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USA und NATO für Rüstungskontrolle

USA und NATO für Rüstungskontrolle, Abrüstung und gegen einen neuen Rüstungswettlauf – Echt! Echt?

I.

Ende Oktober 2022 haben die USA ihre aktualisierte „National Defense Strategy“, die neue Militärstrategie, vorgelegt. In der dazu gehörigen „2022 Nuclear Posture Review“ wird die politische und militärische Rolle von Atomwaffen definiert und in der „2022 Missile Defense Review“ die Rolle von Systemen zur Abwehr von Raketen-Angriffen.

Die drei Texte enthalten ganz überwiegend wenig überraschende Aussagen über die Bedeutung und die Rolle der Streitkräfte zur Wahrung und Durchsetzung der Interessen der USA weltweit. Der russische Überfall auf die Ukraine spielt eine ganz untergeordnete Rolle. Im Zentrum steht das Verhältnis zu China. Dazu schreibt Verteidigungsminister Lloyd Austin im Vorwort der „National Defense Strategy“:

„Die Volksrepublik China bleibt in den kommenden Jahrzehnten unser wichtigster strategischer Konkurrent. Ich bin zu diesem Ergebnis gekommen auf der Grundlage der zunehmend mit Gewaltandrohung verbundenen Handlungen der Volksrepublik China, die indo-pazifische Region und das internationale System im Sinne ihrer autoritären Prioritäten umzugestalten, zusammen mit der ausgeprägten Wahrnehmung ihrer klar erklärten Absichten und der schnellen Modernisierung und Expansion ihres Militärs. Wie Präsident Biden in der ‘Nationalen Sicherheitsstrategie’ feststellt, ist die Volksrepublik China das einzige Land, das sowohl die Absicht hat, die internationale Ordnung umzugestalten, als auch zunehmend die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht, das zu schaffen.“

Bemerkenswert und vor dem Hintergrund der aktuellen Situation für viele sicher auch überraschend ist, dass der Text an mehreren Stellen ausdrücklich auf grundsätzliche und praktische Kritik an der Rolle von Atomwaffen in der Strategie der USA eingeht und Rüstungskontrolle und Abrüstung zu wichtigen politischen Zielen erklärt. Hintergrund dafür sind, neben früheren Erklärungen von Präsident Obama über eine atomwaffenfreie Welt, anhaltende Diskussionen innerhalb der Demokratischen Partei, aber darüber hinaus in Initiativen für Rüstungskontrolle, Abrüstung und für die Abschaffung von Atomwaffen in den USA. Besondere Bedeutung hat, dass Präsident Joe Biden sich vor und zu Beginn seiner Präsidentschaft öffentlich für Änderungen der Nuklearstrategie der USA ausgesprochen hatte. Ausserdem fällt auf, dass immer wieder die NATO-Verbündeten und andere Partner der USA zur Begründung der Atomwaffen der USA angeführt werden: Die USA entsprächen mit ihren Atomwaffen den Wünschen ihrer Verbündeten und erfüllten damit ihre Beistandspflichten aus dem NATO-Vertrag.

II.

In der am 27. Oktober 2022 veröffentlichen neuen Nuklear-Strategie der USA heisst es:

„Für die vorhersehbare Zukunft werden Atomwaffen weiter einzigartige Abschreckungswirkungen haben, die durch kein anderes Element der militärischen Stärke der USA ersetzt werden können. Um militärische Angriffe abzuschrecken und unsere Sicherheit im gegenwärtigen Sicherheitsumfeld zu erhalten, werden wir Atomwaffen beibehalten, die den Bedrohungen gerecht werden, denen wir uns gegenüber sehen.

