Beueler-Extradienst

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Medienbellizismus I.

Es ist die Aufgabe des Journalismus und der unabhängigen Medien, die Politik kritisch zu hinterfragen, ihre Gründe für Handeln oder Nichthandeln aufzudecken und über Zusammenhänge und Hitergründe aufzuklären. Dazu gehört Unabhängigkeit und – außer in den Kommentaren – Enthaltung von Wertung, das Ethos, die Dinge von beiden Seiten zu sehen. In der Ukraine-Krise – oder besser Russland-NATO-Krise ist eine bedenkliche Tendenz des Journalismus zu beobachten, insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Medien wie ARD, ZDF und Phoenix, besonders aber im Deutschlandfunk, die zunehmend Partei ergreift, und zwar für Eskalation und Intervention.

Eskalierender Journalismus

Seit Beginn des Überfalls Putins auf die Ukraine sehen sich die “kritischen” Journalist*innen ständig gemüßigt, der Regierung, die bis heute sehr solide und deeskalierend gehandelt hat, vorzuhalten, keine Waffen an die Ukraine geliefert zu haben, nicht genug hochgerüstet zu haben. Noch vor wenigen Jahren, während der GroKo, wurde eine ausführliche Diskussion geführt, dass Europa sicher, ein Krieg unwahrscheinlicher denn je sei, und die Bundeswehr auf Auslandseinsätze umgestellt werden müsse – ein Ziel von Annegret Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin. Dieselbe AKK behauptete heute dreist, man habe die Verteidigung in Europa sträflich vernachlässigt und die Medien stimmen ein. Niemand stellte ihr die Frage, ob sie an früher Demenz ihrer eigenen Politik gegenüber leide.

Nur härtere Sanktionen, keine Deeskalation

Nein, “fehlerhafte Verteidigungspolitik” werfen Journalist*innen der Politik vor – und ignorieren dabei den tiefgreifenden Zivilisationsbruch, den Putin begangen hat. Auch sie könnten sich schlau machen, was in der KSZE-Schlussakte von 1975 steht, dass Gewaltverzicht seit fast 50 Jahren die Basis jeder europäischen Politik war. Aber anstatt zu erklären, welchen schändlichen Tabubruch Putin begangen hat, werden immer neue Eskalationsstufen bei den eigenen Politiker*innen nachgefragt. Warum keine Waffenlieferungen, warum keine Kündigung des SWIFT-Abkommens, ohne sich mal selbst schlau zu machen, was das für die einfache russische Bevölkerung bedeuten würde, die täglich 400 Rubel, also 5 Euro aus dem Geldautomaten ziehen kann, was danach beendet wäre.

Pazifismus am Krieg schuld?

Wissenschaftler*innen, die sich für eine Politik mit Augenmaß einsetzen oder die Maßbahmen der NATO kritisieren, geschweige denn solche, die jenseits von Eskalationen zur Deeskalation raten, kommen  so gut wie nicht mehr zu Wort. Ist das die Folge von Krawallfernsehen und Quotenjagd? Da treten in “Phoenix” zweifelhafte Experten auf, die behaupten, dass die deutsche Verteidigungspolitik an den “Stammtischen, die Frieden schaffen ohne Waffen forderten” gescheitert sei: Also die Pazifisten sind an Putin schuld – Heiner Geissler hat diese verquere These schon mal in den 80er Jahren entwickelt, indem er behauptete, die Pazifisten seien am Nationalsozialismus schuld. Ich hätte gerne mal einen Friedensforscher zum Konflikt Russland-Ukraine gehört – Fehlanzeige. Ich hätte gerne mal gehört, wie die Friedensbewegung, NGO wie Ärzte gegen den Atomkrieg, das Netzwerk Fiedenskooperative, Medico International, Amnesty, Gesellschaft für bedrohte Völker u.v.a. den Konflikt einschätzen – Fehlanzeige.

