Beueler-Extradienst

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Zeugen Jehovas und die Gewalt

Der Anschlag eines ehemaligen Mitglieds der Sekte “Zeugen Jehovas” mit Maschinenpistolen ist ein schreckliches Verbrechen, ein Massenmord. Was aber bringt einen Menschen dazu, so unmenschlich zu handeln? Die furchtbare Tat könnte ein ernsthaftes, jahrzehntealtes Problem ans Tageslicht bringen: die “Zeugen Jehovas”, die viele als verschrobene Verkäufer des “Wachtturms” wahr- und meist nicht ernst nehmen, arbeiten intern mit Methoden, die die Grenzen von Psychoterror überschreiten und  vor allem psychisch labile  Menschen – und an diese richtet sich das Angebot der Sekte ähnlich wie Scientology – abhängig machen. Zudem sie solche Mitglieder mit psychosozialem Terror bestrafen, die die Sekte freiwillig verlassen oder die gar verstoßen werden. In der Folge stürzen diese häufig in Depressionen.

Täter von Psychoterror der Sekte beeinflusst?

Die Biografie des Attentäters von Hamburg weist massiv auf ein narzisstisches Problem mit den Glauben an seine eigene Auserwähltheit und den Besitz der einzigen Wahrheit hin. Die Sekte kultiviert den Glauben an den baldigen Weltuntergang, den nur ihre Anhänger überleben. Der Entzug dieses Privilegs durch die Sekte könnte eine Ursache für seine gesteigerte Selbstüberschätzung und seinen Hass gegenüber der Sekte gewesen sein. Aber die Hoffnung, dass solche Zusammenhänge aufgeklärt werden, muss schon angesichts der Geschichte der Überwachung des Täters schwinden.

Polizeiliche Stümperarbeit

Da gibt es ein anonymes Schreiben, das den späteren Täter als psychisch gestört und im Waffenbesitz beschreibt. Folglich besuchen ihn zwar zwei Polizist*inn*en, finden auch kritikwürdige Details rund um seine Waffen, versäumen es aber, wenigstens einmal vor dem Besuch einen Blick auf seine Homepage zu werfen, auf der sie praktisch mit der Nase auf seine psychischen Probleme hätten gestoßen werden müssen. Er behauptet, Berater mit absurdem 250.000 € Tagessatz zu sein und Verfasser eines “Werkes”, das mit Bibel, Koran und anderen heiligen Schriften auf einer Stufe zu stehen beansprucht. Der Gipfel der intellektuellen Unauffälligkeit äußert sich darin, dass weder der Polizeipräsident, noch der Innensenator in diesem stümperhaften Vorgehen irgendeinen Fehler oder Dienstpflichtverletzung erkennen können – das Internet ist immer noch “Neuland”. Allein dieses Desaster der Polizeiarbeit schreit nach einem Untersuchungsausschuss.

Skandalöse Untätigkeit des Staates gegenüber einer Psychosekte

Ein Kult der seine Anhänger*innen  lehrt, auserwählt zu sein, wenn – und das soll in absehbarer Zeit liegen – ihr “Heiland” zurück auf die Welt kommt und Gericht über die Menschen hält. Dann, so die Ideologie der selbsternannten “Zeugen”, würden nur sie das Paradies erlangen und alle anderen Menschen seien verloren. Diese zutiefst elitäre, ja rassistische Haltung findet in den Ritualen und Gesetzen dieser Sekte und ihrer Ideologie Niederschlag. So werden ehemalige Mitglieder, die die Aberglaubensgemeinschaft verlassen haben, sofern sie “getauft” wurden, mit Ignoranz und Abbruch aller Beziehungen bestraft. Sieht man sich auf der Straße, wird die Seite gewechselt. Das geht bis tief hinein in Ehen, Eltern-Kind-Verhältnisse und Geschwisterbeziehungen. Viele Aussteiger, so berichtet das Sekten-Info-NRW  haben immer wieder berichtet, dass sie auch nach dem Ausstieg noch Angst vor dem Weltuntergang gehabt hätten und nachts unter Albträumen gelitten hätten. Eine weitere Schwierigkeit, unter der Aussteiger immer wieder leiden, ist die soziale Ächtung. Familiengerichte sehen sich kaum handhabbaren, so rechtswidrigen wie undurchsichtigen Praktiken gegenüber.