Die Atomwaffen der USA schrecken militärische Aggression ab, vergewissern unsere Alliierten und Partner, und ermöglichen uns die vom Präsidenten festgelegten Ziele zu erreichen für den Fall, dass die Abschreckung versagt.“

Unmittelbar im Anschluss daran finden sich dann Aussagen, die vor dem Hintergrund des durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelösten Rückfalls in die Militarisierung nicht nur des Denkens in Deutschland und vielen anderen Ländern überraschend wirken:

„Abschreckung allein wird atomare Gefahren nicht verringern. Die Vereinigten Staaten werden weiter einem umfassenden und ausgewogenen Ansatz folgen, der erneuerten Nachdruck legt auf Rüstungskontrolle, Nicht-Weiterverbreitung und Risikoverringerung, um die Stabilität auszubauen, einen teuren Rüstungswettlauf abzuwenden und unseren Wunsch deutlich zu machen, die Bedeutung atomarer Waffen global zu verringern. Gegenseitige, verifizierbare Kontrolle nuklearer Waffen bietet den effektivsten, dauerhaftesten und verantwortungsvollsten Weg ein zentrales Ziel zu erreichen: die Rolle von Atomwaffen in der Strategie der USA zu verringern. Trotz der Herausforderungen im gegenwärtigen Sicherheitsumfeld werden die Vereinigten Staaten weiter die Verständigung mit anderen Atom-Mächten suchen, wenn möglich atomare Risiken zu verringern. Wir werden das mit realistischen Erwartungen tun, in dem Verständnis, dass Fortschritte auf verlässliche Partner angewiesen sind, die bereit sind, sich verantwortungsvoll und auf der Grundlage von Gegenseitigkeit zu verpflichten, und mit denen wir ein gewisses Mass an Vertrauen begründen können.“

Zitierte man diesen Text ohne zu sagen, von wem er ist und striche den Bezug auf die USA, dann käme niemand auf die Idee, dass das Aussagen aus der aktuellen Nuklear-Strategie der USA vom Oktober 2022 sind. Viele im politischen und medialen Berliner Betrieb hielten das vermutlich für eine neue skandalöse Äusserung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt habe. Rüstungskontrolle, teuren Rüstungswettlauf verhindern und die Risiken von Atomwaffen verringern: So können nur naive Friedensapostel oder „Unterwerfungspazifisten“ reden. „Werch ein Illtum!“ kann man da mit Ernst Jandl sagen.

III.

Die Forderung nach einem Verbot aller Atomwaffen findet sich in der Nuklear-Strategie der USA nicht. Man sieht sich aber gezwungen, dieser Forderung in einer Weise zu widersprechen, die nicht auf das Leugnen jeglicher Probleme hinausläuft:

„Solange es Atomwaffen gibt, tragen die Vereinigten Staaten und andere Atom-Mächte eine besondere Last, verantwortliche Hüter dieser atomaren Einsatzmöglichkeiten zu sein und mit einem Gefühl der Dringlichkeit ein Sicherheitsumfeld zu schaffen, das letzten Endes ihre Abschaffung erlaubt.“ (Seite 2)

Das sind in einem offiziellen Regierungsdokument der USA ganz andere Töne als man sie aus den vergangenen Jahren und erst recht seit dem 24. Februar 2022 kennt. Der Text stammt aber von Ende Oktober 2022.

Man kann lange darüber streiten, ob solche Aussagen ehrlich gemeint oder taktisch motiviert sind. Muss man aber nicht. Entscheidend ist, dass Präsident und Regierung der USA es für politisch notwendig oder für politisch klug halten, das zu sagen. Daran sollte man sie erinnern, immer wieder. Daran müssen sie sich messen lassen.

