Beim Dortmunder Anschlag vom vergangenen Dienstag wurden die Spieler der Borussia, Menschen die sonst ständig unter Beobachtung der Öffentlichkeit stehen, zu ganz gewöhnlichen Opfern eines Terroranschlags mit allen damit verbundenen Folgen. Schon von Wohnungseinbrüchen wissen wir, dass die Opfer oft monatelang traumatisiert sind. Bei Terrorangriffen lösen Explosionsknall, Ausnahmesituation und die Erkenntnis über die Folgen – auch nicht eingetretene – bei den unmittelbar Betroffenen wie auch bei Zeugen ein Trauma aus. Deshalb werden die Opfer nachhaltig psychologisch betreut, um ihnen zu ermöglichen, das Ereignis zu verkraften. Werden solche Erlebnisse verdrängt, kann es zu langfristigen psychischen Irritationen oder Störungen kommen. Schlaflosigkeit, Alpträume, einem Burn-Out ähnliche Symptome und letztich Arbeitsunfähigkeit sind möglich. Wichtig sind Gespräche, gemeinsame Aufarbeitung, psychologischer Rat in einem geschützten Raum ohne Druck. Ohne Druck bedeutet auch, selbst entscheiden zu können, wann man an den Ort des erlittenen Anschlags zurückkehren möchte. Auch seelsorgerische Betreuung kann für manche Betroffenen eine wichtige Hilfe sein. Für nichts davon wurde den Spielern von Borussia Dortmund genügend Zeit gelassen.

Berichte von Spielern, dass ihnen erst bei der Heimkehr zu ihrer Familie klar wurde, dass sie gerade einem Mordanschlag entgangen waren oder die Erkenntnis, dass der Nagel, der in einer Kopfstütze gefunden wurde, auch wenige Zentimeter daneben in einem Spielerkopf hätte stecken können, machten erst am Donnerstag das wahre Ausmaß des Angriffs klar. Die Entscheidung der UEFA, das Spiel schon am Folgetag nachzuholen, war unter diesem Gesichtspunkt ein Skandal. Rücksichtslos, brutal und, wie wir inzwischen wissen, ohne Spieler oder Trainer in die Entscheidung einzubeziehen oder auch nur zu fragen, setzten die Funktionäre ihre Interessen durch. Die Interessen eines Verbandes, der nichts anderes als ein Milliardengeschäft betreibt, reibungsloses Funktionieren oberstes Gebot und für Rücksichtnahme kein Platz ist. In der kommenden Woche wäre ja schon das Rückspiel terminiert, lauteten die Ausflüchte gegen Kritik.

Die Sportpsychologin Ohlert von der Deutschen Sporthochschule Köln nannte die Austragung des Spiels am Folgetag unverantwortlich. “Die Spieler haben einen Angriff auf ihr eigenes Leben erlebt und sollen jetzt wieder in den Alltag zurück kehren. Das ist aus meiner Sicht überhaupt nicht machbar…, weil sie wirklich ein Trauma erlebt haben”. Frankreichs Ex-Naionaltrainer, Raymond Domenech, sah die Spieler von Borussia Dortmund nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus einem großen psychologischen Druck ausgesetzt. “Die Dortmunder haben einen ihrer Mitspieler verletzt gesehen. Sie sagen sich, dass sie Glück gehabt haben. Aber sie werden psychisch ausgelaugt sein.” Der Spielverlauf bestätigte beide. Keine 22 Stunden nach dem Anschlag war die Mannschaft überhaupt nicht fähig, wie sonst zu spielen, erst nach mehr als einer Stunde fand so etwas wie ein Mannschaftsspiel statt. Tags darauf äußerte sich Trainer Tuchel zu den Hintergründen und machte öffentlich, dass die Behauptung, die UEFA habe sich mit den Betroffenen abgestimmt, eine Lüge war. Die Entscheidung wurde von der Vereinsspitze getroffen, ohne Rücksicht auf die Spieler. Was lernen wir daraus? Fußball ist schon lange kein Spiel mehr, sondern wird von zwei elementaren Interessen getrieben:

Zunächst von Verwertungs- und Profitinteressen, Kennzeichen einer weltweit agierenden Unterhaltungsindustrie, in die der Fußball durch korrupte Sportfunktionäre wie Josef Blatter, Franz Beckenbauer und Michel Platini verwandelt worden ist. So wie Bernie Ecclestone den Formel 1 Zirkus zu einem Milliardenunternehmen gemacht hat, so wie unter den Präsidenten von Samaranch bis Bach seit Jahren im IOC der Kommerz regiert und die olympischen Spiele längst ihren eigentlichen Sinn verloren haben, lässt diese Maschine keinen Stillstand zu. Hauptprofiteure davon waren und sind Medienmogule wie Silvio Berlusconi und Rupert Murdoch, RTL oder das US-Medienkonsortium, das nun die Formel 1 von Ecclestone erworben hat. Aber auch eine weltweite, zwielichtige Wetten-Industrie und Sportartikelhersteller von Adidas über Puma bis Nike, sie alle drängen darauf, dass diese Gelddruckmaschine um jeden Preis am Laufen gehalten werden muss. Das Statement von BVB-Präsident Reinhard Rauball zum Anschlag spiegelt das wider: “Für den Fußball ist das eine neue Entwicklung, eine sehr, sehr unangenheme Entwicklung. Das werden die Spieler auch nicht so ohne Weiteres aus den Köpfen kriegen.” Das lässt wenig Sensibilität für die Gefühle der Spieler erkennen. Kein Wunder, hat Rauball doch als langjähriger Funktionär im Deutschen Fußballbund und DFL die gut geölte Profitmaschine mitgestaltet. Das Spiel musste stattfinden, damit keine wirtschaftlichen Verluste entstanden. Dieselben Gründe waren ausschlaggebend, als vor einigen Jahren die Formel 1 kurz nach dem “arabischen Frühling” in Bahrain ihre Runden drehte, obwohl kurz zuvor Saudi-Arabische Panzer die Opposition gegen die dortigen Herrscher niedergewalzt hatten. RTL-Reporter trauten sich damals nicht einmal, im Interview den Prinz der Herrscherclique auf die Menschenrechtssituation im Land anzusprechen.

Darüber hinaus ist der Sport zu einem Publicity-Baustein im vermeintlichen “Krieg gegen den Terror” geworden. So ließ sich die Politik nicht nehmen, die Situation zu instrumentalisieren. Bundesinnenminister De Maizière kam zum Spiel, sprach der Mannschaft seine Solidarität und die der ganzen Bundesregierung aus, outete sich “zufällig” als BVB-Fan und beteiligte sich so daran, den öffentlichen Druck auf die Spieler noch zu erhöhen. Hannelore Kraft, derzeit im NRW-Landtagswahlkampf, kam ins Stadion und lobte die Solidarität der Fans. Es geht nicht darum, diesen beiden böse Absichten unterstellen – sie reagierten im Rahmen der erlernten Schemata ihrer Ämter: Weiter so, die Maschine muss laufen, uns wirft nichts aus der Bahn. Innezuhalten, nachzudenken und dies nicht sofort als “Kapitulation vor dem Terror” zu begreifen, lässt ihr Verständnis von der eigenen Rolle gar nicht mehr zu. Sie weigern sich, Innezuhalten und versäumen es, sich mit den Ursachen des Terrorismus und der wachsenden Gewalt fundierter als bisher zu befassen.

Die Politik bleibt damit im übrigen hilflos gegen AfD und Neonazis, die solche Anlässe immer wieder für Stimmungsmache gegen den Islam mißbrauchen. Was der Regierung Norwegens als Reaktion auf die Anschläge des Terroristen Breivik gelang, nämlich keine Gesetze zu verschärfen, sondern eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Ursachen von Terror und Gewalt zu führen und daraus nachhaltig Konsequenzen zu ziehen, ist bei uns derzeit undenkbar. Gerhart Baum hat als liberaler Innenminister im “Deutschen Herbst” umfangreiche wissenschaftliche Forschung über die Ursachen und Hintergründe, Biografien und Ideologien der RAF gefördert, die letztendlich die Grundlage für die später gefundenen politischen Wege zur Beendigung des “bewaffneten Kampfes” führten. SPD und CDU haben den “Krieg gegen den Terror” inzwischen so verinnerlicht, dass der Blick auf die Ursachen unterbleibt.

Ob so erfolgreiche Terrorverhütung auf Dauer gelingen kann, ist mehr als zweifelhaft. Den Spielern des BVB wurde gleich zweifach keine Chance gelassen: Sie mussten tapfer gegen den Terror und für den Kommerz kicken. Ihre Gefühle, Ängste und Sorgen waren dabei ebenso unwichtig wie faire Ausgangsbedingungen für beide Mannschaften. Wenn Fußball ein Abbild unserer Gesellschaft ist, können wir daraus eine Menge lernen.

Dieser Beitrag erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net