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9. Mai

Zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges – und wie uns der Ukraine-Konflikt an die Schwelle eines Dritten Weltkrieges führt

„Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz.“ (Rabbi Nachman, 1772-1810)

Legion, Kanadas militärhistorisches Magazin, stellte 2018 die Frage, wer den Zweiten Weltkrieg gewann. Der Artikel machte zunächst darauf aufmerksam, dass die Sichtweisen darauf höchst unterschiedlich sind und sich im Verlauf der Zeit offenbar auch änderten. Yougov befragte dazu 2018 Amerikaner, Briten, Franzosen und Deutsche. 50 Prozent der befragten Briten glaubten, ihr Widerstand wäre entscheidend für den Kriegsausgang gewesen. Damit standen sie allerdings allein auf weiter Flur. 56 Prozent der Franzosen glaubten, die USA hätten den Schlüsselbeitrag geleistet und 46 Prozent der Amerikaner dachten ebenso. In Deutschland waren es 34 Prozent. 22 Prozent der befragten Deutschen billigten der Sowjetunion die entscheidende Rolle beim Sieg über den Hitlerfaschismus zu.

Der Artikel notierte ebenfalls, dass Franzosen 1945 mit großer Mehrheit (57 Prozent) der Sowjetunion die Hauptrolle unter den Alliierten bei der Zerschlagung von Nazi-Deutschland zugewiesen hatten. Offenbar hatte ein dramatisches Umdenken stattgefunden.

Legion befragte auch Historiker, um genaueren Aufschluss über deren geschichtliche Einschätzungen zu bekommen. Von diesen befragten Historikern kamen drei zum Ergebnis, die Sowjetunion hätte den größten Beitrag geleistet. Zwei meinten, es wäre der gemeinsame Sieg der Alliierten, einer wies die Hauptrolle den USA und einer Großbritannien zu. Legion schloss den Artikel mit einer Leserumfrage ab, an der sich allerdings nur unter 1000 Menschen beteiligten. Die abstimmten waren mehrheitlich der Auffassung, die Sowjetunion hätte den größten Anteil am Sieg über den Hitlerfaschismus. Aus dem Legion-Artikel ging auch hervor, dass die Sowjetunion und in ihrer Nachfolge Russland selbstverständlich genau dasselbe glauben wie die Hälfte der Briten oder fast die Hälfte der Amerikaner: Das eigene Land erbrachte den entscheidenden Beitrag zum Sieg.

Die Toten

Wie lässt sich bemessen, wer der vier Alliierten am wichtigsten für die Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus war? Legion zog die geschätzte Zahl der getöteten Menschen heran. Geschätzt rund 30 Millionen Bürger der Sowjetunion wurden zu deutschen Kriegsopfern. Umgekehrt sorgte die Rote Armee dafür, dass rund drei Viertel der deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg fielen, durch ihre Hand starben (3,5 Millionen von insgesamt 4,8 Millionen). Hat die deutsche Politik seit 1945 diese humanitäre Katastrophe, die sich damals vor allem auf dem europäischen Teil der Sowjetunion abspielte, mit den immensen zivilen und militärischen Opfern in ähnlicher Weise gewürdigt oder erinnert, wie das im Verhältnis zu den anderen Opfergruppen des deutschen Faschismus gilt?

Der Holocaust ist uns ewiges Schandmal. Der millionenfache Mord an den Polen auch. Der nicht zu vergebende Mord an allem, was aus damaliger rassischer deutscher Sicht sogenanntes „unwertes“ Leben war, wird ebenfalls sichtbarerer Teil der deutschen Erinnerung – ob es nun Sinti und Roma, Behinderte oder Angehörige der Regenbogengemeinschaft waren, die zu Nazi-Opfern wurden. Aber wie halten wir es mit den sowjetischen Opfern des deutschen Faschismus? Wie erinnern wir heute an den Tag der Befreiung (8. Mai), der in Russland als Tag des Sieges (9.Mai) gefeiert wird? Benz stellte beim Nachdenken über den Tag der Kapitulation bzw. Befreiung vom Hitlerfaschismus am Ende die folgende Frage:

„Wir haben keine kleinliche Wiedergutmachungsleistung an jenen Überrest europäischer Juden bezahlt, die wir verfolgten und noch nicht töten konnten. Aber die wirklichen Menschen, die wir da unserer Herrenrasse zu opfern bereit waren, sind immer noch nicht vor unserer sinnlichen Wahrnehmung aufgetaucht. Sie sind ein Teil der derealisierten Wirklichkeit geblieben.“