Das gilt auch für die Aussagen zur Rolle von Atomwaffen in der Strategie der USA, zu der es u.a. heisst:

„Anders als manche ihrer Konkurrenten werden die Vereinigten Staaten Atomwaffen nicht nutzen, um andere einzuschüchtern oder als Teil einer expansionistischen Sicherheitspolitik. Diese zurückhaltende Politik wird die Rolle von Atomwaffen in der Strategie der USA weiter prägen. Die Vereinigten Staaten sind bestrebt Schritte zur Verringerung der Rolle von Atomwaffen in unserer Strategie und zur Verringerung der Risiken eines Atomkriegs zu gehen, und dabei gleichzeitig dafür sorgen, dass unsere strategische Abschreckung sicher, ungefährdet und effektiv und unsere erweiterten Abschreckungsverpflichtungen stark und glaubwürdig bleiben.“

Die USA betonen in ihrer Strategie die besondere Rolle von Atomwaffen mit Blick auf Verpflichtungen gegenüber Alliierten und Partnern:

„Die Alliierten müssen darauf vertrauen, dass die Vereinigten Staaten bereit und in der Lage sind, dem Umfang der strategischen Bedrohungen entsprechend abzuschrecken und die Risiken einzudämmen, die sie in einer Krise oder einem Konflikt eingehen. Die Modernisierung der Atomwaffen der USA ist der Schlüssel dafür, dass die Alliierten sicher sein können, dass die Vereinigten Staaten verpflichtet und in der Lage sind, den Umfang der Bedrohungen abzuschrecken, denen die Atomstrategie der USA gilt.“

Angesichts der unterschiedlichen Interessenlage der USA und der europäischen Mitgliedsstaaten der NATO im Falle eines atomaren Angriffs auf europäische Städte sprechen überzeugende Gründe dagegen, dass der sogenannte „nukleare Schutzschirm“ der USA für Europa mehr ist als eine Lebenslüge. Die USA haben ein existentielles Interesse daran, den Kriegsschauplatz auf Europa zu begrenzen. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass ein Präsident der USA im Falle eines atomaren Angriffs auf Ziele in Europa strategische Atomwaffen gegen den Aggressor einsetzte, die als Reaktion den Einsatz von Atomwaffen gegen New York, Washington oder Los Angeles provozierten.

So sieht das auch Josef Braml, Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission, der dazu in seinem 2022 erschienenen Buch „Die transatlantische Illusion“ schreibt:

„Schon seit längerem ist fraglich, ob Amerikas ´erweiterte nukleare Abschreckung´ und das zugrunde liegende Sicherheitsversprechen überhaupt glaubwürdig sind und im Ernstfall eingelöst würden. Selbst amerikanische Sicherheitsexperten bezweifeln – und das nicht erst seit Trumps Amtszeit -, ob ein US-Präsident wirklich bereit wäre, wegen der Sicherheitszusage gegenüber weit entfernten europäischen Staaten die Zerstörung einer amerikanischen Millionenstadt durch russische Langstreckenraketen zu riskieren.“

Dieser Interessenkonflikt wird, wenig erstaunlich, in der neuen Nuklear-Strategie der USA nicht angesprochen.

IV.

Vor der Wahl von Joe Biden zum Präsidenten gab es in der Demokratischen Partei Diskussionen über eine Veränderung der Nuklear-Doktrin der USA. Auch Biden hatte öffentlich darüber nachgedacht, zwei grundlegende Veränderungen vorzunehmen: Verzicht der USA, als erste Atomwaffen einzusetzen und Einsatz von Atomwaffen nur gegen einen Angriff mit Atomwaffen. Beide Überlegungen finden sich in der neuen Nuklear-Strategie nicht wieder. Präsident und Regierung halten es aber offenbar für notwendig, das besonders zu begründen, zu rechtfertigen, und tun das so:

