Beueler-Extradienst

Meldungen und Meinungen aus Beuel und der Welt

Die falsche Konsequenz

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – Die alleinige Stärkung der deutschen Streitkräfte ist viel zu defensiv gedacht. Ja, die deutsche Sicherheitspolitik muss ihren Weitblick wiedergewinnen.

Putins mörderischer Angriffskrieg auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch nicht durch Fehler, die der Westen begangen hat. Es ist aber fatal, wenn mit Verweis auf Putins Verbrechen hier jede tiefergehende Analyse verweigert und nur mangelnde Wehrhaftigkeit festgestellt wird. Pläne zur raschen Aufrüstung werden aktuell nicht nur von sicherheitspolitischen Traditionalisten als überfällige Zeitenwende bejubelt. Doch sind 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr, grundgesetzlich abgesichert, wirklich die richtige Antwort auf Putins Aggression?

Keine Frage, die Bundeswehr konnte in der Vergangenheit ihre Aufgaben bei internationalen Friedenseinsätzen nur mit Mühe erfüllen. Es fehlte an vielem. Das Beschaffungswesen ist in Bürokratie erstarrt. Es gibt einen objektiven Nachholbedarf. Wenn SoldatInnen in schwierige Einsätze entsandt werden, müssen sie bestens ausgerüstet sein. Und die Einsatzregeln sollten entrümpelt werden. Es ist einfach absurd, dass etwa SoldatInnen im Einsatzfahrzeug sich entsprechend der deutschen Straßenverkehrsordnung anschnallen müssen, sodass sie unter Beschuss nicht schnell genug rauskommen können. Es liegt vieles im Argen, nicht nur das Finanzielle.

Die 100 Milliarden sind ein politischer Reflex auf den Ukraine-Krieg. Wem helfen sie? Selbst wenn die Bundeswehr optimal ausgerüstet und geführt wäre – im Ukraine-Krieg hat sie nichts zu suchen. Jedes manifeste Eingreifen von Nato-Staaten hätte mit großer Wahrscheinlichkeit den Dritten Weltkrieg zur Folge. Wer besitzt die Eskalationsdominanz, wer könnte den Konflikt eingrenzen auf konventionelle Waffen? Die Gefahr, dass nukleare Gefechtsfeldwaffen eingesetzt würden, wäre groß. Die militärische Logik führt dann leicht zu atomaren Mittelstreckenraketen und zum finalen Schlag. Eine solche Zuspitzung würden wir nicht überleben. Der militärischen Beistandsbereitschaft sind Grenzen gesetzt.

Unter Merkel wurde nur auf Sicht gefahren

Wenn selbst eine einsatzfähige Bundeswehr im Ukraine-Krieg nichts ausrichten könnte, welche Funktion hat sie dann? Abschreckung? Auf der konventionellen Ebene ist die Nato bereits jetzt Russland haushoch überlegen. Diese Selbstgewissheit hat die Konfliktdynamik um die Ukraine eher befeuert. Sie schien den Westen von der Verpflichtung zu entbinden, genau zu beobachten, was die andere Seite als Bedrohung empfindet. Der Westen hätte im Sinne des friedlichen Zusammenlebens der Völker, das vom Völkerrecht gefordert wird, proaktiv an einer Deeskalation arbeiten müssen. Nicht mangelnde Schlagkraft der Bundeswehr war das Problem der letzten Jahre, sondern das Fehlen einer vorausschauenden und aktiven Außenpolitik im Sinne der Krisenprävention.

Krisenprävention hat die Aufgabe, genau hinzuschauen, wo sich Probleme aufschaukeln und zu bewaffneten Konflikten zuspitzen könnten und frühzeitig Verhandlungen über eine zivile Konfliktlösung einzuleiten. Nur wenn ernsthafte Versuche der friedlichen Streitbeilegung nachweislich scheitern, kommt das Militär ins Spiel. Dieser Ansatz, der den Primat des Politischen über das Militärische betont, wurde unter Rot-Grün 1998 zu einem sicherheitspolitischen Markenzeichen. Unter Merkels Führung wurde danach hingegen „auf Sicht gefahren“, statt alle Antennen auf die im Nebel liegende Zukunft auszurichten. Es wurde an der Dominanz der Nato gearbeitet und die in der Charta von Paris 1990 vertraglich vereinbARTE gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung vergessen.