Sind die sowjetischen Opfer des deutschen Hitlerfaschismus Teil dieser „derealisierten“ Wirklichkeit? Es hat keinen deutschen Kniefall in Moskau (als Hauptstadt der Sowjetunion/ später Russlands) gegeben. Ein Artikel in der TAZ aus früheren Zeiten erinnerte an die Teilnahme des Bundespräsidenten an der Einweihung einer weißrussischen Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus. Lobend wurde hervorgehoben, dass dort nunmehr auch der jüdischen Opfer gedacht werde, ein Ding der Unmöglichkeit noch vor wenigen Jahren.

Offenbar hat das Stalin-Regime nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Besorgnis umgetrieben, die russischen Opfer der Nazis könnten hinter den jüdischen Opfern „verschwinden“. Das soll ein Grund gewesen sein, warum Dokumente von Nazi-Verbrechen an deutschen und sowjetischen Juden durch die Sowjetunion zurückgehalten wurden, wie beispielsweise der Jäger-Bericht, der erst in den 60er Jahren nach Deutschland gelangte. Ein anderer Grund war sicherlich der tiefsitzende Antisemitismus, der damals nicht nur Deutschlands oder die Sowjetunion verseuchte, sondern viele europäische Nationen wie ein Krebs befallen hatte. Heute erinnert ein Denkmal in Deutschland an die Opfer von Jäger. Dieser “Buchhalter des Todes” notierte sehr genau, wer mit der SS in Litauen kollaborierte.

Aber zurück zu den vergessenen Opfern des Zweiten Weltkriegs. Wer sich die Darstellung russischer Geschichte bei der Olympiade in Sotschi anschaute (die Präsentation wurde angeblich von Putin persönlich abgenommen), wird sich erinnern, dass dort der Zweite Weltkrieg keine Rolle spielte, so, als ob Russland zögerte, seine Rolle im Zweiten Weltkrieg in die Waagschale der Völker zu werfen. Es wurde nicht honoriert.

In eine Rede zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges erinnerte der Bundespräsident mit keinem Wort an die großen Opfer, die die damalige Sowjetunion brachte. Aber er verwies neben der EU-Mitgliedschaft auf die deutsche Ostpolitik als ein wichtiges Instrument, mit dem sich Deutschland wieder Vertrauen bei jenen erarbeitete, die zu Opfern von Nazi-Deutschland geworden waren.

In einer Resolution des Europäischen Parlaments zum 80. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges 2019 findet sich ebenfalls kein ausdrücklicher Bezug zu dem großen Leiden der Menschen der Sowjetunion, das der Zweite Weltkrieg für sie bedeutete. Tatsächlich wurde die Gelegenheit benutzt, die komplizierten Wurzeln dieses Krieges radikal zu vereinfachen, den Hitlerfaschismus und das Stalin-Regime auf eine Stufe zu stellen und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt eine direkte Mitverantwortung am Ausbruch des 2. Weltkrieges zuzuweisen (vgl. Punkt 2 der Resolution). Russische Beschwerden dagegen wurden durch eine EU-Behörde als Desinformation abqualifiziert. Das sei Teil des russischen Geschichtsrevisionismus. Eine so vereinfachte Geschichte, wie die, die das Europäische Parlament erzählte, findet sich nicht einmal in der britischen Erinnerung zu den Auslösern des Zweiten Weltkrieges.

Wer ist “Sieger”?

Verschiedene Erinnerungen in Europa sind Teil der komplizierten europäischen Geschichte. Es gibt nicht das eine europäische Geschichtsbuch, in dem sich alle auf einen gemeinsamen Nenner einigen können, wie alles war. Dass aus den einstigen Alliierten gegen Hitlerdeutschland erbitterte Feinde wurden und der Kalte Krieg die Welt in seinem Griff hielt, hat das Geschichtsbild zusätzlich verzerrt. Und das setzte auch schnell nach 1990 wieder ein. Immer geht es um Sieg und die „richtige Seite“ der Geschichte. Die kurze Atempause, die die friedlichen Transformationen in der Mitte und im Osten des Kontinents brachten, wurde nicht genutzt zur kontinentalen Aussöhnung.