„Wir haben eine sorgfältige Überprüfung eines breiten Umfangs verschiedener Optionen der erklärten Nuklear-Politik durchgeführt – und dabei sowohl den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen als auch den Einsatz von Atomwaffen nur gegen Angriffe mit Atomwaffen untersucht – und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass beide Ansätze zu einem nicht hinnehmbaren Risiko im Lichte der von Konkurrenten entwickelten und eingesetzten nicht-nuklearen Fähigkeiten führten, das den Vereinigten Staaten, ihren Alliierten und Partnern Schaden auf strategischer Ebene zufügen könnte. Einige Alliierte und Partner sind besonders verwundbar durch Angriffe mit nicht-nuklearen Mitteln, die verheerende Folgen haben können. Wir halten an dem Ziel fest, uns in Richtung einer Erklärung zu bewegen, dass wir Atomwaffen nur gegen Atomwaffen einsetzen und wir arbeiten mit unseren Alliierten und Partnern daran, konkrete Schritte zu bestimmen, die uns das erlauben würden.“

Auch hier kann man wieder lange darüber streiten, wie glaubwürdig diese Aussagen sind. Muss man aber nicht. Entscheidend ist auch hier, dass Präsident und Regierung es für politisch notwendig oder für politisch klug halten, das zu sagen. Sie kündigen an, dass die USA mit ihren Alliierten und Partner konkrete Schritte bestimmen wollen, damit in Zukunft der Einsatz von US-Atomwaffen für den Fall eines nicht-nuklearen Angriffs ausgeschlossen ist. An dieser Ankündigung sollte man die USA und die NATO messen und immer wieder erinnern.

Die Autoren des Berichts sehen und sprechen offen die Gefahren an, die allein von der Existenz von Atomwaffen ausgehen und von dem Konzept, potentielle Gegner über die eigenen Handlungsoptionen bewusst im Unklaren zu lassen:

„…im Krisen- oder Konfliktfall werden wir uns bemühen mit dem Eskalations-Risiko umzugehen, indem wir gegnerische Fehleinschätzungen adressieren, die mit Blick auf die Entschlossenheit, die Fähigkeiten, die strategischen Absichten oder Kriegsziele der USA zu Fehleinschätzungen führen können…

Genauso wichtig ist es, bei der operativen Planung und bei Entscheidungen über die nukleare Aufstellung und Bereitschaft das Risiko zu verringern, dass die Vereinigten Staaten gegnerische Absichten oder Fähigkeiten falsch einschätzen oder ohne es zu wissen, eine nicht verstandene oder unklare Grenze für den gegnerischen Einsatz von Atomwaffen überschreiten.“

Diese Aussagen werden so konkretisiert:

„Die Vereinigten Staaten haben genügend Erfahrung im strategischen Dialog und im Krisenmanagement mit Russland, haben aber trotz ständiger Bemühungen der USA wenig Fortschritte mit der Volksrepublik China gemacht . Die Welt erwartet von den Atom-Mächten, dass sie verantwortlich handeln, auch was die Verringerung von Risiken und die Krisenkommunikation angeht, und die Vereinigten Staaten werden ihre Bemühungen mit China weiter fortsetzen.“

Wie sich die USA vorbereitet sehen auf politisch nicht beabsichtigte „nuclear escalation“ wird so beschrieben:

„Wir anerkennen auch das Risiko nicht beabsichtigter nuklearer Eskalation, die aus dem versehentlichen oder unerlaubten Gebrauch von Atomwaffen entstehen kann…

Überlebensfähige und redundant ausgelegte Sensoren schaffen hohes Vertrauen, dass potentielle Angriffe entdeckt und gekennzeichnet werden, was Massnahmen und Verfahren ermöglicht, die einen Beratungsprozess gewährleisten, der dem Präsidenten ausreichend Zeit gibt, sich Informationen zu beschaffen und über das Vorgehen zu entscheiden.“

Das sind keine theoretischen Gedankenspiele. Zu Zeiten des Kalten Kriegs hat es mehrere Situationen gegeben, in denen ein Atomkrieg aus Versehen nur durch glückliche Umstände in letzter Minute abgewendet worden ist.

Auch hier ist wieder bemerkenswert, dass diese Risiken und Gefahren, auf die grundsätzliche Kritiker und Gegner von Atomwaffen seit langem hinweisen, in der neuen Nuklear-Strategie offen angesprochen werden.

