Zum “Rätsel” NordStream: Vertuschen, Leugnen, Irreführen und wer die Macht dazu hat – Was, wenn ein NATO-Monöver außer Kontrolle gerät?

Laut Tagesschau bestellte Russland jüngst die Boschafter von Dänemark, Deutschland und Schweden wegen mangelnder Fortschritte bei der Untersuchung der Sabotage auf NordStream ein. Russland nutzte aus, dass die betreffenden Länder gegenüber dem UN-Sicherheitsrat versichert hatten, intensiv an der Untersuchung des Vorfalls zu arbeiten. Mit diesem Argument (und um die wertvollen UN-Ressourcen nicht zu „verschwenden“) scheiterte der russische Vorstoß nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung.

Außerdem scheiterte das russische Bemühen, voll an den Untersuchungen der betreffenden Länder beteiligt zu werden. Schließlich geht es um Pipelines, die ganz oder teilweise in russischem Eigentum sind. Anfänglich konnte man das noch nach der Methode „Skripal“ behandeln (man wird doch dem Attentäter keinen Zugang zu den Ermittlungen gewähren). Mittlerweile aber hat man trotz intensivstem Bemühen keine Hinweise auf eine russische Tatbeteiligung gefunden, aber dennoch, Russland bleibt außen vor, und die allermeisten halten das offenbar auch für normal.

Unabhängig davon belebten deutsche Medien in der vergangenen Woche kurz das Thema NordStream und verfolgten ihre Lieblingstheorie: Eine Jacht und merkwürdige Spuren, die nach Polen und in die Ukraine führen. Wenn die Süddeutsche mit im Rechercheverbund ist, wird der eine oder andere alte Hase sich schon denken: München, Pullach, wer weiß? Vielleicht hat dort einer gezwitschert?

Interessanterweise hat eine andere Theorie aus den USA in Deutschland überhaupt kein Interesse geweckt.

In The Nation erschien Anfang Mai ein Artikel des US-Investigativreporters James Bamford. Daraufhin sprach Jeremy Scahill vom The Intercept mit Bamford. Bamford glaubt nicht, dass Hersh mit seiner Beschreibung des Geschehens richtig liegt. (Anm.: Egal, wie oft der Altmeister es auch behauptet und wie viele es auch glauben wollen, m.E. ist Hershs Version ganz und gar nicht rund).

Bamford hat ebenfalls gute Verbindungen zur US-Geheimdienstgemeinde. Er hätte nichts gehört, was darauf hindeuten würde, diese wäre in irgendeiner Weise aktiv involviert gewesen. Bamford verfolgte die These, dass Polen und die Ukraine ebenfalls Motiv, Gelegenheit und die Fähigkeit gehabt hätten, einen derartigen Anschlag durchzuführen. Aber nach Bamford sind es keine Taucher, die Sprengladungen anbringen. Er glaubt, die Sprengungen könnten auch mittels unbemannter Unterwasserfahrzeuge erfolgt sein. Solche lenkbaren Waffen gibt es, sie lassen sich mittels eines Laptops steuern, und auch innerhalb von drei Monaten zünden.

Bamford vermutet, dass die USA wissen, wer der mutmaßliche Täter ist, denn sie hätten weltweit, auch in der Ostsee, ein sensibles Geräuscherkennungssystem positioniert, das praktisch wie eine Fingerabdruckdatei funktioniere. Bamford weist ebenfalls darauf hin, dass laut Washington Post es in Kiew diskutiert worden sein soll, eine Ölpipeline nach Ungarn zu sprengen. Keiner weiß, ob diese Geschichte stimmt, aber wenn erst einmal eine Pipeline attackiert wurde, warum nicht auch andere?

Was die Bamford-Geschichte so interessant macht, ist, dass sie, so wie auch die These von Hersh, wieder zurückführt auf die mutmaßlichen Umstände, unter denen die Sabotage in Gang gesetzt wurde: Das Militärmanöver der NATO BALTOP 2022, an dem auch die Ukraine teilnahm. Alle übrigen in westlichen Medien erörterten Versionen führen davon weg, räumlich und zeitlich.

