Im KW Institute for Contemporary Art arbeitet sich Christopher Kulendran Thomas an der gescheiterten Geschichte der tamilischen Befreiungsbewegung auf Sri Lanka ab – mit postdigitalen Mitteln

Ein junger Künstler lehnt sich zurück in den blauen Sitz eines Busses. Er philosophiert über Kant, die Menschenrechte, die Geschichte seines Landes. An dem Fahrzeug zieht die Landschaft Sri Lankas vorbei, später Bilder von Galerien in Colombo, der Hauptstadt der Insel im Indischen Ozean.

Wen die jüngsten Geschehnisse in Sri Lanka in Christopher Kulendran Thomas’ Ausstellung „Another World“ in den Kunst-Werken (KW) getrieben haben, wird zunächst enttäuscht. Denn „Being Human“, die 2019 entstandene Videoarbeit des 1979 in London als Kind tamilischer Eltern geborenen Künstlers und seiner Partnerin Annika Kuhlmann, ruft noch einmal die Vorgeschichte des aktuellen Konfliktes auf: Den Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Singhalesen 1983 bis 2009, und die Zeit kurz danach.

„Wie erzählt man die Geschichte der Verliererseite eines Konflikts, wenn die Geschichte bereits von den Gewinnern geschrieben wurde“ – diese Frage von Thomas zieht sich wie ein roter Faden durch seine und Kuhlmanns Arbeit. Der Künstler belässt es nun nicht bei der melancholischen Erinnerung an die verlorene Geschichte. Vielmehr versucht er, sie mit zeitgenössischen Mitteln weiterzudenken. 2016 konnte man das schon einmal sehen. „New Eelam“, der Titel der Arbeit, die Thomas zur 9. Berlin-Biennale beisteuerte, rief den von den tamilischen Separatisten geforderten Staat „Tamil Eelam“ auf. Die damalige Idee eines eigenständigen, egalitären und technikbasierten Wirtschaftssystems extrapolierte Kulendran zu dem Online-Brand „New Eelam“, die ein Subskriptionsmodell für genossenschaftliches Wohnen jenseits von festem Wohnen und territorial gebundener Staatsbürgerschaft anbot.

Dieselbe Amalgamierung des Historischen und des Postdigitalen findet sich auch in den Arbeiten in den KW. Wenn in „Being Human“ ein Avatar des Popstars Taylor Swift über Kunst und Kapital sinniert und damit die Rolle der Kunst bei der Gentrifizierung des Post-Bürgerkriegs-Sri-Lankas thematisiert. Oder wenn ein Avatar der armenischstämmigen US-Schauspielerin und Influencerin Kim Kardashian in dem neu kommissionierten Film „The Finesse“ über nationale Selbstbestimmung spricht, soll die historische Problematik in die Gegenwart transponiert werden.

Zu sehen ist „The Finesse“ auf fünf menschhohen, waagrecht nebeneinander montierten Bildschirmen. In eine „architektonische Halluzination“ (KW) verwandeln sie die Etage in den KW nicht unbedingt. Doch das Interesse an der verschwundenen Gesellschafts-Architektur Tamil Eelams ist durch den cineastischen Blend zumindest geweckt.

Hightech auch bei der Malerei nebenan: Die Werke mit schrundigem Grund und abstrakten Formen ähneln Ölbildern der Klassischen Moderne. Sie entstanden aber mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Geschaffen wurden sie von neuronalen Netzwerken, die zuvor mit Beispielen des westlichen Kunstkanons gefüttert worden waren, den die Briten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, importiert hatten. Zusätzlich wurden diese Netze mit Werken befreundeter Künst­le­r:in­nen angereichert. Die Formen, zu der die Netzwerke diese Ingredienzien fusionierten, ließ Kulendran Thomas dann zurück auf Leinwand übertragen. Das Ergebnis liest sich wie eine Persiflage der ästhetischen Kolonisierung des Globalen Südens durch den Globalen Norden. Kontrastiert werden diese denkwürdigen Hybride durch die originalen, viereckigen Keramik-Arbeiten von einem der künstlerischen Köpfe in Tamil Eelam.

Die Ausstellung entführt in ein Reich zwischen Realität und Simulation

Ganz nebenbei wird mit dem Einsatz der KI die Idee des genialen künstlerischen Subjektes dekonstruiert. Und mit dem Vertreter eines kollektiven Projektes auch an die Idee einer sozial verantwortlichen Künstlerschaft erinnert. „Another World“ ist eine anspruchsvolle Ausstellung, die sich bildnerisch und historisch allerdings erst auf den zweiten Blick erschließt.

Es fehlt auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem zeitweiligen Terrorcharakter von Tamil Eelam. Die „Tigers“, die die nie anerkannte Republik beherrschten, und ihre Anhänger wurden nach dem Bürgerkrieg zwar von den siegreichen Singhalesen zu Tausenden massakriert. Sie selbst hatten zuvor aber Hunderte Selbstmordattentate verübt.

Doch wer Versuche sehen will, die aus der Glut einer alten die Funken einer neuen Utopie zu schlagen suchen, findet in der Schau spannende Ansätze. Sie entführt in ein verblüffendes Zwischenreich aus Dokumentation und Fiktion, Realität und Simulation – in dem immer die bohrende Frage nach Gerechtigkeit lauert.

Another World. KW Institute for Contemporary Art, bis 15. Januar 2023. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).