Das eröffnet die Möglichkeit zu einer Diskussion, die sich darauf konzentriert, welche Argumente dafür und welche dagegen sprechen, dass prozedurale und technische Vorkehrungen gegen einen Atomkrieg aus Versehen ausreichend Sicherheit bieten können.

V.

Die Bedeutung von Abrüstung, möglichst umfassenden wechselseitigen Informationen zwischen atomaren Mächten und der kontinuierlichen gegenseitigen Verifikation wird in einem eigenen Kapitel noch einmal besonders hervorgehoben:

„Wir werden erneuerten Nachdruck legen auf Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung von Atomwaffen und Risikoverringerung …

Begrenzungen und mehr Transparenz über gegnerische nukleare und mögliche nicht-nukleare Fähigkeiten durch Rüstungskontrolle sind besonders wichtig für jeden Ansatz, die Rolle von Atomwaffen zu verringern. Gegenseitige überprüfbare nukleare Rüstungskontrolle bietet den effektivsten, dauerhaftesten und verantwortungsvollsten Weg die Rolle von Atomwaffen in unserer Strategie zu verringern und ihren Einsatz zu verhindern. In Übereinstimmung mit unserer Verpflichtungserklärung, der Diplomatie Vorrang einzuräumen, werden die Vereinigten Staaten neue Rüstungskontroll – Vereinbarungen weiterverfolgen, die dem gesamten Umfang nuklearer Bedrohungen gerecht werden und unseren globalen Interessen an der Nicht-Verbreitung von Atomwaffen entsprechen.“

In künftige Verhandlungen zwischen den USA und Russland soll das wachsende Arsenal Chinas einbezogen werden. Mit Blick auf den Anfang 2021 von Russland und den USA um fünf Jahre verlängerten Abrüstungsvertrag „New Start“, dem letzten übrig gebliebenen Vertrag zur Begrenzung von Atomwaffen, heisst es:

„Die Vereinigten Staaten sind bereit, schnell über ein neues Rüstungskontroll-Regime zu verhandeln, das an die Stelle des 2026 auslaufenden ‘New Start’-Vertrags tritt, wobei Verhandlungen einen bereitwilligen Partner brauchen, der nach Treu und Glauben handelt. Unsere Prioritäten schliessen die Förderung von Transparenz und gegenseitiger Risikoverringerung ein durch weitere Initiativen, die destabilisierende Systeme oder Dispositive begrenzen und das Risiko einer Fehleinschätzung verringern.“

Die neue Nuklearstrategie setzt sich auch ausdrücklich mit dem „Atomwaffenverbotsvertrag“ auseinander, der nach Ratifizierung durch den fünfzigsten Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Die USA lehnen den Vertrag ab, halten es aber offenbar für notwendig, die Ablehnung ausdrücklich zu begründen. Sie bestreiten nicht das Ziel, sondern bezeichnen den Vertrag als ungeeignetes Instrument zur Erreichung des Ziels. Auch hier kommt es für die politische Debatte nicht darauf an, ob man diese Aussage für glaubwürdig hält. Entscheidend ist, dass sich die Debatte damit von der Ebene des Ziels auf die Ebene der geeigneten Instrumente verlagert. Das ist ein qualitativer Fortschritt, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann:

„Auch wenn die Vereinigten Staaten aktiv am Ziel einer Welt ohne Atomwaffen festhalten, halten sie den Atomwaffenverbotsvertrag für kein effektives Instrument, dieses Ziel zu erreichen. Die Vereinigten Staaten teilen nicht die zugrunde liegende Annahme des Vertrags, dass die Beseitigung der Atomwaffen unabhängig vom vorherrschenden internationalen Sicherheitsumfeld erreicht werden kann. Wir halten den Atomwaffenverbotsvertrag auch für kein effektives Mittel zur Lösung der zugrunde liegenden Sicherheitskonflikte, die Staaten dazu bringen, an Atomwaffen festzuhalten oder sich um sie zu bemühen.“

VI.