So wie Hersh glaubt auch Bamford an einen staatlichen Akteur, ganz in Übereinstimmung mit ersten offiziellen Aussagen aus Schweden. Auch das ist etwas, was in allen anderen westlichen Versionen entweder ganz oder teilweise vernebelt wird.

Die Fragen lauten also:

Wann? Von BALTOPS wissen wir, dass es dort einen Manöverteil gab, der theoretisch den Rahmen für die Operation bot.

Wie? Haben wir es mit Tauchern zu tun, die Sprengladungen anbringen und wenn ja, wie sind die an die Orte der Sabotage gelangt? Sind sie abgetaucht oder wurden sie durch Unterwasserfahrzeuge transportiert?

Womit wurde gesprengt? Laut Hersh war es eine Schneidsprengung. Laut zweier deutscher Experten ist das durch das bekannte (als Foto dokumentierte) Schadensbild ausgeschlossen. Wurden Grundminen verwendet oder könnte es sich auch um gesteuerte Unterwasserfahrzeuge gehandelt haben? Lässt die Art und Weise der Ausführung einen Rückschluss auf die Täterschaft zu? Warum wurden keine „state of the art“ – Sprengungen gemacht, die den gleichen Zweck erfüllt hätten, sondern die „Holzhammer“-Methode gewählt, die maximale Aufmerksamkeit sicherte?

Wer? Wer hat ein Aufklärungsinteresse? Russland und China erklärtermaßen im UN-Sicherheitsrat; Russland auch in bilateralen Demarchen. Dagegen versichern Dänemark, Deutschland und Schweden im UN-Sicherheitsrat, die Untersuchungen professionell und zügig führen zu wollen, erklären aber gleichzeitig ihre Untersuchungen zur geheimen Kommandosache. In Deutschland verweigert die Bundesregierung auch dem Bundestag die Auskunft.

Wer hatte ein Interesse an der Sprengung von NordStream, sprich an der gleichzeitigen dauerhaften Schädigung von Russland und Deutschland? Es ist völlig klar, dass eine solche Sprengung als Kriegsakt angesehen werden kann. Wer geht ein solch hohes politisches Risiko ein und hat gleichzeitig die finanziellen und militärischen Mittel, die Tat durchzuführen? Die unmittelbaren politischen Reaktionen der drei ermittelnden Länder fallen auseinander. In Deutschland wird alles zunächst heruntergeredet, nach dem Motto, war ja zu erwarten.

Diese deutsche Reaktion ist bis heute äußerst irritierend. Ich glaube, sie war der perfekte Ausdruck völliger Überforderung und ideologischer Verblendung. Denn obwohl Nord Stream 2 längst auf Eis lag, hatte man sich doch in Deutschland immer wieder alle Mühe gegeben, der russischen Seite die Verantwortung für die versiegenden NordStream 1 Lieferungen zu geben. Wusste man nur nicht, was man sagen sollte, war man faktisch schockgefrostet, oder war alles ganz anders?

Denn die Hersh-These, dass Deutschland daran gehindert werden sollte, nochmals mit Russland über NordStream zu reden, impliziert ja auch, dass Deutschland genau danach trachtete: Aus der Allianz des Westens auszuscheren und lieber billiges russisches Gas zu importieren und Frieden mit der Ukraine zu suchen. Natürlich habe ich keinen Zugang zu Geheiminformationen, aber soweit mir bekannt ist, lenkt nicht die Wagenknecht die Geschicke des Landes und die damals handelnden Personen sind völlig unverdächtig, so zu denken.

Rezession des deutschen Erfolgsmodells – gleichgültig?

