Neue Gentechnik: Alte Interessen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse

I.

Am 7. Februar hat das Europäische Parlament mit knapper Mehrheit dafür gestimmt, dass die meisten Pflanzen, die mit neuen gentechnischen Verfahren entstehen, in Zukunft in der Europäischen Union ohne Prüfung und Kontrolle angebaut werden dürfen. Auch die Mehrheit verlangt aber wichtige Änderungen am Vorschlag der EU-Kommission: Alle neuen gentechnisch veränderten Lebensmittel sollen gekennzeichnet werden. Sie sollen ausserdem nachverfolgbar sein, damit sie für den Fall verboten werden können, dass sich im Laufe der Zeit Zweifel an ihrer Sicherheit ergeben.

Die Mitgliedstaaten der EU haben sich bisher nicht mit der notwendigen Mehrheit auf eine gemeinsame Position verständigt. Damit scheint es gegenwärtig unwahrscheinlich, dass die endgültige Entscheidung über den künftigen Umgang mit der neuen Gentechnik in deer Europäischen Union noch vor den Europawahlen Anfang Juni fallen wird.

II.

Die so gewonnene Zeit sollte dafür genutzt werden, das für und wider der neuen gentechnischen Verfahren intensiv zu diskutieren und dabei alle vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Eine besondere Rolle kann dabei eine wissenschaftliche Stellungnahme der in Frankreich fachlich zuständigen Behörde für „Lebensmittelsicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz“ (Anses) spielen. Ihr Bericht über die „Risiken und sozio-ökonomischen Herausforderungen im Zusammenhang mit NGT-Pflanzen“ wurde am 22. Januar 2024 fertiggestellt und sollte rechtzeitig vor der Abstimmung im Europäischen Parlament am 7. Februar veröffentlicht werden. Tatsächlich wurde der Bericht erst am 6. März 2024 durch einen Artikel in „Le Monde“ öffentlich und am Tag darauf auch offiziell veröffentlicht.

Stéphane Foucart, Autor des Artikels, sieht dahinter die Absicht der französischen Regierung, den Abgeordneten wissenschaftliche Erkenntnisse vorzuenthalten, die nicht zum politisch gewünschten Ergebnis passen. Die französische Regierung und die sie stützenden Abgeordneten im Europäischen Parlament sind für die erleichterte Zulassung der neuen gentechnischen Verfahren.

Der Bericht der „Anses“ ist das Ergebnis intensiver wissenschaftlicher Arbeiten von Mai 2022 bis Dezember 2023. Die von der Behörde beauftragten unabhängigen Wissenschaftler und Forscherinnen haben u.a. die Veröffentlichungen in einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften in den Jahren 2021 bis 2023 ausgewertet, um sich ein möglichst umfassendes Bild zu verschaffen, ob es Risiken gibt und welche das gegebenenfalls sind.

Im Ergebnis kommen verschiedene wissenschaftliche Arbeitsgruppen zu klaren Ergebnissen und Empfehlungen, die sich die französische Behörde zu eigen gemacht hat und die sich in zentralen Fragen von dem unterscheiden, was die EU-Kommission vorgelegt hat.

Sie halten es für nicht angemessen, fast alle durch neue Gentechnik erzeugten Pflanzen von Prüfung und Kontrolle auszunehmen. Stattdessen befürwortet die „Anses“ eine Prüfung von Fall zu Fall, ohne bestimmte neue gentechnische Verfahren von vornherein von einer Risikoprüfung zu befreien. Die französischen Fachleute fordern ausserdem, ein System zur Überwachung der Umweltauswirkungen einzurichten. Nur so könnten Entscheidungen korrigiert werden, die sich als falsch herausstellen.

Die Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zeigt, dass neue gentechnische Verfahren, anders als von der EU-Kommission und den Befürwortern von Deregulierung behauptet, durchaus mit Risiken verbunden sein können und sind. Darauf gestützt stellt die „Anses“ fest, dass bestimmte für die neuen gentechnischen Verfahren identifizierte Risiken sich nicht grundlegend von den Risiken der ersten Generation gentechnischer Verfahren unterscheiden. Wegen der viel grösseren Zahl möglicher Anwendungen könnten sogar sehr viel mehr auf diese Weise erzeugte Pflanzen betroffen sein.

III.

Auch die sozio-ökonomischen Folgen einer vereinfachten und unkontrollierten Zulassung neuer gentechnischer Verfahren müssen nach Auffassung der Wissenschaftlerinnen und Forscher, der sich die Behörde anschliesst, sehr sorgfältig bedacht werden. Dazu gehörten die Frage der Patentierbarkeit neuer gentechnisch hergestellter Sorten, die wirtschaftliche Konzentration auf immer weniger Unternehmen der agro-chemischen Industrie und die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. All das sind Fragen, die mit wirtschaftlicher Macht und auch mit der künftigen Rolle der Landwirte und der Landwirtschaft bei der Erzeugung von Lebensmitteln zu tun haben.

Die „Anses“ empfiehlt den politisch Verantwortlichen aus ihrer fachlichen Sicht, Wachsamkeit, um Ungleichgewichte zwischen den wirtschaftlichen Akteuren was die Verteilung des Mehrwerts angeht, zu begrenzen und die marktbeherrschende Stellung von Unternehmen zu vermeiden. Auch die Erwartung, Pflanzen aus neuen gentechnischen Verfahren identifizierbar und nachverfolgbar zu machen, könne erhebliche Folgen für die Branchen haben.

IV.

Der Bericht der französischen Fachbehörde auf der Grundlage einer umfassenden Aufarbeitung des aktuellen Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse stellt Vorgehen und Vorschlag der Europäischen Kommission massiv in Frage. Die behauptet bekanntlich, fast alle Pflanzen, die mit neuen gentechnischen Verfahren erzeugt werden, liessen sich nicht von konventionell gezüchteten Pflanzen unterscheiden und müssten deshalb wie diese behandelt werden.

In Deutschland sind die Ergebnisse der französischen Wissenschaftlerinnen und Forscher bisher noch nicht in der gesellschaftlichen und politischen Debatte angekommen. Abgesehen von ganz wenigen fachlich spezialisierten und sachkundigen Organisationen und websites wie „Testbiotech“ und „Informationsdienst Gentechnik“ mit kritischer Grundposition findet man bei einer Recherche im Netz keine Treffer, wenn man nach Reaktionen auf den Bericht der französischen Fachbehörde sucht.

Auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung steht auch drei Wochen nach Veröffentlichung des französischen Berichts:

„Die Wissenschaftsgemeinschaft ist sich einig, dass Neue Züchtungstechniken keine neuen Risiken gegenüber der traditionellen Züchtung mit sich bringen.“

Nein, Frau Ministerin, die Wissenschaftsgemeinschaft ist sich nicht einig. Diese Nachricht muss endlich auch im für Bildung und Forschung zuständigen Ministerium ankommen. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen immer Ernst genommen werden. Nicht nur dann, wenn sie ins politische Konzept passen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog der Republik, hier mit freundlicher Genehmmigung des Autors. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.

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