Im März 2021 legten rund 200 Wissenschaftler/innen aus aller Welt die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA) vor. Die meisten von ihnen sind Jüdinnen und Juden, die in Bereichen wie jüdischer Geschichte, Antisemitismus und Holocaust arbeiten. Die Erklärung enthält „eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemimusmus“. Sie könnte kann dafür sorgen, die Auseinandersetzung um Israelkritik und Antisemitismus zu versachlichen.

Antisemitismus wird in der Erklärung als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden“ bestimmt. In fünfzehn Leitlinien wird dies detaillierter definiert: Jüdinnen und Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen und sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agenten Israels zu behandeln, sei antisemitisch, heißt es dort beispielsweise. Nicht antisemitisch sei dagegen faktenbasierte Kritik an Israel als Staat oder der Hinweis auf systematische, rassistische Diskriminierung im Umgang mit den Palästinensern. Boykottbewegungen seien „gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protestes“ und nicht per se antisemitisch.
Schon im August 2020 hatten sich 60 deutsche und israelische Wissenschaftler in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Sie drücken darin die Sorge vor einem “inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs” aus, der auf die “Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik” ziele. Der Vorwurf des Antisemitismus habe seinen Ursprung häufig in einer Einflussnahme aus Israel. – Es war nicht der erste Brief, in dem diese Sorgen ausgedrückt werden.

Es ist zu hoffen, dass wissenschaftlichen Definitionen wie die Jerusalemer Erklärung sich durchsetzen und den politisch einseitig gefärbten Text der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verdrängen. Dieser ist weitgehend auf den Nahostkonflikt bezogen und vernebelt den Unterschied zwischen Antisemitismus und Kritik an der Politik Israels. Dennoch wird er immer wieder herangezogen und dazu missbraucht, Israelkritik als Antisemitismus zu diffamieren. Inzwischen gibt es passend dazu das neue Schlagwort „israelbezogener Antisemitismus“, mit dem Israelkritiker mundtot macht werden sollen. Betroffene sprechen dann von der Antisemitismuskeule, die geschwungen wird.
Natürlich teilen bei weitem nicht alle Jüdinnen und Juden diese Haltung. Es gibt Minderheiten in Israel, die sich für eine Beendigung der Siedlungspolitik, für Frieden und Ausgleich mit den Palästinensern und für die Gründung eines eigenen palästinensischen Staates einsetzen. Viele dieser Juden äußern sich mit Worten, die sich Nichtjuden nie trauen würden. Aber die staatliche Politik ist anders. Die Logik der herrschenden Meinung in Israel ist simpel: Israel ist ein jüdischer Staat. Daher sind Angriffe auf diesen Staat Angriffe auf das Judentum und damit Antisemitismus.

Deutlich wird dies im Umgang mit der Boykottbewegung BDS. „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ ist eine internationale politische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell isolieren und international unter Druck setzen will, die „Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes“ zu beenden, das „Grundrecht seiner arabisch-palästinensischen Bürger auf volle Gleichheit“ anzuerkennen und „das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf eine Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum gemäß UN-Resolution 194 zu schützen und zu fördern.“ Die Behauptung, die BDS verlange die Vertreibung der Juden aus ganz Palästina, ist unwahr und dient offenbar der Diffamierung des BDS.

BDS-Aktivisten fordern Politiker, Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler oder Sportler dazu auf, Auftritte, Investitionen oder wissenschaftliche Kooperationen abzusagen oder zu beenden. In Großbritannien, den USA und Skandinavien findet der BDS eine spürbare Resonanz, in Deutschland weniger.

Die Ziele des BDS erscheinen nachvollziehbar und unterstützenswert, zumal sie fast ausnahmslos auf UN-Resolutionen beruhen. 1947: Bildung unabhängiger Staaten für Juden und Araber, vereint in einer Wirtschaftsunion. 1946: Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. 1967: Aufforderung an Israel auf Rückzug aus den besetzten Gebieten. 1973: Untersagung der Gründung von Israelischen Siedlungen im besetzten Gebiet und der Enteignung von Grundstücken der Palästinenser. 2003: Forderung nach der Koexistenz zweier souveräner Staaten.