Dass Deutschland heute (technisch) in einer Rezession ist, hat sehr viel damit zu tun, dass es den aktuell Regierenden völlig gleichgültig ist, was das bisherige Erfolgsmodell Deutschlands war: Um deutsche Löhne bezahlen zu können, und trotzdem Exportweltmeister zu sein, sprich, den Wohlstand Deutschlands sozialverträglich zu sichern, musste Deutschland alles billig kriegen, was es braucht, um teuer zu produzieren: die Energie, die Rohstoffe. Dann kam die deutsche handwerkliche und industrielle Tradition dazu und schwupps, konnte man auf den Weltmärkten punkten, mit höheren Preisen als andere. Mit „deutscher Qualität“ (meisterlich)

Die aktuelle Koalition hat dieses Wirtschaftsmodell zerbrochen und es schert sie offenbar auch nicht, wohin die Reise für sehr viele Deutsche gehen wird. Man muss dazu sagen, dass es der CDU auch völlig egal ist (die immer noch zuvorderst damit beschäftigt scheint, NordStream als russische Tat hinzustellen). Aber das nur am Rande.

Schweden und Dänemark erklärten sehr zügig die Angelegenheit zur Sabotage, aber auch, sie als Staatsgeheimnis behandeln zu wollen. Die EU verurteilte umgehend (in der Annahme einer russischen Schuld), und wollte zügige Aufklärung und selbstverständlich auch, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Deutschland zog nur nach. Polen und die Ukraine zeigten als erste Länder öffentlich mit dem Finger auf Russland. Diese These wurde zunächst auch von den USA mehr oder minder unterstützt. Konsequenterweise prägte das die ursprünglichen Vermutungen im liberalen westlichen Mainstream. Inzwischen wird nur in dänischen Kreisen weiter an der These einer russischen Täterschaft festgehalten, während deutsche und schwedische Aussagen darauf hindeuten, dass es dafür keine Anhaltspunkte gibt.

Man begeht nicht einfach einen „Kriegsakt“

Alle bisher in westlichen Medien verfügbaren Hypothesen konzentrierten sich auf politische und ökonomische Motive (wer profitiert?). Meines Erachtens wird deshalb das wichtigste Kriterium übersehen: Die Fähigkeit, eine ruchlose Tat zu begehen, muss verbunden sein mit der Fähigkeit, diese Tat zu verstecken. Man begeht nicht einfach so einen „Kriegsakt“. Wer ein solches Risiko eingeht, muss sich hinreichend sicher sein, die Macht zu haben, die Aufdeckung zu verhindern, die Ermittlungen beeinflussen zu können, Ermittlungsergebnisse zu unterdrücken und zur Lenkung der öffentlichen Meinung (im Westen) im Stande zu sein.

Ohne Rückhalt durch die Führungsmacht der westlichen Welt, die USA, ist es nahezu ausgeschlossen, dass irgendein anderer westlicher Staat (oder die Ukraine) allein/zu zweit gehandelt haben könnte. Ist es vorstellbar, dass die USA nicht eingeweiht waren, aber dann aus übergeordneten politischen Gründen gezwungen wurden, den/ die Täter decken? Um beispielsweise die Geschlossenheit von NATO und EU in Bezug auf Russland und die Ukraine nicht zu beschädigen?

Das ist vorstellbar, auch wenn es sehr schwerfällt, das zu glauben. Falls die USA sich zu einem solchen Schritt gezwungen sähen, würden sie das auf andere Weise vergelten. Denn sie wären in einem solchen Fall das Land, das von einer kleineren Macht am Ring durch die Manege gezerrt würde. Der Imperator lässt sich sowas nicht gefallen, denn er erschiene schwach. Das ist auch der Grund, warum ich persönlich keinen Moment an irgendeine Hypothese glaube, die sich auf Polen und die Ukraine konzentriert. Beide Länder brauchen die USA mehr als umgekehrt (und es gibt auch keinen Hinweis auf irgendeine Form von „Liebesentzug“ seitens der USA).