Fehlende Nachfrage des Journalismus bei Verbänden und Betreuungsinstitutionen

Jugendämter, Sozialeinrichtungen, Frauenhäuser, psychologische Beratungsstellen, sie alle tauchen derzeit in der Berichterstattung über den Hamburger Terror und über mögliche Ursachen in der Tätigkeit der “Zeugen Jehovas”, die nachweislich Personen in ihrem Einflussbereich unter Druck setzen, ihnen in ihrem privaten Umfeld nachstellen oder versuchen, zerstörerisch auf neue soziale Beziehungen aller Art ihrer ehemaligen Mitglieder einzuwirken, nicht auf. Warum wird die Auseinandersetzung mit der brisanten Tätigkeit und den zweifelhaften psychosozialen Praktiken der Sekte gescheut? Warum redet niemand Tacheles über die strukturellen Probleme der “Zeugen” und ihrer Ideologie und welchen Einfluss sie möglicherweise auf den Amoklauf des Täters hatte? Dass heute am Sonntag mit einer ökumenischen Trauerfeier der Kirchen der Opfer gedacht wurde, haben die “Zeugen Jehovas” boykottiert.

Ideologie der Sekte geht über Leichen

Dabei wäre es bitter notwendig und möglicherweise auch sehr erhellend, wenn der Amoklauf des irregeleiteten Täters, sorgfältig und mit Fakten unterlegt analysiert würde, um den Beitrag heraus zu destillieren, den die auffälligen und zerstörerischen Dogmen in der Gruppe auf ihre Gemeindemitglieder haben.  So hat etwa das Verbot der Sekte, das ihren Mitgliedern untersagt, Bluttransfusionen anzunehmen, in der Vergangenheit tausende Sektenmitglieder, die etwa an Infektionen erkrankten oder sich Operationen unterziehen mussten, das Leben gekostet. Inzwischen hat die höchstrichterliche Rechtsprechung entschieden, dass Minderjährige trotzdem Transfusionen bekommen dürfen, wenn dies die behandelnden Ärzte entscheiden.

Liebesentzug und Methoden psychischer Gewalt

Ausssteiger*innen der Sekte berichten von vielfältigen Erziehungsmethoden, die der “schwarzen Pädagogik” zuzurechnen sind, und deren Legitimation die “Zeugen” aus der Bibel ableiten. So dürfen Kinder keinen Geburtstag feiern, werden entgegen dem gesetzlichen Verbot geprügelt und mit körperlicher Gewalt gezüchtigt und bestraft. Der Verein JZHelp e.v. , der sich als Hilfsorganisation für Aussteiger*innen aus der Sekte versteht, verweist auf erschreckende Fakten:  “Für Jehovas Zeugen sind körperliche Schläge nach wie vor Teil der Kindererziehung. Alle nachfolgenden Zitate sind der aktuellen Wachtturm ONLINE-BIBLIOTHEK (Stand 27.11.2019) entnommen, die Teil des Religionsrechts ist. Es gibt keine Hinweise, dass die aufgeführten Publikationen nicht mehr gültig wären. Wie Berichte Betroffener zeigen, wurden die Erziehungsvorgaben von den Mitgliedern auch umgesetzt.”

Religiöser Wahn als Begründung für Brutalität

“Im „Arbeitsheft der Leben-und-Dienst-Zusammenkunft 31. Oktober–6. November 2016“ wird sogar explizit unter der Überschrift „Die Rute steht für alle arten von Erziehungsmaßnahmen“ auf einige untenstehende Quellen verwiesen, wie z.B. Einsichten in die Heilige Schrift S. 2012 und dem Wachtturm 1997 15. 10. S 32.
Unter der Überschrift “Schätze aus Gottes Wort” heißt es dort:
“Führt Eure Kinder auf den richtigen Weg.” Spr. 22:6,  23:24,25 – Wer seine Kinder nach der Bibel erzieht, schafft die besten Voraussetzungen dafür, dass sie glückliche, zufriedene und verantwortungsbewusste Erwachsene werden.” Spr.22:15, 23:13, 14 – “Die Rute steht für alle arten von Erziehungsmaßnahmen. Damit wird ausgesagt, dass Schläge Teil der Kindeserziehung sein sollten, jedoch nicht im Zorn, um schwerwiegendere Verletzungen zu vermeiden.”
Oder, diese Möglichkeit muss auch in Betracht gezogen werden, um systematisch Spuren zu vermeiden, durch die die Umwelt, Schule, Nachbarn, Verwandte außerhalb der Sekte auf die gewaltsamen Praktiken gegenüber Kindern aufmerksam würde.

Permanenter Verstoß gegen das Gewaltverbot

Wer die Erfahrungsberichte dieser Quellen liest, muss zum Teil erschrecken, welche Gewalt in Form von Schlägen von den “Zeugen” unter dem Deckmantel der Religion ausgeht. Bei vernünftiger Betrachtung dieser vielfältigen archaischen Methoden, die Kinderrechte und das gesetzliche Gebot gewaltfreier Erziehung rigoros mißachten, Dass sich die Sekte quasi wie eine Geheimgesellschaft von der Öffentlichkeit abschottet, verschlimmert diese Situation noch.  Es ist völlig unverständlich, wie wenig diese offensichtlichen Mißstände in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und es verwundert ebenso, dass die “Zeugen Jehovas” sich bei der Anwendung von gewaltsamen Erziehungsmethoden hinter dem Privileg einer Religionsgemeinschaft verschanzen können.

