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Jugendherberge Bonn 1972

Der General-Anzeiger gönnt der Jugendherberge auf dem Venusberg heute eine freundliche PR-Geschichte. Ich war 1972 erstmals dort zu Gast. Damals waren an diesem Haus nur drei Dinge gut: die Lage, die Lage und die Lage. Wir waren nämlich Nachbarn von Willy Brandt, zu jener Zeit Bundeskanzler auf der Höhe seines Schaffens.
Wir kamen auf Klassenfahrt, ich war 15, einer der Jüngsten in meiner Klasse, die meisten waren 16 oder 17, und vor allem: junge Damen. Das war der heftigste Hammer dieses Hauses: die “Herbergseltern” wurden von uns als “Nazis” identifiziert. Ich weiss nicht, ob sie es wirklich waren, sie benahmen sich jedenfalls so. UND: sie liessen ihren Schäferhund nachts durchs Haus streifen, auf dass wir die geschlechtergetrennten Flure nicht verlassen.
Das Beste an der Jugendherberge war noch, dass wir dort das sensationelle Auswärts-3:1 von Netzer, Wimmer und Beckenbauer im Londoner Wembley-Stadion in der Glotze live sehen konnten, Netzers Spiel seines Lebens, die Geburt eines neuen deutschen Fußballs.
Um unsere Freiheit zu geniessen, suchten wir an zwei Stellen Asyl. In der Innenstadt in der damaligen Kneipe “Point” (später: “Pendel”), unser Modegetränk seinerzeit: Asbach-Cola; auf dem Venusberg war unser Asyl im “Waldhäuschen” im Kiefernweg, mit traditionellem Pils, bei Willy gleich nebenan.
Es war Ende April. Die CDU versuchte ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, sie wollte keine Verträge mit der UdSSR und der DDR, verschmähten dafür sogar die UNO-Mitgliedschaft. Die Bevölkerung war in Aufruhr. Es gab verbotene politische Streiks – für die Regierung. Die Wahlbeteiligung bei der späteren Bundestagswahl stieg auf davor und danach unerreichte 91,1% und brachte den höchsten SPD-Wahlsieg (45,8%) der deutschen Geschichte.
Wie erfuhren an der Kinokasse des Metropol, dass Brandt das Misstrauensvotum sensationell überstanden hatte. Es war klar: schnell rauf auf den Venusberg – bei ihm im Garten wirds Freibier geben. So war es. Es gab leider für Jede*n nur eins. Denn die Jusos hatten 5.000 Menschen spontan mobilisiert. Das haben sie auch nie wieder geschafft.
Dennoch beweist die Jugendherberge: früher war vieles schlechter.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

2 Kommentare

  1. rudolf schwinn

    Lieber Martin,
    welch schönes Stück aus dem Reich der Erinnerung.
    Bitte bei Gelegenheit wieder mal eine Reminiszens von solcher Qualität.
    Herzlich,
    rudolf.

  2. Martin Böttger

    Danke Rudolf, sehr nett. Ich vergass an eine Sache zu erinnern. Als wir damals mit der Bahn in Bonn ankamen und aus dem Hbf. heraustraten, liefen wir als erstes vor einen Bretterzaun, also so ähnlich wie heute. Da wurde das weltberühmte Bonner Loch gegraben. Und wir waren dabei!

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