Schmerz des zerfallenen Empire?

Wenn es überhaupt ein Land gibt im westlichen Bündnis, dass die Chuzpe hätte, es hinter dem Rücken der USA zu tun, ist es im Kreis der 5-Augen zu suchen, genauer gesagt, beim engsten Alliierten der USA, Großbritannien. Die Briten sind die wichtigsten Bündnispartner der USA. Deren gemeinsame Kooperation geht sehr viel weiter, als etwa die deutsch-amerikanische Kooperation. So heilt London (ein bisschen) den Schmerz, dass das britische Empire seinen Händen entglitt und in die amerikanische Verfügung überging und die USA „helfen“ den Briten bei der Therapie.

Das führt zur Frage, warum Russland kurz nach dem Anschlag behauptete, die „Angelsachsen“ stünden dahinter, um sich dann nach dem Hersh-Artikel dessen Sichtweise zu eigen zu machen, dass die USA dahintersteckten (gemeinsam mit Norwegen). War der erste Schuss einer ins Blaue, gegen zwei langjährige politische Gegner, der zweite dann eine Gelegenheit zur Desinformation und zur Anprangerung der USA oder steckt mehr dahinter?

Für mich ist die Hersh-These nach wie vor (USA plus Norwegen) völlig abstrus und sein Plot enthält mehr handwerkliche Fehler als überzeugende Argumente. Ich halte ihn nach wie vor für das Opfer einer gezielten Desinformationskampagne, die aus dem Kreis stammt, aus dem sein Informant kommt. Mit Hersh sollten meines Erachtens drei Dinge erreicht werden: Durch die Verbindung mutmaßlicher Täterschaft der USA mit Norwegen sollten sowohl die USA als auch ein potentiell anderer Akteur aus dem Kreis der Verantwortlichen für den Sabotageakt ausgeschlossen und damit auch die Aufmerksamkeit von dem NATO-Manöver als Gelegenheit zu seiner materiellen Vorbereitung abgelenkt werden.

Laut Hersh waren auch die Dänen und die Schweden in irgendeiner Weise involviert. Es gab bei ihm einen sehr großen Kreis von Mitwissern. Und das wiederum führt zur Frage, wie groß der Kreis der Mitverschwörer war.

Mögliche Mitwisser

Option 1: Der Kreis war sehr klein, um das Risiko der Entdeckung der Verschwörung zu minimieren. (Ich gebe dieser These den Vorzug, wie ich auch der These den Vorzug gebe, dass ein Land, das bisher überhaupt nicht im Zentrum aller möglichen öffentlichen Versionen des Anschlags stand, der Mit-verschwörer war.)

Zweitens, der Kreis war sehr groß, um alle zu Mitverschwörern zu machen. Dann hätten alle die Entdeckung zu fürchten und verhalten sich wie die Lemminge. Gegen diese These spricht das deutsche Verhalten. Oder die deutsche Seite war im NATO-Manöver zu blöd, zu begreifen, was ablief. Das möchte ich mir nun wirklich nicht vorstellen.

Aber wäre dem so, dass unter dem Mantel eines NATO-Manövers etwas so Verdammungswürdiges wie die Vorbereitung der Sabotage von NordStream ablief, dann könnte das Schule machen. Das nächste NATO-Manöver im Juni ist längst beschlossen. Abseits der Frage, ob es klug ist, es unter den gegebenen Umständen überhaupt durchzuführen, böte es die furchtbare Gelegenheit, dass sich zwischen NATO und Russland ein Missverständnis einschleichen könnte, das -anders als NordStream – irreparabel wäre.

Zumal aktuell noch zwei Faktoren dazukommen: Bakhmut ist gefallen (was die ukrainische Seite verhindern wollte). US-Luftabwehrtechnologie (Patriot) hielt den Kinschal-Raketen nicht stand.

Wer in der Defensive ist, wird gefährlicher. Aktuell ist das nicht Russland.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.