Beueler-Extradienst

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Unter medialem Trommelfeuer

Der Auftritt des Ukrainischen Präsidenten Selenskij vor dem Deutschen Bundestag am Donnerstag Vormittag geriet zu einem kommunikativen Desaster für die Bundesregierung und das Parlament. Ein Medienprofi an der Spitze des überfallenen Landes spielt auf dem Klavier der Medien, einem Metier, das er als Produzent und Schauspieler beherrscht, wie kein anderer. Er spielt mit den Politikprofis in der Bundeshauptstadt und der Politikbetrieb der Profis war nicht in der Lage, darauf adäquat zu reagieren.

Vom Produzenten und Schauspieler düpiert

Dass Selenskij ein Meister darin ist, vor den Parlamenten der Länder an die Traditionen oder wunden Punkte der Angesprochenen zu appellieren und gleichzeitig mit der Chuzpe des Opfers massive Kritik auszuteilen und auch zum Teil illusorische Forderungen wie die Flugverbotszone zu stellen, sollte bekannt sein. Er hat das vor dem Europaparlament und den beiden Häusern des US-Kongresses bewiesen. Berlin hätte deshalb wissen können, was passieren wird. Die sofortige Reaktion des Kanzlers wäre deshalb wünschbar gewesen. Das Argument, die Tagesordnung des Bundestages hätte eine lang angekündigte Debatte zur Covid 19 Impfpflicht vorgegeben, ist ein schwaches Argument, die von der CDU provozierte Geschäftsordnungsdebatte nach den “Standing Ovations” für Selenskij wirkte eher peinlich. Bundeskanzler Scholz selbst hätte einen Weg aus diesem Dilemma weisen können. Denn der Bundeskanzler oder Bundesminister*innen können nach § 43 Geschäftsordnung des Bundestages jederzeit das Wort verlangen. Und selbst wenn er dies zu Beginn der Debatte um die Impfpflicht getan hätte, wäre keine Bundestagspräsidentin so unklug gewesen, ihn zu ermahnen, zur Sache zu sprechen.

Chance verpasst

Er hätte sich unverzüglich melden und in einer kurzen Rede reagieren müssen, um Selenskij zu danken, aber auch darzustellen, was die Bundesrepublik bereits macht, dass er manche Kritik an die alte Bundesregierung richtet und dass an neuen Sanktionen gearbeitet wird, die mit Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit dieses Landes sorgfältig abgewogen und vorausschauend geplant werden. Und dass eine Flugverbotszone einen Eintritt in den Krieg gegen Russland und die Gefahr einer atomaren Eskalation in einen 3. Weltkrieg bedeuten würde, die keine Regierung der NATO verantwortlich eingehen kann. Er hätte erklären können, dass er deshalb jetzt zur Besprechung mit dem NATO-Generalsekretär geht, um weitere Schritte im Bündnis zu erörtern. Und er hätte souverän darauf verweisen können, dass die Regierung handelt und man die Schritte gerne – wie am Vorabend bereits erfolgt – in Kürze wieder im Parlament diskutieren wird, wenn sie spruchreif sind. Dass er genau zwei Stunden später gemeinsam mit Jens Stoltenberg vor die Presse trat, war richtig, aber von weniger spektakulärer medialer Wirkung – es war nur “altmodische” Politik.

Medien verändern Politik in diesem Krieg

Gerade dieses Beispiel zeigt, dass die derzeitige Politik in besonderer Weise unter medialem Einfluss steht, der zum Teil populistische Züge annimmt. Um so wichtiger ist es, dass sich diese Politik klug ihre Handlungsspielräume erhält. Nicht jeder Schritt, schon gar nicht jede Waffenlieferung, die von Russland auch als Kriegsbeteiligung angesehen werden kann, darf und sollte öffentlich in den Medien behandelt werden. Zum Schutz der militärischen Geheimnisse und zum Schutz derjenigen, die solche Hilfseinsätze durchführen. Die Erklärung von 27 US-amerikanischen “Experten”, darunter der ehemalige Botschafter, John Kornblum, zugunsten einer weitergehenden Flugverbotszone sind ein gefährliches Beispiel für Harakiri-Aktionen alter Männer der prä-Mediengesellschaft im Angesicht der atomaren Bedrohung unter dem Druck medialer Auftritte wie denen Selenkijs.