Die Problematik von Raketen-Abwehrsystemen liegt darin, dass sie ein doppeltes Gesicht haben: Sie können zur Abwehr von Angriffen beitragen. Je erfolgreicher das gelänge, hätten diese System aber gerade dadurch quasi offensiven Charakter, weil sie die der Abschreckungs-Logik zugrunde liegende „Zweitschlags-Fähigkeit“ eines potentiellen Gegners ausser Kraft setzten oder entsprechende Befürchtungen bzw. Hoffnungen begründeten..

Auch dieses Thema wird in der „National Defense Strategy“, offen angesprochen:

„Als Teil eines integrierten Ansatzes der Abschreckung anerkennen die Vereinigten Staaten die Wechselbeziehungen zwischen offensiven strategischen Waffen und defensiven strategischen Systemen. Die Stärkung der gegenseitigen Transparenz und Berechenbarkeit mit Blick auf diese Systeme kann dazu beitragen, das Risiko eines Konflikts zu verringern.“

Trotz dieser Einsicht hält der Bericht an den von den USA bereits installierten bzw. geplanten Raketen-Abwehrsystemen in Europa fest, die von Russland im Rahmen der Abschreckungs-Logik als Bedrohung verstanden werden:

„Es ist für die Vereinigten Staaten eine strategische Notwendigkeit, Investitionen und Innovation fortzuführen in die Entwicklung des ganzen Spektrums von Raketen-Abwehrsystem-Fähigkeiten, um die Abschreckung aufrecht zu erhalten und Schutz zu bieten, und sich dabei gegen Unsicherheit zu wappnen.“

Die Hinweise auf die eingeschränkten Möglichkeiten von Raketen-Abwehrsystemen und auf den Zusammenhang zwischen strategischen Offensiv- und strategischen Defensiv-Systemen gelten bemerkenswerterweise nur für die Aussagen zum US-amerikanischen „homeland“, aber nicht für Europa. Das wird nicht begründet und ist auch nicht begründbar.

VII.

Die „National Defense Strategy“ der USA von Ende Oktober 2022 enthält wichtige Aussagen und Überlegungen, über die in den deutschen Medien nicht berichtet wird und die auch in der politischen Diskussion keine Rolle spielen. Das gilt vor allem für die Passagen, die auf die Bedeutung von Rüstungskontrolle, Abrüstung und die Verhinderung eines neuen Rüstungswettlaufs als unverzichtbare Elemente der Sicherheitspolitik hinweisen. Über Aussagen im „Strategischen Konzept der NATO 2022“ vom 29. Juni 2022, die in die gleiche Richtung gehen, wird genauso wenig berichtet und diskutiert.

Dort heisst es unter Ziffer 32.:

„Strategische Stabilität, die durch wirksame Abschreckung und Verteidigung, Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie inhaltsvollen und gegenseitigen politischen Dialog erreicht wird, bleibt für unsere Sicherheit von grundlegender Bedeutung. Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung tragen erheblich zu den Zielen des Bündnisses bei. Die Anstrengungen der Verbündeten im Bereich der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung haben zum Ziel, Risiken zu mindern, und sollen zu mehr Sicherheit, Transparenz, Überprüfbarkeit und Einhaltung führen. Wir werden alle Elemente der strategischen Risikominderung verfolgen, darunter de Förderung von vertrauensbildenden Massnahmen und Vorhersehbarkeit durch Dialog, die Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses und den Aufbau wirksamer Instrumente zur Krisenbewältigung und -prävention. Diese Anstrengungen werden das jeweils aktuelle Sicherheitsumfeld und die Sicherheit aller Verbündeten berücksichtigen und das Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv des Bündnisses ergänzen. Wir werden die NATO als Plattform für ausführliche Diskussionen und enge Beratungen zu Rüstungskontrollanstrengungen nutzen.“

Diese Aussagen und konkreten Ankündigungen zur Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und Abrüstung werden auch in den Texten zum neuen strategischen Konzept der NATO auf den Internet-Seiten des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums der Verteidigung mit keinem Wort erwähnt.