Heute sind wir mit dem Dilemma konfrontiert, welches Kritiker der Nato-Erweiterung seit Mitte der 1990er-Jahre vorausgesagt haben. Der Sicherheitsgewinn für einige Beitrittsstaaten führte zu einem verstärkten Bedrohungsgefühl bei Nichtmitgliedern. Nicht nur in der Ukraine, auch in Russland. Was ist ausschlaggebend für ein solches Gefühl? Die „Absichten“, die ein anderer Staat formuliert, oder seine „objektiven militärischen Kapazitäten“? Die Nato argumentierte mit ihren „guten Absichten“, ließ entsprechende russische Versicherungen aber nicht gelten. Russische Befürchtungen wurden selbst dann nicht ernst genommen, als sich unter George W. Bush in den USA Kräfte durchgesetzt hatten, die statt einer Modernisierungspartnerschaft die endgültige Niederschlagung russischer Geltungsansprüche verfolgten, auch mit militärstrategischen Mitteln.

Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok wäre Lösung gewesen

Die Lösung wäre die Integration aller Parteien in eine europäisch-transatlantische Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok gewesen. Die Verschränkung von Kommandostrukturen hätte eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit geschaffen. Ein Krieg um die Ukraine hätte nicht stattfinden können. Und vielleicht hätte Putin sich dann nicht vom westlich orientierten Modernisierer zum Faschisten gewandelt.

Nato und Bundeswehr können vor militärischen Angriffen schützen, aber nicht die westlichen Werte exportieren. Trotz aller Kritik an ihrer unzureichenden Umsetzung kann der Westen stolz sein auf seine Werte wie Freiheit, Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Doch diese werden herausgefordert von neuen starken Akteuren auf der Weltbühne, die andere Ideen zum Zusammenleben der Menschen vertreten, darunter autoritäre, despotische, faschistische.

Menschenrechte sind universell, werden aber regional unterschiedlich interpretiert. Der Westen hält es für angebracht, andere Länder zu bewerten, Abstände zu seinen eigenen Normen zu messen, Noten zu verteilen, öffentlich anzuklagen und zu sanktionieren, um sie in einer Art Verhaltenstherapie zum Besseren zu bekehren. Meist bleibt der Versuch erfolglos. Soll dann etwa die Bundeswehr Menschenrechte durchsetzen?

Ein willkommenes, zugleich vergiftetes Geschenk

Unsere Sicherheitspolitik muss früher und breiter ansetzen. Wir machen unsere Werte für andere Länder und Völker nur dann attraktiv, wenn diese spüren, dass mit ihnen auch eine merkbare Verbesserung ihrer eigenen Lebenslage einhergeht. Auch hier stehen wir in der Systemkonkurrenz. China etwa investiert Milliarden in aufstrebende Länder, ohne Demokratie anzumahnen. Ein willkommenes Geschenk für alle Despoten und Autokraten. Ein vergiftetes, denn irgendwann werden sie zurückzahlen müssen, in Form von Abhängigkeit.

Moralische Appelle des Westens helfen selten. Hilfreicher wäre, den Normentransfer mit einer Stärkung der Ökonomie zu verbinden, welche die Lebenslage der breiten Bevölkerung tatsächlich verbessert und so die Einsicht vermittelt, dass ein demokratisches Entwicklungsmodell letztlich besser ist als eine Despotie. Einen so weiten Blick muss die deutsche Sicherheitspolitik wiedergewinnen. Und das bedeutet: Die alleinige Stärkung der Bundeswehr ist viel zu defensiv gedacht. Das Hantieren mit Menschenrechtsforderungen und Sanktionen ist naiv angesichts der realen Kräfteverhältnisse.