Politik braucht Grenzen der öffentlichen Aushandlung

Ein Beispiel für genau diesen Mechanismus bot gestern die noch ausgewogenste der bekannten Politiksimulationen bei Maybritt Illner, krankheitsbedingt unter Leitung von Theo Koll. Wirtschaftsminister Robert Habeck, zu Beginn live zugeschaltet, konnte und wollte eben nicht bereits das nächste Handlungs- und Sanktionenpaket auf offenem Kanal breit treten, weil es die Regierung noch nicht beschlossen hat. Auf die Frage Kolls an den anwesenden ukrainischen Botschafter Melnyk, wann denn die Grenze von Opferzahlen erreicht sei, Widerstand um jeden Preis zu leisten, reagierte dieser aggresiv dahingehend, dass sich sein Land weder von Deutschland noch von anderen westlichen Ländern sagen lassen wird, wann es zu kapitulieren habe. Sie werden auf keinen Fall kapitulieren.

Kein repressionfreier Raum

Was bitte, will man von einem Botschafter erwarten, der wissen muss, dass die russische Botschaft in Berlin zuschaut?  Auch die Diskussion um den EU-Beitritt wurde durch die Anwesenheit des ukrainischen Botschafters nicht besser. Alle Diskutanten taten sich schwer,  zu beantworten, inwieweit sie sich zwangsläufig zur Frage des “Frierens für den Frieden” verhalten würden. Klar war aber auch, dass Wirtschaftsminister Habeck andere Prioritäten setzen muss, als die Ukraine, weil es seine Aufgabe ist, Schaden von der deutschen Gesellschaft abzuwenden.

Sicherheits- und Verhandlungsfragen sind nichts für den offenen Markt

Auch bei der Frage der Sicherheitsgarantien für ein mögliches Ergebnis eines noch nicht in Aussicht stehenden Friedensabkommens erwiesen sich die Gesprächsteilnehmer*innen als von sich aus zurückhaltend. Dies müsse ausschließlich die Ukraine beurteilen und spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass die Besprechung und Gestaltung von politischen Prozessen in und über Medien nicht möglich ist und deshalb kein Weg sein kann, Politik und politisches Handeln zu ersetzen.

Vom zivilisierten “Illner” zum aggresiven “Lanz”

Wer am gleichen Abend noch “Lanz” gesehen hat, musste nicht nur angesichts des demagogischen Versuchs des Moderators mit dem Kopf schütteln, Bundesentwicklungsministerin Schulze und mit ihr die SPD demagogisch zu diffamieren, zunächst mit der Frage nach der Reaktion des Parlaments auf den Auftritt Selenskijs, dann mit Schröders Rolle, mit Wolfgang Clement und anderen Sozialdemokraten, die in der Energiewirtschaft tätig waren. Lanz leistete ein Gesellenstück reaktionärer Moderatorenpolitik im Windschatten des Krieges ab, instrumentalisierte die Rede Selenskijs jenseits jeder Solidarität mit der Ukraine, um die Gelegenheit ausschließlich zum innenpolitischen Bashing der Bundesregierung und insbesondere der SPD zu nutzen. Peinlich und traurig – aber ein Grund mehr, um über die Verantwortung und Folgen und den fragwürdigen Wert derartiger Politiksimulationen nachzudenken.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

9 Kommentare

  1. Helmut Lorscheid

    Lieber Roland,
    soweit ich weiß, waren Reden ausländischer Staatsoberhäupter meistens kein Teil einer Plenarsitzung, sondern wurden zu einer Extra-Veranstaltung über die es auch ein gesondertes Protokoll gab. Bei Reagan in Bonn war es beispielsweise so, dass auch die Sitzordnung des Parlaments nicht mehr galt. Dies haben damals – zu meiner Freunde – die Abgeordneten Manfred Coppik und Karl-Heinz Hansen dafür genutzt, ihre mitgebrachten Campingstühle mal da und mal dort hinzustellen und mit Gähnen und Dehnungsübungen der Arme ihr Desinteresse an der Rede dieses Staatsverbrechers kund zu tun.
    Das es keine Aussprache nach den Reden von Staatsoberhäuptern und Regierungschefs gibt und meiner Erinnerung auch nie gab – ist also üblich und nichts besonderes. Die Aufregung darüber, dass es bei diesem Herrn jetzt auch so war, ist also substanzlos und anlassfrei.

