Kirchenmitglieder sind in Deutschland nur noch eine Minderheit. Hochrechnungen haben ergeben, dass im Frühjahr 2022 die 50%-Marke unterschritten wurde: Erstmals seit rund 1000 Jahren sind Christen in unserem Land eine Minderheit – mit rund 41 Mio. Mitglie­dern. 19,7 Mio. (23,7% der Bevölkerung) gehören der Evangelischen und 21,8 Mio. (26%) der Katholischen Kirche an. Jahrhundertelang war es selbstverständlich, Mitglied einer der bei­den gro­ßen Kirchen zu sein. Dies hat sich jetzt radikal geändert, fast schon eine his­torische Zäsur.

Zählt man die Orthodoxen Christen (1,5 Mio. Mitglieder) und die Mitglieder anderer christli­cher Gemeinschaften (rund 900.000) hinzu, so lag der Anteil der Christen Anfang 2022 noch bei 53 %. Natürlich sind das rein statistische Angaben, die nichts über die Veran­kerung der Personen in der Kirche besagen. Beispielsweise zählen alle Minderjährigen mit, die bekanntlich in der Regel ungefragt als Kleinkinder getauft werden. Auch sind wohl nicht alle Kirchenmitglieder überzeugte Christen: Manche treten wegen ihrer Familie oder ihres Berufes nicht aus, andere bleiben aus Tradition oder wegen der öffentlichen Wirkung in der Kirche, und wieder andere treten einfach nicht aus, weil sie es immer wieder ver­schieben, weil es sich nicht gehört oder weil vielleicht doch etwas daran ist.

Andererseits gibt es gewiss Personen, die christlich fühlen und denken, ohne Mitglied ei­ner Kirche zu sein. Dazu zählen z.B. diejenigen, die die Kirche wegen ihrer Dogmatik oder aus vergleichbaren Gründen verlassen haben oder die keinen Verein brauchen, um ihren Glau­ben zu leben. Eine Sondergruppe bilden die Pantheisten. Für sie ist Gott weder christlich noch muslimisch noch sonstwie Sinnbild irgendeiner konventionellen Religion. Sie glau­ben, dass die Schöpfung ein Teil von Gott ist und nicht von ihm geschaffen wurde. Ein personifizierter Gott existiert nicht.

Die Zahl der Muslime verschiedenster Glaubensrichtungen wird auf knapp 6 Mio. Perso­nen geschätzt (weniger als 7% der Bevölkerung). Da die Zugehörigkeit zum Islam stan­desamtlich nicht erfasst wird, gibt es keine exakten Angaben. So heißt es, dass nur rund zwei Drittel konfessionsgebunden, also Mitglied einer Glaubensinstitution seien. Alle ande­ren Religionsgemeinschaften stellen zusammen knapp 1% der Bevölkerung, darunter Buddhisten (270.000), Juden (185.000), Hindus (100.000) und Jesiden (100.000). Insge­samt sind in Deutschland über 100 verschiedene Religionsgemeinschaften vertreten. Kon­fessionslos sind 35 Mio. Einwohner/innen (42%).

Der Mitgliederschwund in der Katholischen und der Evangelischen Kirche hatte sich schon seit längerem abgezeichnet, in den letzten Jahren jedoch zugenommen. Neben dem Tod von Kirchenangehörigen und einem Rückgang bei den Taufen spielen Austritte eine zunehmenden Rolle. Zum Beispiel hat es nach den Missbrauchsskandalen und -gut­achten in Köln und in München eine Flut von Austritten gegeben. Allerdings erfolgen Aus­tritte nicht nur aus Protest gegen kirchliches Fehlverhalten, sondern auch aus Glaubens­gründen oder um Steuern zu sparen. Möglicherweise gibt es sogar irgendwann einen Kipppunkt, wenn sich die Ansicht verbreitet, dass es „in“ ist, aus der Kirche auszutreten.

Schon die Wiedervereinigung hatte statistisch einen starken Einfluss auf den Anteil der Christen an der Bevölkerung ausgeübt. Während Christen 1949 bei der Gründung der DDR noch 90 % ausmachten, waren 1989 nur noch knapp 40 % Mitglied einer religiösen Gemeinschaft.