Ex-DDR-Bürger wissen sehr viel genauer als viele im Westen Europas oder in den USA, dass bereits in der Sowjetunion hart um die Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges und die Befreier von Berlin gerungen wurde. Damals erhoben vor allem Künstler ihre Stimme, um vor heldischem Kult und Geschichtsklitterung zu warnen. Aber alle einte auch das Bewusstsein der tiefen Tragödie, die sich ins Herz gräbt und es zum Zerbrechen bringt, wenn der Stuhl am Küchentisch auf immer leer bleiben wird. Mit ebendiesem Bild erinnert der US-Präsident Biden regelmäßig an die gefallenen Amerikaner, die in unzähligen, von den USA selbst angezettelten Kriegen ihr Leben gaben.

Nun sind wir wieder in einer Situation, in der Stühle leer bleiben werden auf ewig, in der Ukraine, in Russland. Aber nach wie vor verweigert sich die westliche Politik der Einsicht, dass dieser unsägliche Krieg nicht Resultat von blinder ungezügelter Aggressionslust Russlands ist, sondern eines sich über Jahrzehnte aufstauenden West-Ost-Konfliktes, in dem sich der Westen zum Sieger der Geschichte erklärte und die Rolle der Sowjetunion in der friedlichen Transformation und beim Zustandekommen der deutschen Einheit völlig herunterspielte, Versprechen machte und brach und eine Partnerschaft auf Augenhöhe ablehnte.

Tatsächlich „erbte“ Russland als Nachfolger der Sowjetunion nicht nur den Sitz im Sicherheitsrat oder die Verfügung über sowjetische Atomraketen, es „erbte“ auch das alte Kalte Kriegs-Feindbild, das praktischerweise immer von den „Russen“ sprach. Es „erbte“ die US-Lust, Russland ein für alle Mal „zu entkolonisieren“, sprich zu zerschlagen. Der Ukraine fiel „nur“ die Helferhelfer Rolle zu. So ist es auch kein Wunder, dass der Westen eine frühe Beendigung des Krieges durch Verhandlungen unterlief, denn die strategische Schwächung/ Zerschlagung Russlands war im April 2022 nicht gelungen.

Daniel Ellsberg bezeichnete diese Entscheidung des Westens gegenüber Democracy now als ein „Verbrechen gegen die Menschheit“. (ab Minute 9: 36). Auch Noam Chomsky äußerte sich in einem jüngsten Interview sehr ausführlich und bezeichnete diesen westlichen Winkelzug als „eine Art Sadismus.“ Es lohnt sich immer, Chomsky zuzuhören. Weder Ellsberg noch Chomsky sind Putin-Kostgänger. Sie sehen nur klarer, welches Unheil die dominante Politik bereits über die Welt brachte oder noch bringen könnte.

Milliarden Menschen zu dumm

Statt tiefer Reue zu empfinden über die vertane Friedenschance des letzten Jahres, statt tiefe Dankbarkeit zu empfinden, dass China aber auch andere wichtige Staaten des globalen Südens auf ein Kriegsende drängen und Verhandlungen fordern, wird nach wie vor so getan, als wären viele Milliarden Menschen zu dumm, den richtigen Weg zu sehen, als wäre Putin/Russland für alles ganz allein verantwortlich, und als hätte die Ukraine eine Chance auf den militärischen Sieg. Und dass, obwohl mitten in einem Schmähartikel der NZZ der entlarvende Satz stand, dass die russische Seite die militärische Übermacht in diesem aktuellen Krieg hat.

Wer das negiert und keinen Weg zum Frieden sucht, macht sich mitschuldig an der humanitären Tragödie, die sich in der Ukraine entfaltet. Aber wer könnte Mitleid mit den Ukrainern haben, wenn doch niemals das menschliche Mitleid aufgebracht wurde mit den Opfern der Nazi-Barbarei auf dem Territorium der damaligen Sowjetunion? Nie der Anstand, ihnen die Ehre zu erweisen, die ihnen gebührt? Da beschäftigt sich lieber alle Welt mit der Frage: Feiert oder feiert Moskau den 9. Mai 2023 nicht? Offenbar sind sich viele Kommentatoren einig, dass fast alles, was an Kriegshandlungen aktuell passiert, mit diesem Datum des 9. Mai zu tun hat.