    • Roland Appel

      Du ignorierst die Dramaturgie und ihre Wirkung, lieber Helmut, aber das hilft nicht. Formal hast Du völlig recht, aber Politik vermittelt sich inzwischen leider über Symbolik und Effekte. Ich habe ja bewusst nicht dem durchsichtigen Manöver des Sauerländers zugestimmt, sondern nur einen Weg aufgezeigt, unter den Bedingungen der Mediendemokratie sich auf solche Situationen einzustellen und geschickter zu kontern. Denn es ist wirklich essenziell, eine Flugverbotszone klar als das zu bezeichnen, was sie wäre, ein Eintritt der NATO in den Krieg – und die Gefahr der Eskalation mit atomaren Waffen. Selbst journalistische Profis haben das ja noch nicht verstanden.

    • Klaus Kohlwey

      Ich erinnere mich an den üblichen und substanzlosen Besuch von Reagan, doch erinnere ich mich nicht an eine Bombardierung von Washington, während er etwa zum Bundestag sprach. Derartige Symbole und Effekte konnte sich damals noch niemand ausdenken.

  2. Helmut Lorscheid

    Ist der Bundestag ein halbwegs ernst zu nehmendes Parlament, welches seine Arbeit macht oder eine Showbude deren Verhalten sich nach den Bedürfnissen von Quasselsendungen richtet. Ich kenne weder Illner noch Lanz, habe sie nie gesehen und werde mir diesen Unsinn auch nie anschauen.

  3. Reinhard Olschanski

    „Chuzpe des Opfers“??!!

    „Ein Medienprofi an der Spitze des überfallenen Landes spielt auf dem Klavier der Medien, einem Metier, das er als Produzent und Schauspieler beherrscht, wie kein anderer.“

    „Dass Selenskij ein Meister darin ist, vor den Parlamenten der Länder an die Traditionen oder wunden Punkte der Angesprochenen zu appellieren und gleichzeitig mit der Chuzpe des Opfers massive Kritik auszuteilen und auch zum Teil illusorische Forderungen wie die Flugverbotszone zu stellen, sollte bekannt sein.“

    Vielleicht ist Selenski – neben allem anderen, was er sonst noch ist – vor allem erst einmal Präsident eines Landes, das Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs ist? Und ein Mann, der die fatale Russland/Ukraine-Politik von Merkel/Scholz/Schröder in den letzten Jahren sehr genau beobachtet hat?

    • Roland Appel

      Lieber Reinhard,
      Wlodomir Selenskij ist ein bewundernswerter Charismatiker, ein Held, das meine ich ernst. Und wären wir an seiner Stelle, würden wir ebenso einen militärischen Akt der UNO, der NATO, von wem auch immer verlangen, um unser Land gegen den Verbrecher Putin zu unterstützen und Menschen zu retten. Aber er weiss als Präsident auch, dass die Flugverbotszone, die er fordert, der Eintritt des Westens in den 3. Weltkrieg mit der Gefahr der atomaren Eskalation bedeutet. Dass er sie trotzdem fodert, nenne ich Chuzpe, im besten jiddischen Sinn, bei dem immer auch Bewunderung mitschwingt. Er muss wissen, dass die NATO nein sagen muss, gleichwohl wirkt er auf unsere demokratische Öffentlichkeit ein. Doch unsere Politiker Scholz, Macron und Biden dürfen in unserem existenziellen Interesse, einen Atomkrieg zu vermeiden, darauf nicht eingehen. Das ist brutal, aber wahr und ehrlich.
      Und es ist wohlfeil, im Nachhinein zu behaupten, wer auch immer hätte es besser wissen können – nicht nur ich und viele andere haben sich zugegebenermassen in Putin und Russland geirrt – aber ich würde mich hüten, Schröder, Merkel und Scholz in einem Atemzug zu nennen. Auch unter Kriegsbedingungen müssen wir alle klaren Kopf bewahren und differenziert urteilen.