Die sinkenden Mitgliederzahlen gehen einher mit einem zurückgehenden Einfluss der Kirchen. Früher haben sie in viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineingewirkt, nicht zuletzt auch in die Gesetzgebung. Sie bestimmten maßgeblich die geltenden Famili­en-, Moral- und Wertvorstellungen, beeinflussten aber auch Bereiche wie soziale Gerechtigkeit und bioethische Themen, bis hin zur Frage der Grenze von Leben und Tod. Mit sich ändernden Familienstrukturen, Emanzipation, materieller Sicherung und sich wandelnder sozialer Verhältnisse begann der Niedergang des kirchlichen Einflusses. Die Teilnahme am kirchlichen Leben sank und damit ging auch der Einfluss der Religion auf die Lebens­führung zurück.

Dies zeigt sich beispielsweise im Umgang der Kirchen mit Nicht-Mitgliedern, die be­stimmte Erwartungen an die Kirchen haben. Manche heiraten gern kirchlich, obwohl sie konfessionslos sind. Gute Beziehungen und Spenden können dann helfen. Christian Lind­ner hat es vorgemacht. Auch soll es Konfessionslose geben, die christlich beerdigt wer­den möchten. Selbst das ist möglich, wenn es der Wunsch der Angehörigen ist und dem Willen des Verstorbenen entspricht. Dann entscheidet ein Pfarrer, ob und in welcher Form der Verstorbene kirchlich begraben werden kann.

Inzwischen haben die beiden Großkirchen eingesehen, dass sie ihre Ansprüche an Staat und Gesellschaft zurückschrauben müssen. Während sie bisher ein individuelles Arbeits- und Sozialrecht praktizierten, das sich „an der Glaubens- und Sittenlehre und an der Rechtsordnung der Kirche ausrichtete“, Verstöße als Pflichtverletzung wertete und im Ex­tremfall zur Kündigung führte, gilt seit Jahresbeginn in der katholischen Kirche eine neue „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“, die unabhängig von Geschlecht, sexu­eller Identität und Lebensform der Mitarbeiter/innen gilt. Der Austritt aus der Kirche bleibt aber weiterhin ein Einstellungshindernis bzw. Kündigungsgrund.

Auch in einem anderen Punkt zeigt sich Bewegung. Die Staatsleistungen, die die Kirchen seit 1919 für die Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgte Enteignung von Kircheneigentum erhalten und die jährlich rund 550 Mio. € betragen, sollen endlich abgelöst werden. Dieser Auftrag steht sogar in der Verfas­sung (Art. 140 GG), doch wurde er seit mehr als hundert Jahren nicht verwirklicht. Nunmehr will die Ampelkoalition die jährlichen Zahlungen durch eine Ablösesumme ersetzen. Die Kirchen sind verhandlungsbereit. Vorgesehen ist, in die­sem Jahr zu einer Einigung zu kommen, damit das Gesetz 2024 in Kraft treten kann. Die Kirchen haben einen Ablösefaktor von 18,6 genannt. Bei Jahreszahlungen von 550 Mio. € wäre das eine Ablöse von mehr als 10 Mrd. €. Seitens der Politik wird dieser Betrag als deutlich zu hoch angesehen.

Auf die Vielzahl von Privilegien, die ihnen eingeräumt wurden, wollen die beiden Kirchen nicht verzichten. Da gibt es eine fast unübersehbare Vielfalt: Kirchensteuereinzug, Steuer­freiheit für Zinsen und Immobilien, Mitgliedschaft in Rundfunkräten und anderen öffentli­chen Gremien, Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen, kirchliche Feiertage, Bekenntnis-s­chulen, Religionsunterricht, kirchliche Fakultäten, Seelsorge in öffentlichen Einrichtun­gen, Beichtgeheimnis, Taufe ohne Einwilligung, Austritt nur durch Verwaltungs­akt.

Obwohl die Staatskirche 1919 abgeschafft wurde, erleben wir überall und immer wie­der staatskirchliche Elemente. Wer ein öffentliches Amt antritt, kann seinen Amtseid öffent­lich um die Formel ergänzen „So wahr mir Gott helfe“. Dabei gibt es ein Urteil des Bundesv­erfassungsgerichts von 1965, das folgendes besagt: “Das Grundgesetz verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und un­tersagt auch die Privile­gierung be­stimmter Bekenntnisse.”  Vielleicht ist die religiöse Beteuerungsformel also gar nicht ver­fassungskonform. Wie wäre wohl die Reaktion, wenn jemand sagen würde “Soweit mir Al­lah helfe”?

Kürzlich habe ich gelesen, Gott wäre schon lange aus der Kirche ausgetreten, wenn es ihn gäbe.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.