In der gegenwärtigen Situation, in der Feindbilder kultiviert werden und die grosse Mehrheit der politisch Verantwortlichen, aber auch der Verantwortlichen in den Medien nicht nur, aber besonders in Deutschland, auf Militarisierung des Denkens und Handelns setzen, ist es besonders wichtig, auf die Bedeutung von Rüstungskontrolle und Abrüstung hinzuweisen.

Alle, denen an Sicherheit gelegen ist und darüber hinaus daran, Voraussetzungen für wirklichen Frieden zu schaffen, sollten deshalb ein Interesse daran haben, dass diese Aussagen zu Rüstungskontrolle, Abrüstung, Dialog und vertrauensbildenden Massnahmen endlich in die öffentliche Debatte gebracht werden. Gerade in diesen Zeiten ist es dringend notwendig, die USA und die NATO beim Wort nehmen, ganz gleich, wie gross aus Erfahrung die Zweifel sind, dass ihr Wort gilt.

Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Christoph Habermann / Gastautor:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

4 Kommentare

  1. Detlef Wilske

    Herr Habermann, der als “neuer Gastautor” nicht einmal vorgestellt wird (was qualifiziert ihn denn?) mag ein kompetenter Politiker (Wikipedia) sein, aber wenn er so schreibt, das man auch kurze Sätze mehrmals lesen muss, um sie zu verstehen, wird es nichts. Herr Habermann hätte seinen Beitrag zumindest lektorieren lassen sollen. Warum? Das fast konsequente Weglassen von Kommas irritiert schon. Ein kurzes Beispiel sollte reichen (Reicht nicht? Ich kann gern weitere nachreichen.):

    Im Satz “Wie sich die USA vorbereitet sehen auf politisch nicht beabsichtigte ‘nuclear escalation’ wird so beschrieben:” lese ich: “Wie sich die USA vorbereitet, sehen …” Nach einem Nebensatz mit dem konjugierten Verb (“vorbereitet”) am Ende steht im nachfolgenden Hauptsatz das konjugierte Verb nicht wie üblich an Position 2, sondern an Position 1: “sehen”. Aber wo ist denn das Subjekt im Plural? Das einzige Subjekt ist “escalation”. Mist, da habe ich etwas falsch gelesen. Zum Anfang zurück! Ah ja, das konjugierte Verb im Nebensatz ist nicht “vorbereitet”, sondern “sehen”. Aber dann müsste ja ein drittes Verb stehen, das Verb, das den Hauptsatz einleitet. Aber vor dem nächsten konjugierten Verb (“wird”) steht “auf politisch nicht beabsichtigte ‘nuclear escalation'”. Hm, könnte ein Präpositionalobjekt nach “vorbereiten” sein. Aber das müsste doch viel weiter vorn im Nebensatz stehen?! Ok, schieben wir es nach vorn, dann stimmt es. Schlussendlich setzen wir noch ein Komma vor “wird”, dann habe ich diesen Satz endlich überstanden.