  4. Maria Heider

    Liebe Herren, (leider ist das Extrablatt ja eine Männerdomäne…aber das ist eine andere Debatte),
    Ich stimme Roland zu. Ich hätte mir eine professionelle und staatsadäquate Reaktion des Bundeskanzlers, aber gerne auch der amtierenden Bundestagsvizepräsidentin gewünscht als hohles Schweigen und peinlich Geburtstagswünsche! Das ändert nichts daran, dass unsere Regierung dazu verpflichtet ist, Schaden vom Deutschland abzuwenden und dass ich denke, abgesehen vom manch peinlichem Auftritt tun sie das offenbar auch hinter verschlossenen Türen ganz gut im Moment. Ich bin täglich erschreckt über das auch in meiner Partei von einigen gepflegte Kriegsgeschrei und ich könnte manche Medien mehrmals täglich gegen die Wand klatschen! Ich wünsche mir nichts mehr als hoffentlich bald ein Schweigen der Waffen und ein Ende der Angst und des Schreckens für die Menschen in der Ukraine! Und dass wir tatkräftig das Land wieder aufbauen können (aber bitte vorsichtig mit leeren Versprechungen sind wie rascher EU-Beitritt) und lieber über Millionen der Hilfe als über Millionen für Waffen streiten.
    Und ich wünsche mir sehnlichst, dass die Frauen in Russland sich an Brecht erinnern: und als der nächste Krieg begann, da sagten die Frauen „Nein“.
    Ich wünsche Euch allen, genießt denFrieden und die Sonne hier im Land, bleibt gesund oder erholt Euch rasch! Liebe Grüsse

    • Klaus Kohlwey

      Ich teile alle ihre Wünsche, Frau Heider und danke ihnen dafür.

  5. Gernot G. Herrmann

    Lieber Roland, ich kann keinen “Helden” in Selenskij erkennen. Ein Mann, der seit Beginn des Krieges in NATO-Oliv auftritt, der Sprüche vom letzten Blutstropfen klopft, der Russland “unermesslichen Schaden” androht und der den dritten, den atomaren Weltkrieg herbeiredet, der ist nichts anderes als ein Kriegstreiber. Das sage ich vor dem Hintergrund, dass ich Putin für einen Verbrecher halte, der einen völkerrechtswidrigen Krieg führt.
    Aber, wer verbietet uns denn anders als militärisch zu denken. Wer glaubt denn wirklich, dass die Ukraine von der ukrainischen Armee gegen Putin zu verteidigen ist.
    Was wäre denn gewesen, wenn Selenski mit seiner Regierung tatsächlich ins Exil gegangen wäre? Hätte das die NATO-Staaten davon abgehalten, ihre Rüstungsausgaben aufzustocken, ihre Sanktionen zu beschließen, amerikanisches Frackingas zu kaufen, F 35 Flugzeuge für 135 Mio pro Stück in USA zu kaufen. Nein, das hätte alles weiter geschehen können (außer der Lieferung von NVA-Schrott an die Ukraine).
    Aber tausende von Menschen, in erster Linie junge Männer und Zivilisten und Zivilistinnen, würden noch leben. Tausende hätten noch eine Wohnung und ein funktionierendes Krankenhaus. Jawohl, zum Preis von Unterdrückung, wie wir sie in Russland jeden Tag beobachten können. Wer´s literarisch will, sollte die Keuner Geschichte von Brecht “Maßnahmen gegen die Gewalt” lesen.
    Vielleicht finden sich ja im angekündigten Sicherheitskonzept der Bundesregierung Hinweise auf zivile gewaltfreie Verteidigungsstrategien. Im Koalitionsvertrag habe ich sie nicht gefunden.

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