Hintergründe der Tat in Hamburg ausleuchten

Es ist nicht auszuschließen, dass sich bei der genaueren Analyse des Tathintergrunds und der Ursachen auch Zusammenhänge ergeben könnten, die auf eine psychische Schädigung des Täters durch die archaischen Praktiken und  Gewaltaffinität der Sekte hinweisen.
Aber auch wenn sich die polizeilichen Untersuchungen bisher als blinder Fleck erwiesen haben, der nicht einmal offensichtliche Tatbestände zur Täterpersönlichkeit wahrgenommen hat, ist es überfällig und geboten, dass sich die Hamburger Bürgerschaft in angemessener Zeit, durch einen Untersuchungsausschuß mit der  eindimensionalen, stümperhaften Polizeiarbeit einerseits beschäftigt, und eine Enquète-Kommission mit dem Thema “Zeugen Jahovas” einsetzt, um ihre gewaltaffinen Strukturen und Praktiken, insbesondere bei der Kindererziehung zu erkunden, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären und Konsequenzen für den Status der Sekte als Religionsgemeinschaft zu ziehen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

7 Kommentare

  1. Waweic

    @rolandappel Das ist Victim Blaming und in meinen Augen ziemlich im Ton vergriffen und respektlos

    • Martin Böttger

      Falsch. Sekten sind Täter, nicht Opfer. Opfer sind Individuen. Das Individuumsein ist exakt das, was Sekten an ihren Mitgliedern bekämpfen. Gesellschaften, in denen solche Täter aufwachsen und also sozialisiert werden, müssen sich nach solchen Taten mit Recht harte Fragen stellen. Sekten erst recht. Die Fragen, die Roland Appel aufwirft, sind praktizierter Opferschutz.
      Sekten übrigens gibt es nicht nur in der Religionsbranche. In der Politik auch. Und nicht wenige kleine, mittlere und grosse Unternehmen werden ebenfalls “wie Sekten” geführt. Ein weites Feld. Es gibt keinen guten Grund, das gegen Kritik zu immunisieren.

    • Roland Appel

      Folgt man dieser Logik, dürfte die Polizei bei einem Mord im Rockermillieu aus Rücksicht auf die Angehörigen der Ermordeten nicht mehr ermitteln. Das ist Unsinn. Zu einer ernsthaften Aufklärung eines Verbrechens gehört es, den Tathintergrund und auch die Motivlage des Täters gründlich zu erforschen, denn nur dann ist es möglich, künftige Straftaten dieser Art unwahrscheinlicher zu machen. Die einfache Erklärung “das war halt ein irrer Amokläufer” ist so unzutreffend, wie die These vom “verwirrten Einzeltäter” in Hanau.

  2. Anonymous

    @rolandappel ">Es ist nicht auszuschließen, dass sich bei der genaueren Analyse des Tathintergrunds und der Ursachen auch Zusammenhänge ergeben könnten, die auf eine psychische Schädigung des Täters durch die archaischen Praktiken und Gewaltaffinität der Sekte hinweisen.<Zitat aus: https://extradienst.net/2023/03/20/zeugen-jehovas-und-die-gewalt/Christlicher/ kirchlicher Machtmißbrauch:Das wäre sehr gut möglich.Nichtsdestotrotz:Es bleiben die Opfer, die nicht hätten sein müssen.Im Nachhinein "Schuldige" suchen – Ich weiß nicht.

    • Martin Böttger

      Es geht nicht um “Schuldige”, sondern darum, was gesellschaftlich getan werden kann, dass es sich nicht wiederholt. Es ist nicht 100%ig zu verhindern. Aber es gibt Ursachen, an denen gearbeitet werden kann. Und muss. Dafür muss es diskutiert werden, öffentlich. Das ist Demokratie.

  3. Rolf Sachsse

    Die Zeugen Jehovas markieren nur die Spitze eines Eisbergs evangelikaler Sekten, von denen es allein Deutschland mehrere Hundert mit sicher ein bis zwei Millionen Menschen unter der Fuchtel ihrer “Priester” und Verwalter gibt – das ist obendrein ein Wirtschaftsfaktor, der durchaus mit den sonst so beliebten Clans vergleichbar ist. Das “Herausholen” junger Menschen aus den Klauen dieser Gruppen ist ein mühsames, oft vergebliches Geschäft, wie ich häufiger als Hochschullehrer miterleben musste.

  4. Cource

    In den naturvölkern gibt es solche “abhärtungsmassnahmen” noch, man will die Seele brechen um eine bedingungslose Unterwerfung zu erreichen, dabei entstehen dann die typischen “Radfahrer”(nach unten treten und nach oben buckeln), dieser untertanengeist ist das neue/alte Ziel der weltweiten Machthaber/Regierungen

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