    Was ich hier mit linguistischem Sachverstand analysiert habe, haben vielleicht auch andere Leser:innen festgestellt, wenn auch nicht mit dem entsprechenden Fachvokabular. Ist auch nicht nötig. Denn was ich hier sehe, ist eine Vernachlässigung der Verwendung der deutschen Sprache, die allerdings nicht nur auf Herrn Habermann zutrifft, der es nun ausbaden muss, sondern auf viele politische Artikel in der online- wie Printpresse. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass heutzutage die Kinder in der Schule nicht ausreichend die deutsche Sprache beherrschen. Aber wenn gestandene Autor:innen das nicht gut können, sollten wir nicht auf die Kinder (bzw. deren Lehrer:innen bzw. auf das System) schimpfen. Wer etwas veröffentlicht, sollte sich darum kümmern, dass der Text so ausschaut, dass Herr Konrad Duden sich nicht im Grabe (Dativ mit anachronistischer, früher verwendeter Endung -e) umdreht. Lektor:innen werden furchtbar schlecht bezahlt (jetzt werde ich sogar noch politisch), aber freuen sich über regelmäßige Aufträge. Ich bin mir bewusst, dass Artikel dieser Art “sofort” veröffentlicht werden “müssen”, aber wenn jemensch vorher noch einmal darüberschaut, kann es wirklich nicht schaden.

    • Martin Böttger

      Sehr geehrter Herr Wilske, auch Ihren Kommentar musste ich mehrmals lesen, und habe vorsichtshalber noch eine Nacht drüber geschlafen, in der Hoffnung besser zu verstehen, was Ihr Problem ist. Mangelhaftes Lektorat? Trifft zweifellos zu bei Blogs mit ohne Geld. Leider sogar bei Onlineportalen mit viel Geld. Ich wäre ein glücklicher Mensch, wenn das unser grösstes Problem wäre …
      Autor Christoph Habermann glaube ich dagegen sofort verstanden zu haben. Er vertritt die Ansicht, dass es in den zutiefst widersprüchlichen Apparaten von USA und Nato fortschrittliche Kräfte gibt, die mehr Aufmerksamkeit verdienen, und versucht das ausführlich zu belegen. Er beklagt, dass die, deren Job das wäre, es nicht tun. Und er wünscht, USA und Nato an ihren vorgeblichen Ansprüchen und Werten zu messen. Ich verstehe das nicht nur, ich stimme sogar damit überein. Allein meine Hoffnungen, wie weit das reicht, sind geringer als seine.

  2. Detlef Wilske

    Lieber Herr Böttger,

    ich habe ja nicht Sie angegriffen. Es ging mir in meinem Kommentar auch nicht um den schleichenden Verfall der deutschen Sprache, der schlimm genug ist. Mich stört – und da bin ich als Sprachwissenschaftler und Deutschlehrer besonders berührt -, dass aus Nachlässigkeit bestimmte – und häufig immer dieselben – Fehler vorkommen. Nicht nur bei Herrn Habermann, sondern im verschiedensten Artikeln und sogar in der sog. Qualitätspresse. Vielleicht hätte ich meinen Kommentar lieber dort anbringen sollen. Aber bei Zeitungen und anderen Printprodukten ist es ja so: Wird der Kommentar überhaupt gelesen und wird er dann auch (in Gänze) abgedruckt? Als ich in meinen wilden Jahren Fachartikel geschrieben habe, habe ich die Texte immer gegenlesen lassen und konnte damit Nachlässigkeitsfehler zum großen Teil vermeiden. Was ist heute wichtig? Output! Output! Und die Qualität leidet darunter. Warum auch? Wenn alle immer überall die gleichen Fehler machen, verstehen alle auch alles?!? Natürlich versteht man, wenn man sich Mühe gibt. Und gerade bei diesem Thema habe ich mir Mühe gegeben und dann natürlich auch alles verstanden. Aber es musste einfach mal raus. Es tut mir Leid, dass es Ihren Blog und Ihren Gastautor getroffen hat.

    Trotzdem noch einmal: Es gibt Profis für den Inhalt, und es gibt Profis für den Ausdruck und die Grammatik. Mein Appell: Arbeiten wir zusammen! Ich werde das hier und auch anderswo weiter beobachten (keine Drohung, nur ein Versprechen).

    • Martin Böttger

      Okay, da bin ich grundsätzlich mit Ihnen einverstanden.

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