Der Deutsche Bundestag fasste dennoch im Mai 2919 – nicht zuletzt aufgrund israelischen Drucks – mit großer Mehrheit die peinliche Entscheidung, die BDS als antisemitisch einzustufen. Dies führte dazu, dass bei Veranstaltungen zur BDS, aber auch zu anderen israelkritischen Themen jüdische Institutionen die Streichung von Zuschüssen oder die Verweigerung von Räumlichkeiten verlangen, nicht selten mit Erfolg. Künstler/innen, die die BDS-Bewegung unterstützen (wie der Musiker Roger Watson), wird „Judenhass“ unterstellt. Die Jüdische Gemeinde Berlin sorgte für den Rücktritt des Leiters des Jüdischen Museums, dem Nähe zur BDS unterstellt wird. Viele weitere Beispiele findet man im Internet unter „Wissenschaftliche Artikel zur Verhinderung von Israelkritik”.

Der Europäische Gerichtshof entschied hingegen 2019 sachgerecht und ließ sich nicht durch israelische Proteste beirren: Waren aus den besetzten palästinensischen Gebieten sind als solche zu kennzeichnen und dürfen nicht als „made in Israel“ angeboten werden.

Deutschland fühlt sich Israel gegenüber verpflichtet und votiert bei internationalen Abstimmungen zumeist im Sinne Israels. Sollte dies mal nicht der Fall sein, so lässt die israelische Reaktion oft nicht lange auf sich warten. Als Beispiel eine Stellungnahme der Deutsch-Israelischen Gesellschaft vom 24.3.2021: „…. fällt Deutschland Israel ein weiteres Mal bei den Vereinten Nationen in den Rücken. Mit der Unterstützung einer anti-israelischen Resolution im UNO-Menschenrechtsrat in Genf motiviert Deutschland die Feinde Israels darin, ihren politischen Kampf gegen den Jüdischen Staat auf internationaler Ebene fortzusetzen.“

Nach Überzeugung der BDS-Aktivisten ist der Staat Israel aufgrund der Unterdrückung der Palästinenser mit dem “Apartheidstaat” Südafrika vergleichbar, der zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung in Südafrika unterschied. Das erinnert mich an die breite Boykottbewegung gegen Südafrikas Rassenpolitik in den Siebziger Jahren. Und dass ich meine Bankverbindung wechselte, weil die bisherige Bank mit den südafrikanischen Goldmünzen Krüger Rand handelte.

Das stete Bemühen israelnaher Institutionen und fehlgeleiteter deutscher Ämter, israelkritische Stimmen und Aktionen als antisemitisch einzustufen, führt übrigens zur Verfälschung der Statistik und zu dem absurden Ergebnis, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle höher ausgewiesen wird als sie tatsächlich ist.

Israel beansprucht für sich, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein. An diesem Anspruch muss es sich dann auch messen lassen. Natürlich gibt es palästinensische Judenhasser, Gewalttäter und Kriegstreiber. Gegen diese darf und soll sich Israel zur Wehr setzen. Allerdings rechtfertigt dies nicht staatliche Willkür, Diskriminierung und Gewalt und die Missachtung von Völkerrecht und UN-Resolutionen. Hier einige von vielen Missständen, die eine Israelkritik geradezu herausfordern.

– Vor einigen Jahren wollte das israelische Parlament ein Gesetz verabschieden, wonach der Verkauf von Grundstücken an Araber verboten werden sollte. Diese Absicht wurde nur wegen vehementer internationaler Proteste nicht umgesetzt. Woanders nennt man das Rassismus oder Apartheid.
– Die Armee entscheidet über Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser. Bei palästinensischen Demonstrationen wird die Armee eingesetzt, bei israelischen Demonstrationen ist die Polizei zuständig. Auch das ist Apartheid.
– Die Häuser der Angehörigen von palästinensischen Selbstmordattentätern werden mit Bulldozern zerstört. Woanders nennt man das Sippenhaft.
– Israelische Sicherheitskräfte haben die gesetzlich legitimierte Möglichkeit, Menschen in „Administrativhaft“ zu nehmen und über Jahre festzuhalten, ohne dass die Häftlinge ihr Recht auf ein Gerichtsverfahren wahrnehmen können. Ist das rechtsstaatlich?
– Israelische Siedler dürfen palästinensischen Bauern das Wasser abgraben und tiefe Bohrungen ins Grundwasser vornehmen. So werden die Quellbrunnen der Landwirte trockengelegt. Aus deren nicht bewässerten Feldern wird Brachland, das nach einigen Jahren zu öffentlichem Land erklärt wird und der Besatzungsmacht Israel zufällt.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.