Kleine besserwissende  Feldherr*innen am Mikrofon

“Herr Scholz, meinen Sie, dass der Ukraine ihre Weigerung, Waffen zu liefern, hilft?” “Frau Baerbock warum setzen Sie nicht das SWIFT-Abkommen endlich vollends außer Kraft?” Mich würde interessieren, ob solche Journalist*innen darüber reflektieren können, welche Verantwortung sie tragen, gerade in Kriegszeiten. Könnte es sinnvoll sein, sich mal die Frage zu stellen, ob Fragestellungen, besonders wenn sie in Form von “meinen Sie nicht, dass….” keine Frage, sondern ein Druckmittel beinhalten? Ist es legitim, ständig der eigenen Regierung Fragen zu stellen, die den Eindruck erwecken, als ob die Koalition nicht kriegerisch genug aufträte? Ist es nicht genauso Aufgabe des Journalismus, das GANZE Spektrum der Konfliktforschung und -bewältigung aufzuzeigen, indem Friedensforscher*innen  und Kritiker der NATO-Strategie der Eskalation zu Wort kommen? Auch Vertreter*innen von Kultur, Ethik, Seelsorge, Psycholog*inn*en? Was ist mit Putin geschehen? Was war das für ein Schauspiel, als er seinen Geheimdienstchef in aller Öffentlichkeit gefaltet hat? – Keine Kommunikationspanne, es handelte sich um eine Aufzeichnung? Ein bisschen mehr Intelligenz müsste für die öffentlich-rechtlichen Gebühren eigentlich zu verlangen sein.

Keinerlei eigene Recherche

Es ist bezeichnend, wieso derart skandalöse Sachverhalte, wie derjenige, dass die Öllieferungen Russlands an die USA in den vergangenen Jahren exorbitant gestiegen sind, und dass die Frage einer deutschen Journalistin genau danach – und ob diese Lieferungen ebenso wie Northstream 2 nicht unter die Boykottandrohungen des Westens fallen müssten – von Joe Biden auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Biden und Scholz NICHT beantwortet wurden. Warum, so frage ich als kleiner ehrenamtlicher Blogautor, gibt es wirklich keine professionelle Journalist*in, die dieser offensichtlichen Glaubwürdigkeitslücke auf die Spur kommen? Wie bitte? Northstream 2 und ggf. sogar 1 sollen geschlossen werden, aber das Öl für die USA aus Russland fließt weiter? Wer hat nachgefragt? Hat jemand geantwortet?

Ach so, ich vergaß – 85% der Gebühren fressen Bundesliga und Champions League auf – da ist für klugen Journalismus natürlich nicht mehr viel übrig. Und die Sportberichterstattung wird uns schon in Kriegszeiten retten!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. rudolf schwinn

    Ein Mal mehr Dank an Roland Appel: Sein Hinweis, dass die öffentlich-rechtlichen Medien dem Bellizismus verfallen, erzeugen hoffentlich Wirkung. Es ist ein Verrat an deren in Staatsverträgen fixierten Auftrag. seriös zu informieren und verantwortsbewusst zu kommentieren. Statt dessen gewinnt man den Eindruck, dass keine Gelegenheit ausgelassen wurde, Politiker mit der Forderung zu bestürmen, doch endlich mit Waffenexport nach Kiew in den Krieg einzugreifen. Nun dieses Ziel ist mittlerweile erreicht. Die Forderung der Frau Aussenministerin, die sich permanent auf Werte beruft, “Russland (zu) ruinieren”, gewinnt an Wirkungsmacht. Dem steht die Haltung des erfahrenen SPD-Politikers Klaus von Dohanyi entgegen, der angeregt hatte, für die Ukraine einen neutralen Status anzustreben, der diesem Land eine Art unantastbare Brückenfunktion ermöglichen würde. Würde die brisante Lage ohne Zorn und Eifer bedacht werden, hätten die vernunftbetonten Gedanken des 93jährigen Dohnanyi den Stoff für Schlagzeilen und eine ernsthafte Kommentierung gegeben. Damit wäre auch der einstigen Forderung beider deutscher Staaten “von deutschem Boden muss Frieden ausgehen” Rechnung getragen. Der entfesselte Riese Deutschland, der zu den weltweit herausragenden Waffen-Exporteuren gehört, lässt sich in der Welt von heute von diesem Gebot, das uns die Geschichte auferlegt, nicht berührt. Die Warnungen, die Roland Appel aus der Zivilgesellschaft anführt, werden als “antiquiert” abgestenpelt und Pazifisten verleumdet. Paul Celan hat es gesagt: “Der Tod ist ein Meister aus Deutschland”. Im Rausch der Geschäfte wurde die Warnung überhört. Und so gibt es keine Hemmung mehr, Gewalt auszuüben und mit der Berufung auf Werte zu rechtfertigen.
    rudolf schwinn

    .”

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