Deutschland, die EU, der Westen müssen weit über die klassische Entwicklungshilfe hinaus finanzielle Transfers vornehmen und ihren Anteil an der Ausbeutung reduzieren. Aber sie müssen auch den Kulturdialog und die bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit stärken, verbunden mit dem Gedanken globaler Verantwortung. Auch dafür braucht es Geld, viel Geld. Ein Teil der 100 Milliarden für diese Ziele wäre kein vergeudeter Reichtum, sondern ein sicherheitspolitisches Investment im Sinne der Krisenprävention und im Sinne des Werbens um Verbündete gegen die Autokraten und Despoten dieser Welt.

Ludger Volmer ist Sozialwissenschaftler, Gründungsmitglied und ehemaliger Vorsitzender der Grünen, langjähriges Mitglied des Bundestags und ehemaliger Staatsminister. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung (“Open Source”), hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Ludger Volmer/Berliner Zeitung (Gastautor):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

4 Kommentare

  1. Der Maschinist

    Sehr gut, Ludger Volmer! 100 Milliarden für Svenja Schulzes Etat würde ich sofort unterstützen!

  2. Claus Dobberke

    Hallo Herr Ludger,
    vielen Dank für die Übersendung dieses Artikels. Ich hoffe er wirkt der allgemeinen Hysterie entgegen, die mich leider ein bisschen an die überlieferten Erfahrungen von 1914 erinnert, als “das Volk“ den Soldaten die „ins Felde“ zogen, Blumensträuße in die Gewehrläufen steckten.
    Es steht außer Frage, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine das Völkerrecht in eklatanter Weise bricht, und Putins Äußerungen zu den Kriegszielen und gegen die staatliche Souveränität der Ukraine sind in keiner Weise zu rechtfertigen. Auch nicht mit dem Kiewer Rus.
    Allerdings ebenso wie das (damals etwas weniger medien-öffentliche) NATO-Bombardement auf Belgrad und die völkerrechtswidrige Abspaltung des Kosovo. Gregor Gysi hat seinerzeit im Bundestag kassandraartig gewarnt „das öffnet die Büchse der Pandora“.
    Sie ist seitdem geöffnet. Und alle Großmächte bedienen sich daraus.
    Vom Nahen und Mittleren Osten will ich gar nicht sprechen. Die aberwitzige Vorstellung, man könne historisch junge Staatengebilde aus ihrer jahrhundertealten archaischen Stammeskultur mit militanten Koranregeln und strengen Hierarchien ohne Berücksichtigung einer tragfähigen ökonomischen Basis aus westlich determinierten Menschenrechtsgründen und mit z.T. frechen Begründungen „befreien“ und unsere westliche Demokratie überstülpen, muss jämmerlich scheitern.
    Schon die Sowjetunion ist in Afghanistan damit gescheitert;
    man kann muslemische Frauen nicht (aus eben solchen humanistischen Gründen) auf einen LKW laden und zur gynäkologischen Reihenuntersuchung fahren.
    Überall hat die (angeblich menschenrechtlich-missionarische) Einmischung USA und ihr Regimechange die Lage destabilisiert. Wir beide wissen, dass es vorrangig (kapitalgetriebene) wirtschaftliche Interessen waren, denen das Menschenrechtsmäntelchen oder die Apodiktik der „Gefährdung der Nationalen Sicherheit“ der USA umgehängt wurde
