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DER SPIEGEL auf “Aluhüte”-Kurs ?

Der SPIEGEL ist für mich eine demokratische Ikone der Bundesrepublik. Ich gehöre zu den Menschen, die 1962 schon lebten und – wenn auch nur als Kind – die “Spiegel-Affäre” erlebt und erst viel später verstanden haben. Als linker Liberaler fühle ich mich Rudolf Augstein geistig verbunden – nicht zuletzt, weil wir beide bis 1982 in der damals noch sozialliberalen FDP waren – und es schmerzt um so mehr, sehen zu müssen, dass Teile dieses Medienunternehmens langsam in mehr als zweifelhaftes Fahrwasser des Populismus abrutschen.

“Gesunder Menschenverstand”- Anbiederung an Populismus?

Da sind zum einen die Kolumnen “Gesunder Menschenverstand” in der Printversion. Die Kategorie “gesund” im Zusammenhang mit Denken und Meinungen genannt jagt mir kalte Schauer über den Rücken, beim Gedanken daran, was meine Elterngeneration an braunem Mist verzapft und für “Gesunden Menschenverstand” gehalten hat. “Gesundes Volksempfinden” war übrigens der Original-NS-Begriff, der unter anderem Rassenhass, Folter, Diskriminierung und Deportation sowie die Morde des Volksgerichtshofs legitimierte.  “Gesunder Menschenverstand” liegt in vielen Beträgen, die sich darauf berufen, nicht weit ab vom modernen politischen Populismus. Der SPIEGEL Rudolf Augsteins hielt sich streng an kritischen Analyse und die Prinzipien der Aufklärung.  Was “Spiegel-TV” sich am Wochenende dagegen geleistet hat, ist schon eine Beschwerde beim Presserat wert.

Im Internet kursiert seit einigen Tagen ein Bericht von  “Spiegel-TV” über den heroischen Professor der Medizin und Immunologen, Prof. Dr. Stöcker, der angeblich eine Art Corona-Impfstoff entwickelt habe, den er auch an seiner Familie und vielen Mitarbeiter*innen getestet habe, der aber leider von der etablierten Bürokratie des Paul-Ehrlich-Instituts nicht ernstgenommen würde. Das vermeintliche Genie habe nun die Formel seines Wundermittels auf der Homepage für alle Welt veröffentlicht. Damit, so der Beitrag von Spiegel-TV, könne man die Pandemie buchstäblich “pulverisieren”.

Gefährliche Experimente nicht erkannt

Ich bekam den Link zum Bericht von einer Leserin unseres Blogs zugesendet und bin den Sachverhalten nachgegangen. Das Urteil einer seriösen Medizinjuristin war geradezu vernichtend: Er habe nicht nur klinische Prüfungen ohne Genehmigung durchgeführt, womit er sich strafbar gemacht habe, er habe auch gegen jede wissenschaftliche Regel verstoßen, indem er Familienangehörigen und Mitarbeiter*innen diesen ungeprüften Stoff injiziert hat. Wenn eine Mitarbeiterin im Video sinngemäß sagt “ich vertraue dem Herrn Doktor”, ist das nicht nur eine Form von Mißbrauch abhängiger Personen und arbeitsrechtlich mehr als problematisch – leider sind auch jegliche Ergebnisse dieses Vorgehens wissenschaftlich unbrauchbar: da die Standards einer klinischen Prüfung umgangen wurden, können die so gewonnenen Daten nicht ausgewertet werden.

Weder wurden die Probanden vorher untersucht, noch gibt es die „Placebo“-Vergleichsgruppe, und versichert sind die Probanden auch nicht. Auch Prof. Drosten, der in dem Bericht scheinbar als Befürworter genannt wird, weist in seiner Antwort auf Risiken des Verfahrens hin, und zwar solche, die im schlimmsten Fall bei einer späteren Corona-Infektion die Erkrankung erheblich schwerer verlaufen lassen könnte. Offensichtlich hat sich hier jemand aus Überheblichkeit heraus über die gesetzlich vorgesehenen Verfahren hinweggesetzt. Auch ein Prof. Stöcker hätte natürlich beim PEI einen Antrag auf Klinische Tests stellen können und müssen. Die Autor*innen des Berichts haben  dies alles entweder nicht erkannt oder bewusst ignoriert.