Die ukrainische Post gab eine Briefmarke heraus, die einen brennenden Kreml zeigt, einschließlich Drohne und ukrainischem Soldaten, ausgerechnet an dem Tag, als zwei Drohnen über dem Kreml abgeschossen wurden. Im ukrainischen Fernsehen (1+1) lobte der Banker Jatsenko etwas mehr als 500 000 Dollar für den oder die aus, die erfolgreich eine (nachweislich) ukrainische Drohne am 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau „landen“.

Zu solchen verrutschten Maßstäben kommt es, wenn ein Land plötzlich die eigene Geschichte durch die ultra-nationalistische Brille betrachtet, Nazi-Kollaborateure und Mörder posthum zu Helden stilisiert und so auch das Andenken der Opfer des Nazi-Regimes schändet. Der ukrainische Präsident schaffte (wie andere vor ihm) das Kunststück, Russland gedanklich vollständig aus „unserem Europa“ zu verbannen, um den 9. Mai (Europatag) zu feiern.

Nein, die Ukraine ist nicht voller Nazis. Wäre dem so, wäre Selenkyj 2019 nicht gewählt worden. Er wurde gewählt, um Frieden mit Russland zu bringen. Nur stand das nicht auf dem westlichen Plan, und ergo stand es dann auch nicht mehr auf dem Plan von Selenskyj. Diejenigen, die diesen Friedensschluss verspielten, und er wäre möglich geworden durch das Abkommen von Minsk 2, fühlten sich nicht an Völkerrecht gebunden, aber labern inzwischen darüber, dass der Kreml das Völkerrecht brach, so als wäre das ein Alleinstellungsmerkmal Russlands. Ihre eigenen Missetaten stilisierten sie zu diplomatischem Geschick. Dass sich eine (ost)deutsche Bundeskanzlerin mit dazu hergab, macht es sehr viel schlimmer.

Aber es gibt in der Ukraine gefährliche Leute, die wir nicht wahrnehmen wollen, und falls doch, gelten sie uns schon beinah als Helden. Leute mit Sonnenrädern und sonstigen Erinnerungsmerkmalen auf der Haut (Anm.: nein, keine Nazis, nur geschichtsinteressierte junge Leute), Leute, die „Adolph“ als „Kriegernamen“ wählen (Anm.: ganz sicher „nur“ eine Leseratte mit besonderer Neigung für Adolph Muschg) oder Leute, die in gut geschneiderten Anzügen stecken und Andersdenkende wie Kriegsverbrecher behandeln wollen, auch vor Mordaufträgen nicht zurückschrecken oder Terroranschläge legitimieren, sollten wir fürchten.

Um jeden Preis

Die Logik der Neokonservativen in den USA ist: Wir haben zweimal gesiegt. Wir waren die Gewinner des Zweiten Weltkrieges, wir waren die Gewinner des Kalten Krieges, die USA sind zur alleinigen Führung der Welt berufen. Also gewinnt sie auch diesen (fast schon totalen) Krieg gegen Russland. Die deutsche Politik hat sich ohne Wenn und Aber inzwischen in diese Logik eingefügt und damit gezeigt, dass sie gar nichts aus der Geschichte gelernt hat. Die hegemoniale Logik ist die des Gewinnens. Um jeden Preis. Die russische Logik heute ist, dass Russland nicht verlieren darf. Auch um jeden Preis.

Ohne Ausgleich bleibt es so, als würden zwei nuklearbestückte Hochgeschwindigkeitszüge aufeinander zurasen, ohne Stellwerker und ohne Weichen, die einen Zusammenprall verhindern. Es ist deshalb völlig irrsinnig, in einer solchen Situation über „Siegfrieden“ oder „Unterwerfungsfrieden“ zu sinnieren, ideologisch Trennendes in den Vordergrund zu stellen oder über Moskaus Siegesfeiern zu fabulieren. Ein nuklearer Supergau ist der große Gleichmacher. Er tötet fast alle und mit jedem Tag, der im aktuellen Ukraine-Konflikt vergeht, rücken wir dem Ende der menschlichen Zivilisation ein Stück näher.

So wie der erste Weltkrieg zu einem Geburtshelfer des Zweiten wurde, entstand im Zweiten Weltkrieg und seinem Gefolge das größte militärische Vernichtungspotential, das wenige Staaten auf sich vereinen. Wenn das losbricht, wird es mit Sicherheit nirgendwo mehr Siegesfeiern geben. Unsicher ist jedoch, ob die wenigen Menschen, die das ganze Trauma der darauffolgenden vielen Jahrzehnte überleben sollten, noch Menschen sein werden im Wortsinn.

