnon-Szene, oder Hardcore-Esoterikern, sondern von vernünftigen Mittelschichtangehörigen vielleicht mit einer gewissen Offenheit zur Alternativmedizin oder Homöopathie, die ich durchaus teile. Auch ich habe Freund*innen, die keine Impfgegner sind, die aber nach eigenem Bekenntnis “gesundes Misstrauen” gegenüber den M-RNA Impfstoffen pflegen. Sie wollen wie Fußballklopper Josuah Kimmich auf den “Totimpfstoff” warten. Der “Totimpfstoff” ist ein konservatives Produkt, das z.B. in China von Sinovac hergestellt wird, aber nur etwa 50% Schutz vor Corona bietet. Derartige Impfstoffe werden auch im Westen entwickelt, sind noch nicht gestestet und marktreif und noch nicht zugelassen, werden es wohl frühestens 2022 sein. Also lassen sie sich (noch) nicht impfen.

Elitär, egoistisch oder asozial?

Ich kann diese Haltung tolerieren, sofern diese Personen sich selbst schützen und Einschränkungen in Kauf nehmen. Was ich nicht akzeptieren kann, sind Beschwerden derjenigen, die so für sich entschieden haben, etwa die G2 Regeln zu kritisieren oder zu  bejammern. Wenn die Annahme zutrifft, dass nur ein Impfquote von etwa 80% plus gesellschaftliche Sicherheit vor der Ausbreitung des Virus schafft, ist die Entscheidung, sich nicht in Impfen zu lassen, keine individuelle Entscheidung mehr. Sie betrifft das Gemeinwesen, das soziale Umfeld und beweist auf drastische Weise, dass wir keine Ansammlung von individuen, sondern ein soziales Gefüge sind. Auch wenn das in Zeiten des Neoliberalismus unmodern geworden sein mag.

Der Staat sind wir und wir sind gefragt!

Für die demokratische Gesellschaft, die wir sind, bedeutet das, Verantwortung für unser Gemeinwesen zu übernehmen, egal, was einzelne Egoisten für sich entscheiden. Das Gemeinwohl der Gesellschaft ist es, das es rechtfertigt, dass Grundrechte Einzelner eingeschränkt werden, um die Grundrechte der Mehrheit zu schützen. Es gibt kein Grundrecht auf Gefährdung der Mehrheit durch die Selbstbespiegelung einer elitärer Minderheit, keine Privilegierung sebsternannter mehr oder weniger militanter Dissidenten angesichts einer für alle Menschen lebensbedrohenden Gefahr, gegen die es einen wissenschaftlich erwiesenen Schutz gibt – die Impfung. Und dies auch, wenn dieser Schutz relativ und nicht absolut sein sollte. Auch dann hat der Staat eine Garantenstellung zum Schutz seiner Bürger*innen, die es durchzusetzen gilt, um konkret das Grundrecht auf Leben und körperliche  Unversehrtheit durchzusetzen.  Der liberale Rechtsstaat des Grundgesetzes verlangt vom Gesetzgeber, dem Parlament, dass es gerechte und grundrechtsschützende Gesetze beschließt – das bedeutet etwa, dass natürlich Mitarbeiter in der Altenpflege gesetzlich verpflichtet werden können, sich impfen zu lassen, wie in anderen Heilberufen auch. Und der Staat hat noch weitergehende Pflichten: So wie vor jeder Schule oder Kita 30 km/h angeordnet und auch geblitzt werden kann, können Impfverweigerer im Gesundheitssystem, öffentlichen Dienst, Verwaltung und Schule oder Pflege verpflichtet werden, sich impfen zu lassen. Es wird Zeit, dass die Politik sich traut, Impfpflicht zumindest für Personal mit intensivem Kontakt, also Pflegepersonal, Polizei, Kita-Betreuer*innen und Lehrpersonen, Menschen in Publikumsintensiven Bereichen wie Bürgerämtern oder der Arbeitsagentur gesetzlich umzusetzen.

Bonner Impf- und Infektionzahlen hier: vollständig geimpft knapp 80%.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Stefan Overkamp

    Ich bin immer wieder erstaunt, dass ansonsten klare Analytiker beim Thema Corona so teils abwegige Vorstellungen äußern.
    Der Vergleich der Kinder- und Jugendkrankheiten des Autors (Masern und Mumps) mit der Betroffenheit der unter 18 Jährigen von Covid19 ist (wie die Zahlen zeigen) völlig unpassend. (z.B. Roland Berger: https://www.nachdenkseiten.de/?p=77796)
    Ich weiß ja nicht, ob Frau Flaßpöhler ihre Kinder auch nicht gegen Kinderkrankheiten impfen lassen will. Dass sie es bei Corona nicht will, ist angesichts der sehr geringen Betroffenheit dieser Altersgruppe nachvollziehbar bzw. zumindest hinzunehmen.
    Auch Mitglieder der STIKO fragen sich, ob das Durchmachen einer Infektion in Altersgruppen, die nur ein extrem geringes Risiko für einen schweren Verlauf haben, nicht sogar ein Vorteil (breitere und stabilere Immunantwort) wäre.

    • Roland Appel

      Das Gegenteil ist der Fall. Frau Flaßpöhler begründete die Nichtimpfung von Jugendlichen ja nicht mit einer durchaus diskussionswürdigen statistischen Risiko/Nutzenabwägung, sondern allein mit dem “Schutz vor Fremdeingriffen in die körperliche Unversehrtheit” und steht damit idealtypisch für eine einen erheblichen Teil der Bedenkenträger*innen aus dem homöopatisch – alternativmedizinisch – esoterisch angehauchten Bildungsbürgertum, von dem durchaus zahlreiche ja zumindest in der Vergangenheit den Grünen nahe standen. Genau dort ist aber eine übersteigerte Scheinsensibilität, beser: Ichbezogenheit, gang und gäbe, die den Aspekt der sozialen Verantwortung völlig außer acht lässt. Dieses Verhalten prägte genau – und insofern sind meine Beispiele eben nicht abwegig – die Diskussion um die Masern-Impfpflicht, wo genau diese Eltern bereit waren und z.T. heute noch sind, ihren Kindern gefährliche Infektionen mit allen Nebenwirkungen eher zuzumuten, als eine Impfung, der alle möglichen “Nebenwirkungen” (“das Kind ist seit der Impfung psychisch schwer geschädigt” – so ein Kinderarzt im ZDF) angedichtet werden. Ich bin sehr für Sensibilität – aber dann auch im Sozialverhalten.

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