Dieses Programm ist nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer.
Da sitze ich nun, am Sonntagabend, tief in meine Couch vergraben, und versuche zu entschlüsseln, welch seltsame Erfahrung mir gestern Nacht widerfahren ist. Da ich die Bedeutung dessen noch nicht vollständig begreifen konnte, konnte ich auch zunächst mal nichts weiter tun, als für den Extradienst aufzuschreiben, was ich denke gesehen zu haben – doch selbst heute bin ich mir noch nicht sicher. Zum Wohle meiner Mitleidenden und zur Warnung von noch nicht betroffenen, dieser Beitrag und meine Einschätzung von „White Fire – Der Todesdiamant“ in der Mediathek von Arte.
Der großartigste deutsch-französische TV-Kanal von allen behauptet, es sei nur ein “Film”, aber ich kann es immer noch nicht glauben… Es handelt sich um die Geschichte von Bo und Inga – gespielt von Robert Ginty (Coming Home) bzw. Belinda Mayne (Der Bergdoktor).
Als Kinder mussten Bo und Inga den Mord an Vater und Mutter erleben, um später unter der Obhut ihres damaligen Retters zu waghalsigen Juwelendieben zu werden. So verdienen sie ihr Brot und etwas Butter (und eine Villa mit Blick über den Bosporus), indem sie heiße Diamanten stehlen, und keiner ist heißer als das legendäre „Weiße Feuer“, ein Stein, der so brandgefährlich ist, dass er tatsächlich jede:n verbrennt, in dessen und deren Hände er fällt.
So begibt sich das Paar auf die gefährliche Reise, diesen 2000-Karat Stein zu erobern. Und diese Reise brannte sich als Abfolge von schlechten Stunts, exzessivem Billig-Ketchup-Splatter, unterbrochen von Softcore Erotik, unterbrochen von türkischem Lokalkolorit (Istanbul! Tokapi!) vor Science-Fiction Sperrholzkulissen einer Diamantenmine tief in meine Netzhaut. Eigentlich müsste wohl ich ernsthafte Probleme haben, hätte ich damit kein Problem. Offensichtlich bin ich an derartige Kombinationen nicht gewöhnt. Hab ich also ein Problem?
In meiner Erinnerung bleibt: Blut, viel billiges künstliches Blut, Eingeweide aus der Geflügelschlächterei nebenan, Flammenwerfer, Kettensägen, Bandsägen, Enterhaken, Schießgewehre, Wurfmesser und Faustkämpfe, türkisches Öl-Catchen und eine wunderschöne nackte Frau, die völlig selbstverständlich des nachts aus ihrem Pool steigt um eine Dusche zu nehmen (die Kamera freut es sehr), nur um dann wieder zurück in den Pool zu springen. (“Danke, dafür!” seufzten bestimmt alle 13 jährigen Jungs, die das haben sehen können – obschon der Film eigentlich erst ab 18 war.)
Der Film bewegt sich, mit der inzestuösen Geschichte von Bruder und Schwester, ebenfalls deutlich in einem erotischen Tabu-Territorium. Auch wenn Autor, Produzent und Regisseur Pallardy den Konflikt – durch eine fremde Frau, die im Dienste der Geschichte soweit chirurgisch modifiziert wurde, dass sie nur mehr wie die Schwester aussieht – zu “umgehen” gedachte.
Jean-Marie Pallardy (zu dessen früheren künstlerischen Höhepunkten “Erotic Encounters“ und “Emmanuelle geht nach Cannes“ gehören) mag diesen Film möglicher Weise als eine Art Katharsis für (s)eine tiefsitzende neurotische Besessenheit entworfen haben. Dafür jedenfalls, verdient er Respekt oder Mitleid. Je nach dem.
Die Hauptdarsteller:innen Ginty, Mayne und Blaxploitation-Star Fred Williamson selbst sind alle ziemlich “gut” (insbesondere Gintys Schnurrbart, der es fast schafft, sich einen Co-Star-Kredit zu sichern, so lebendig ist der Pinsel)*, ihre Frisuren wahrhaftig spektakulär – doch die unappetitlichen Wendungen in der Handlung und die seltsamen Entscheidungen des Produktionsteams vermochten sie nicht zu überspielen. Wie ich schon schrieb: Man(n) kann seine Augen nicht davon abwenden – aber nur wegen der ständigen Frage: „Was zum Teufel ist gerade passiert?“. Und: “Hab ich das wirklich gerade gesehen?”.
Liebes Arte, entweder sind Sie und dieser Film verrückt. Oder ich bin es. Also, ich meine jetzt nicht so 08/15-öffentlich-rechtlich-verrückt, das wäre ja vielleicht behandelbar, sondern völlig abseits. Total off. So etwas sehen wir sonst nicht im Fernsehen.
Bedenken wir, aus welcher Zeit dieser Film stammt: 1984 war das Jahr, in denen das “Blockbuster-Kino” gerade die finale Übernahme von Hollywood vollzogen hat. Ewige Filmklassiker wie “Es war einmal in Amerika”, “Terminator” und “Indiana Jones II” sind in diesem Jahr herausgekommen. Und auch Arthouse-Perlen wie mein ewiger Lieblingsfilm von Wim Wenders “Paris, Texas” oder Milos Formans “Amadeus”.
Während ich all diese in den erlesenen Programmkinos meiner Heimatstadt sehen durfte, hat nur kurz zuvor irgendwo auf der Welt ein Team von Filmemachern dieses abseitige Stück erfunden, das in der Tat aussieht, als stamme es statt dessen direkt aus den späten 60er Jahren. Das Buch scheint von eben dem, schon erwähnten, verwirrten 13-Jährigen verfasst worden zu sein, dessen geistige Hauptnahrung hauptsächlich aus Pornos und „The Exterminator“ (ebenfalls mit Robert Ginty und einem Flammenwerfer) bestand. Dieser Film repräsentiert also offensichtlich exakt die Spätphase der Low-Budget-D-Movies, aus der Quentin Tarrantino seither über Jahrzehnte hinweg viel seiner Inspiration beziehen sollte.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was zum Teufel da zu seiner Zeit vor sich gegangen sein mag – es liegt fast vierzig Jahre zurück. Ich war zu jung. Doch meine aktuelle Befindlichkeit könnte den Hinweis darauf geben, wie meine Seherfahrung als mittelalter weißer TV-Zuschauer war: Ich vermochte es nicht, meine Augen davon abzuwenden.
Um diesen Beitrag hier abkürzend zusammenzufassen: Ich kann dieses Machwerk nicht empfehlen, doch ich kann es auch nicht schlechter machen als es ist.(!) Niemand kann das.(!)
Dieser Film existiert. Also können sie sich das selbst ansehen. Oder tun sie es lieber nicht. Es ist ihre freie Entscheidung. Sollten sie sich trotz meiner Warnungen dazu entscheiden, stellen sie sicher, dass ihre 13 jährigen (Enkel-)Kinder schlafen und machen sie mich oder den Extradienst nicht haftbar für etwaige Nebenwirkungen und Spätfolgen.
Vielleicht haben sie aber auch einfach einen frivol großen Spass daran. Und feiern die Arte-Mediathek anschliessend dafür. (Verfügbar bis zum 31.08.2022.)
„White Fire – Der Todesdiamant“, Frankreich 1984, Buch & Regie: Jean-Marie Pallardy.
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* Der Autor bedankt sich heftig bei unzähligen Internet-Rezensent:innen von deren Kritiken er sich bei seiner Recherche “inspirieren” lassen konnte. Er ist offensichtlich nicht allein!
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