Die letzte Siegesfeier

Lasst also Moskau seiner Millionen Toten gedenken und sich einer Siegeslast rühmen, die der Westen vergaß. Mögen nur Kraniche heute über Moskau ziehen. Mögen die vielen gebrochenen Herzen auf der ganzen Welt diejenigen sein, die uns vor uns selber retten.

Über Petra Erler (Gastautorin):

Petra Erler: "63jährige Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.

7 Kommentare

  1. Petra Hennicke

    Sehr beeindruckender und sehr kluger Text. Seit Jahrzehnten erzähle ich Menschen, dass die Sowjetunion 20 Millionen Menschen im Krieg verloren hat. Wohlmeinende sagen: „Ach so, das wusste ich gar nicht.“ Andere starren mich schweigend an. Wieder andere sagen: „Da möchte ich aber mal Beweise sehen.“
    Ich persönlich habe den Eindruck, dass das Nicht-Wissen(Wollen) dieser Fakten auch damit zu tun hat, dass man sich dieser Schuld gegenüber der Sowjetunion nicht stellen bzw. sie lieber vergessen will. Stattdessen spüre ich manchmal, in privaten Gesprächen, noch die alte Angst „vorm Russen“ aus der Kriegszeit. Und weil sie irgendwie noch da ist, fällt alles Anti-Russische auf fruchtbaren Boden.
    Dass Angela Merkel nicht zum 80. Jahrestag des Kriegsendes nach Moskau gefahren ist, fand ich erschütternd. Nicht minder erschütternd fand ich Annalena Baerbocks fröhliche Plauderei über ihren Opa, den Wehrmachtsoffizier, an dessen Rückzug über die Oderbrücke sie zur Feier der »Wiedervereinigung Europas« 2004 gedacht habe. Damals habe sie empfunden: »Wow, wir stehen nicht nur auf den Schultern von Joschka Fischer, sondern auch auf denen unserer Großeltern.«

    • Petra Erler

      Vielen Dank für Ihr Lob, aber auch für Ihre Erfahrungen bzw. Einschätzungen. Man kann nur immer wieder versuchen, hörbar zu sagen, was sich aus der deutschen geographischen Lage, Größe und Geschichte an Verantwortung ergibt – nach West und Ost.

  2. Reinhard Olschanski

    Ein Hauptproblem der russischen Erinnerungskultur in Nachfolge der sowjetischen liegt darin, dass sie den Krieg im Jahr 1941 anfangen lässt und nicht 1939, mit dem Molotow-Ribbentrop-Europa, das sich die ostmitteleuropäischen Länder unter den Nagel riss und in den zwei folgenden Jahren bis 1941 heftigste Verbrechen beging, z.B. den Versuch der Ausrottung der polnischen Eliten in Katyn. Vielleicht nicht in Russland, aber in unseren östlichen Nachbarstaaten dürfte Ihr Text tiefes Stirnrunzeln hinterlassen, liebe Frau Erler. Und zwar nicht nur bei „Nazis“, sondern bei der großen Mehrheit der Bevölkerung. Es ist an der Zeit zu begreifen, was in den „Bloodlands“, also bei unseren nächsten Nachbarn, wirklich geschah: Polen, Baltikum, Ukraine, Weissrussland und natürlich auch der westliche Rand Russlands. Ja, es waren die Alliierten und natürlich die Rote Armee, die uns vom Faschismus befreit haben. Wir haben keinen Grund, unseren Revanchisten (die inzwischen merkwürdigerweise fest an der Seite Russlands stehen) in irgendeinem Punkt nachzugeben und den Faschismus zu relativieren. Das Nicht-Relativieren gilt in gleichem Maß allerdings auch für den Stalinismus.

