Ein Wahlsonntag naht. ARD und ZDF platzieren pflichtschuldigst Sondersendungen. Alle sind es so gewöhnt. Kommunalwahl in Bremen, kleiner als Köln. Und, falls Sie es übersehen haben: in Schleswig-Holstein sind auch Kommunalwahlen. Das Dritte des NDR sendet auch dazu.

Drei Mio. Menschen türkischer Herkunft leben in der BRD – also rund 5 mal mehr, als es Bremer*innen gibt. Wie können die sich informieren? Rund die Hälfte von ihnen ist als türkische Staatsbürger*in dort sogar wahlberechtigt. Welchen Sender sollen die gucken?

Ich habe die Programmankündigungen gründlichst abgesucht, aber im deutschen TV-Programm keine Sondersendung gefunden. Gibt es kommenden Sonntag irgendwo auf der Welt eine wichtigere Entscheidung als in der Türkei? Immerhin besteht die einmalige Chance, einen Despoten mit demokratischen Mitteln abzusetzen. Viele haben an diese Chance nicht mehr geglaubt. Und viele glauben es auch erst, wenn es wirklich passiert. Wie wird es passieren? Was passiert in den kommenden zwei Wochen, wenn ein 2. Wahlgang erforderlich wird, eine recht wahrscheinliche Option?

Ich habe bereits auf Analysen hingewiesen, dass die Hoffnungen auf einen Regimewechsel in der Türkei nicht überladen werden dürfen. Sollte Erdogan abgewählt werden, wird auf ihn keine wirklich fortschrittliche Regierung folgen, weder innen- noch aussenpolitisch. Hinter seinem Gegenkandidaten Kemal Kılıçdaroğlu hat sich ein heterogenes Bündnis versammelt, das nahezu alle entfernt demokratisch orientierten Kräfte vereint. Geradezu ein bündnisstrategisches Kunstwerk, von dem sehr fraglich sein dürfte, was davon einen “Wahlsieg” überlebt.

Es ist aber eine historische Weichenstellung für die Türk*inn*en, die im Land geblieben sind. Können sie grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte als Bürger*innen ihres Landes wahrnehmen, oder werden sie ihnen weiter verwehrt? Können sie öffentlich streiten, oder droht ihnen Verhaftung und Gefängnis? Im Falle eines Sieges von Kılıçdaroğlu wird die türkische Zivilgesellschaft jeden minimalsten Fortschritt in einem gesellschaftlich offenen Diskurs erkämpfen müssen. Unter Erdogan wäre diese Option tot. Das sind elementare Fragen, die für deutsche Medien am Sonntag scheinbar uninteressant sind.

Für Jürgen Gottschlich/taz, der seit Jahrzehnten in der Türkei lebt, nicht. Hier sein Vorbericht: Vor den Wahlen in der Türkei: Die Opposition ist optimistisch – Durch den Rückzug eines Zählkandidaten steigen die Chancen auf einen Wahlsieg der Opposition. Vor allem junge Leute wollen den Wechsel.”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net