Das wäre mehr Problem als Lösung
Der Karneval in Gestalt seiner Lobby ist schon am Start. Warum sollten seine ökonomischen Interessen weniger wiegen als der Profifussball? Bei letzterem – Hygienekonzepte hin oder her – kursiert das Virus, vom 1.FC Köln, der mit seinem Gesundheitsamt unter einer Decke steckt, über Fortuna Düsseldorf bis hin zu Olympique Marseille oder in die teuerste Liga der Welt (letzte Saison: 20 Fälle). Scheiss drauf, das Geschäft muss weitergehen. Auch das Karnevalsgeschäft?
Bei infizierten Fußballprofis denkt der Laie, die würden ja auch schön mit Millionengagen für ihre Infektion entschädigt. Wenn es dabei bliebe. Die haben auch Familie, die Brötchenholen geht, und Kinder, die zur Schule müssen. So haben am Ende dann auch die was davon, die nicht wissen, wo nächste Woche ihr Geld herkommt.
Mit all diesen Buzinessmen habe ich kein Mitleid und kaum Mitgefühl. Was aber auf Dauer, und das Virus und seine Nachkommen werden uns noch lange begleiten, nicht weiterhilft. Was bigott und zum Scheitern verurteilt ist, ist, den Menschen das Feiern und die gute Laune grundsätzlich und allgemein zu verbieten. Es ist eine jahrhundertealte Lehre verfehlter Drogenpolitik, dass Illegalisierungen umso mehr Schwarzmärkte, Extraprofite und Mafiaorganisationen nach sich ziehen. Der Mensch ist nicht asozial, das Social Distancing schreibt sich ihm nicht in die Gene, und auch nicht in Hormone oder Hirn – und zwar egal, wie hoch irgendwelche Bußgelder sind, Gegenstand billigster Symbolpolitik. Es müssen also Systeme kreiert werden, die mit dem Virus soziale Nähe und Berührung ermöglichen und organisieren.
Ich muss, bei Beibehaltung meiner Herrschaft über diesen Datenbestand, mit meinen Freund*inn*en “Infektionsgruppen” selbst definieren können, die nur im Infektionsfalle zugelassenen Ärzten und Gesundheitsbehörden offengelegt werden müssten (und könnten).
Wann fangen all die gefeierten Start-Ups und die ach so besorgte Politik an, sich darum zu kümmern? Nur wenn sie das tun, haben sie eine Chance die Kontrolle zu behalten. Die Menschen werden sich nicht einen weiteren Sommer die gute Laune verbieten lassen, das scheitert bereits täglich. Selbst ein perfekter Polizeistaat würde unsere Rheinufer “reinigen” und beruhigen können. Eher noch wird die Wohnungsnot bewältigt – wers glaubt … Diese Probleme werden sich verschärfen und sind keineswegs auf spezifische Altersgruppen oder soziale Klassen begrenzt. Und das schon jetzt, weit vor der kalten Jahreszeit. Auch ohne Karneval (ab 11.11.) wird Weihnachten, für manche vielleicht völlig plötzlich und überraschend, Reisebewegungen und hochinfektiöse Familienzusammenkünfte nach sich ziehen. Und keiner konnte damit rechnen …

Karneval kaputt

Der Massenkarneval, also auch und gerade der kommerzielle, darf keine Chance bekommen. Eher noch muss der Profifussball aus Gerechtigkeitsgründen wieder gestoppt werden. Das Prinzip des Karnevals, dafür wurde er erfunden, ist der Kontrollverlust. Der für die Herrschenden, die nicht mehr herrschen können, und ebenso die Selbstbeherrschung, bei deren Verlust der Alkohol behilflich ist. Meine Vision der selbstbestimmten sozialen Nähe würde hier nicht mehr funktionieren, denn der Karneval schaltet ja gerade die Selbstkontrolle mit aus. Also bitte: unserer Gesellschaft wäre viel Infektionsgeschehen erspart geblieben, wenn die Politik das schon im letzten Karneval kapiert hätte. Sie darf diesen Fehler nicht wiederholen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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