    • A.Holberg

      Ungeachtet der notwendigen Kritik an der letztlich konterrevolutionären Polik Stalins und seiner Bürokratie, die ihren aktuellen Ausdruck in der Entwicklung der Oligarchen von Kiew bis Moskau gefunden hat, übersehen Sie m.E. die mannigfachen Bemühungen der damaligen SU, die sich durchaus stets der Tatsache, dass Hitler Krieg bedeute, bewusst war, schon lange vor Kriegsbeginn eine Verteidigungsallianz mit den westlichen “Demokratien” zu schmieden, zu denen übrigens die rechtsnationalistischen Regime in Polen, einem seit langem, wenn es die Möglichkeit dazu hatte, expansiven Staat, ebenso wenig gehörte wie die baltischen Staaten, in denen sich schließlich auch starke Kräfte fanden, die auf Seiten der Hitler-Armee kämpften – wie bekanntlich auch die aktuelle Speerespitze der ukrainischen bewaffneten Kräfte, die Anhänger von Stepan Bandera & Co. Diese Versuche der SU scheiterten damals, mit größter Wahrscheinlichkeit , weil die westlichen “Demokratien” hofften, Hitler werde das erfolgreich beenden, was ihnen selbst nach der Oktoberrevolution verwehrt geblieben war, die Herrschaft der Bolschewiki zu stürzen. Die SU hatte beispielsweise auch Polen versucht, ihren Truppen ein Durchmarschrecht ge’n Westen zu gewähren, um dem drohenden deutschen Vormarsch frühzeitig entgegentreten zu können – vergeblich. Den Rest kennen wir.

  3. mikefromffm

    “Petra Erler, 63jährige Ostdeutsche” … dass es da zu solchen verrutschten Maßstäben kommt, wie man oben lesen muss, wundert dann nur bedingt.

  4. Petra Erler

    JFK hat am 10. Juni 1963 seine Überlegungen zu einem Weg zum globalen Frieden dargelegt.
    Heute sind wir von seinen Grundüberzeugungen weiter entfernt als je zuvor, aber sie sind und bleiben m.E. hochaktuell. Auch, was er damals grundsätzlich zum Umgang mit der Sowjetunion sagte und zur Notwendigkeit, im eigenen Haus zu kehren bzw. Vertrauen in die Ausstrahlungskraft von Demokratie zu haben.
    Es hat sich rausgestellt, dass er irrte, was die Kriegsbegeisterung der USA betrifft.
    https://www.jfklibrary.org/archives/other-resources/john-f-kennedy-speeches/american-university-19630610

    Ich lege diese Rede gerne jenen ans Herz, die mutmaßliche Stirnrunzler wären oder meinen, meine ostdeutsche Biographie führe zu “verrutschten” Maßstäben.
    Denn ganz grundsätzlich ist doch klar, dass im Konflikt alles zur Waffe gerät und nur, wenn das friedliche Zusammenleben im Vordergrund steht, man sich behutsam und respektvoll den vielen verschiedenen Facetten nationaler Geschichten in Europa so nähern kann, damit daraus Verständigung und Einsicht entsteht. So verstehe ich die europäische Idee und die ist nach meiner Wahrnehmung ebenfalls aktuell zutiefst gefährdet.

  5. Tobias Kühne

    Frau Erler vermischt in Ihrem Text ziemlich viele Ebenen miteinander. Dass die Ausgangsfrage “Wer leistete den Schlüsselbeitrag zum Sieg der Alliierten” in verschieden Ländern zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet wird, ist wenig überraschend. Aber die Frage ist ja schon verkehrt gestellt, zumindest aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive. Es gab nicht den einen entscheidenden Beitrag, der hier gegenüber anderen gewichtet werde müsste und dann eine Art ranking generiert. Es gäbe hierfür auch keine rationalen Indikatoren (Verluste, Kosten etc.), die derartiges liefern könnten. Und es gibt mehr als genug Fachliteratur, die gutes Wissen zum alliierten Sieg und schlüssige Interpretationen anbieten. Es sind gerade britische Historiker wie Richard Overy oder Ian Kershaw, die hier überhaupt keine “pro-westliche” Brille aufhaben und die Sowjetunion selbstverständlich stark mit einbeziehen und dabei keineswegs nur Spezialisten erreichen. Frau Erler scheint nur die Standardliteratur zum 2. Weltkrieg überhaupt nicht zu kennen. Auch die “westliche” Literatur zur sowjetischen und postsowjetischen Geschichte von Orlando Figes, Andreas Kappeler, Hans-Heinrich Nolte oder Manfred Hildermeier u.v.m. Dass also die sowjetische/russische Perspektive in der westlichen Wissenschaft (und auch in populären Fernsehformaten) keine Berücksichtigung gefunden habe, ist schlichtweg falsch. Aus dieser Position des Nicht- und Halbwissens dann einen politisch einseitigen Text historisch zu begründen, geht dann fast automatisch in die Hose. Die Unterstellung einer Kompetenz qua (ostdeutscher) Herkunft rundet dann das Bild leider sehr ungünstig ab.

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