    Der Ukraine-überfall; für mich bleibt die Frage, nachdem Putins Vorstellungen, die Sicherheitsarchitektur in Europa neu zu ordnen, bei EU und NATO auf Ablehnung stießen, welche Möglichkeiten hätte Putin derart in die Enge getrieben, noch gehabt, eine Sicherheitszone zwischen der NATO und seinem Land einzurichten, damit die Vorwarnzeit, so wie sie im kalten Krieg zusammen mit den Abrüstungsverträgen und den Kontrollflügen über dem jeweils anderen Einflussgebiet vertraglich vereinbart war, wieder hergestellt wird. Damals hätte ein Erstschlag automatisch den Zweitschlag als Reaktion zur Folge gehabt. Dieses Gleichgewicht hat lt. Militärexperten die beiden Blöcke damals objektiv vor einem atomaren Angriff abgeschreckt und sie damit gehindert, ihre Interessen kriegerisch durchzusetzen. Ob der Machtmensch Putin (mit der lächerlichen Demonstration seines 10 m langen Tisches) sämtliche Möglichkeiten für einen Kompromiss ausgelotet hat ist zu bezweifeln. Ebenso wenig ist allerdings die unnachgiebige Haltung der anderen Seite zu bezweifeln.
    Das gegenwärtige propagandistisch strategische Trommelfeuer der Medien und die ständig wiederholten Bilder der unfassbaren Grausamkeiten der „Russen“ (die Maidan-Morde sind noch nicht aufgeklärt), die ständige Wiederholung der Rede des Schauspieler-Präsidenten Selinski, per Videowand in alle Parlamente übertragen, zielt auf die moralische Empörung der Welt, setzt die Vernunft außer Kraft, fordert immer neue Waffen und provoziert tatsächlich den Einsatz der NATO.
    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die NATO den Krieg provoziert hat, indem sie über sogenannte „Bande“ gespielt hat. Präsident Biden hat zweimal in Reden versichert, dass kein amerikanischer Soldat eingreifen würde, falls Russland in die Ukraine einmarschierte. Ich habe dies damals als Alarmzeichen empfunden, als eine Art Einladung an Putin; und das ist sicherlich kein Ausrutscher von Biden gewesen; er hat jetzt in den baltischen Staaten noch eins draufgesetzt, indem er tatsächlich von einem Regime Change gesprochen hat. Indirekt hat er damit Putin und Russland den Krieg erklärt.
    Damit wäre dann die Voraussetzung für Putin geschaffen, atomare Waffen einzusetzen.
    Ich bin von Beruf Regisseur; ich habe bei der 24-stündigen täglichen Kriegsberichterstattung den fatalen Eindruck einer gewaltigen aber schlechten Event-Inszenierung, in der die Ursachen für den Konflikt überhaupt keine Rolle spielen. Dass z.B. die NATO-Mitgliedschaft als Ziel in der ukrainischen Verfassung steht, und zu ihrer Änderung bekannterweise eine Zweidrittelmehrheit der Rada benötigen würde; Selenski hat nirgends im Vorfeld des Krieges den Versuch gemacht, dies anzusprechen. Ebenso wenig ist die Rede von der Russenphobie des sogenannten Rechten Blocks; ebenso sehr kurz kommt, dass die Ukraine die Minsk-zwei Festlegungen für den Donbass negiert hat. Dass nach dem Maidan 2014 von der Annullierung des Flottenvertrags auf der Krim öffentlich gesprochen wurde, wird ebenfalls nicht erwähnt.
    Deshalb bin ich über diesen Beitrag in der Zeitung, den Sie freundlich weise geschickt und damit in die öffentliche Diskussion gebracht haben, so erleichtert. Weil er an die Vernunft appelliert.
    Herzliche Dank und beste Grüße

    Ihr
    Claus Dobberke
    (75 Jahre Potsdamer Konferenz)

    Verzeihen Sie mir bitte die Ausführlichkeit meiner Reaktion.

  3. Peter Teutenberg

    Sapere aude – danke für die gut durchdachten Beiträge – inkl. Kommentare !

  4. ruhr reisen

    Herrgott. Oder besser: Sacra!!!
    Wieso verdammt nochmal, schaffen es Politiker nicht, Sätze so zu formulieren, dass man in jedem zweiten Satz nicht jedes dritte Wort nachschlagen muss? Ist das Absicht oder einfach egal, von wem ihre Texte noch verstanden werden sollen, weil man selber so satt und priviligiert ist, dass es nur darauf ankommt, von seinesgleichen gehört zu werden?

© 2024 Beueler-Extradienst | Impressum | Datenschutz

Theme von Anders NorénHoch ↑