Journalismus auf intellektuellem Querdenker-Niveau

Aber jenseits der virologischen und strafrechtlichen Kategorien und Verstöße unterschlägt der “Spiegel-TV”-Bericht dies alles und bastelt stattdessen am Bild vom mißachteten Helden, der das Volk gegen die gierige Pharmaindustrie beschützt- schönes Klischee. Ein John Wayne der Virologie, der seine Gesetze selber schreibt. Wenn es aber stimmt, dass er vor wenigen Jahren sein erfolgreiches Unternehmen für eine Milliarde Euro verkauft hat, ist das um so verwerflicher. Denn er hätte damit die nötigen Untersuchungen und klinischen Tests mühelos finanzieren können. Interessant auch die mediale Perzeption dieses Betrags, der von Kreisen der “Impfgegner” beklatscht wird, obwohl sie sich doch sonst so radikal gegen die Unabsehbarkeit von Nebenwirkungen und Spätfolgen der Impfungen wenden. Schöne Schizophrenie der Aluhüte, mag man da nur zur Kenntnis nehmen.  Wie wirklich gravierend die wissenschaftlichen und rechtlichen Regelverletzungen sind, die diese Art Journalismus unterschlägt, macht ein Artikel  von Petra Falb  deutlich.

Wiederholt hat der geschätzte Herausgeber dieses Blogs auf die schwierige journalistische Rolle der verschiedenen “SPIEGEL”-Produkte hingewiesen. “Spiegel Online” hat ja verschiedentlich versucht, die BILD-Zeitung des Internet zu werden und das alte Lügenflaggschiff der Springer-Presse in seinem angestammten Metier zu übertreffen. Spiegel-TV scheint sich mit diesem Beitrag auf den Weg zum deutschen “Fox-News” begeben zu haben. Mit seriösem Journalismus hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.

Spiegel-TV – Symptom einer tiefgreifenden Medienkrise

Denn seriöser Journalismus wird in Zeiten der Werbegeldabgreifer Facebook und Google, Instagram, Youtube und Co. nicht mehr hinreichend bezahlt. Warum ist das so? Weil diese angeblich “sozialen Netzwerke” in Wirklichkeit Werbeagenturen sind, die auf ihren Kommunikationsplattformen Menschen und ihre Interessen und Neigungen ausspionieren – seit vielen Jahren unter Verstoß gegen die europäischen Datenschutzgesetze – und deshalb der Wirtschaft viel zielgenauer und personalisiert Werbung anbieten können, als es Printmedien können, und damit so umfassend genau die Anzeigengelder der Wirtschaft kassieren, aus denen sich früher die privatwirtschaftliche Presse finanziert hat. In der Folge sind seriöser Journalismus und die Presse als “vierte Gewalt” in ihrer Existenz akut bedroht.

Und eine Medienpolitik, die das ändert, ist weit und breit nicht in Sicht.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Lieber Roland, Deine verklärenden Erinnerungen an den Spiegel und Augstein sen., die Du ja auch entsprechend gekennzeichnet hast, halten einem Vergleich mit der Wirklichkeit, und dem aktuellen Forschungsstand darüber,
    https://www.wolfgangmichal.de/2016/08/01/lutz-hachmeister-ich-wollte-dem-spiegel-nicht-schaden/
    nicht stand. Bis heute profitieren so viele davon, nicht zuletzt die Mitarbeiter*innen selbst über ihre Beteiligungs-KG,
    https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel-Mitarbeiter_KG
    dass sie es nicht durch übermässige Erforschung zum Einsturz bringen wollen.
    https://extradienst.net/2017/12/02/die-sz-der-bnd-und-der-spiegel/

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