von William Sacher / Informationsstelle Lateinamerika (ila)

Der Widerstand gegen Großbergbau-Projekte hat überall in Lateinamerika stark zugenommen. Die chilenische „Beobachtungsstelle für Bergbaukonflikte in Lateinamerika” (OCMAL) hat erfasst, dass es aktuell 219 Konflikte in ganz Lateinamerika gibt. Lateinamerika hat sich zu einer erstklassigen Region für die Investitionen transnationaler Bergbauunternehmen entwickelt, deren Megaprojekte gewaltsame Enteignungen mit sich bringen. Tiefgreifende sozio-ökologische, wirtschaftliche, politische und kulturelle Veränderungen sind die Folge, betroffen sind bislang unberührte Gebiete, tropische Wälder des Amazonas-Regenwalds, Andengebirge und Gletscher. Viele Gemeinden – sowohl ländliche, indigene wie städtische – wehren sich gegen diese neue Kolonisierungs- und Enteignungswelle. Ecuador ist ein gutes Beispiel für diese Prozesse.

Bergbauunternehmen müssen imstande sein, große Flächen zu kontrollieren, oft Zehntausende oder gar Hunderttausende von Hektar. Diese Kontrolle muss total und bedingungslos sein, damit sich die Bergbauprojekte rentieren. Das zerstörerische Modell des gegenwärtigen Großbergbaus und die damit einhergehenden Eigentumsformen stehen im krassen Gegensatz zu den traditionellen Strukturen vor Ort. Die dabei stattfindenden Enteignungsprozesse sind vielgestaltig. Im Folgenden sollen sie mit Hilfe der Theorie der „ursprünglichen Akkumulation“ und des Übergangs zur kapitalistischen Moderne, angelehnt an David Harvey, analysiert werden.

Die Reichweite und die Auswirkungen des Großbergbaus in politischer, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer, psychosozialer und gesundheitlicher Hinsicht sind umfangreich dokumentiert. Umweltverschmutzung und Landgrabbing, die dieser Bergbau zwangsläufig mit sich bringt, haben für die Menschen katastrophale Auswirkungen. Zurzeit gibt es eine Tendenz zum Gigantismus, für die es keinen Präzedenzfall in der Geschichte der Menschheit gibt: Die heutigen Minen bestehen aus offenen Gruben, die mehrere hundert Meter tief sind und einen Durchmesser von mehreren Kilometer haben. Diese Dimensionen rechtfertigen den Begriff „Mega-Bergbau“. Die Größenordnungen erreichen oft „Millionen“: Die Rede ist von Millionen Tonnen Abfall, von Millionen Kubikmeter verschmutztem Wasser, von Hunderten Millionen investierter Euro, von Millionen Hektar Landverbrauch usw. Diese Tendenz erklärt sich zum einen durch den stetig wachsenden globalen Verbrauch, zum anderen durch die Tatsache, dass die Lagerstätten der Mineralien immer schwieriger auszubeuten sind. Nur sehr große Unternehmen können diesen Mega-Bergbau durchführen, weil sie das finanzielle und politische Gewicht haben, um diese gigantischen Minen zu bauen und zu betreiben. Das wirft große Probleme auf, besonders für ein kleines Land wie Ecuador.

Die Tendenz zum Gigantismus führt logischerweise zur Besetzung von immer größeren Gebieten. Der Bergbau ist gleichzeitig ein historisch gewachsener Wirtschaftssektor, der hohe Gewinne ermöglicht und somit Investoren anlockt. Deshalb haben in den letzten Jahrzehnten Hunderte von Bergbauunternehmen Konzessionen für große Flächen erhalten, sowohl in Lateinamerika als auch in anderen Regionen des geopolitischen Südens. Die direkte Konsequenz ist die gewaltsame Enteignung von Kleinbauern, indigenen Gemeinden, aber auch von Leuten, die Kleinbergbau betreiben. Ein Beispiel für den Zusammenhang von westlichem Kapital und Landgrabbing sind die sogenannten Junior-Explorationsunternehmen. Viele von ihnen und auch ihre Risiko-Kapitalgeber stammen aus Kanada. Für meinem Kollege Alain Deneault und mich stellt Kanada eine Art „Schweiz“ für Bergbauunternehmen dar, genauer gesagt ist das Land ein „juristisches Paradies“ für Bergbauunternehmen. Die kanadische Börse (Toronto Stock Exchange, TSX) ist in den letzten Jahrzehnten zur privilegierten Plattform für diesen Wirtschaftssektor geworden. Dank der laxen Regeln der TSX können diese Junior-Bergbauunternehmen große Flächen mit Bergbaukonzessionen monopolisieren und ihre Explorationen in Ländern wie Ecuador durchführen. In Europa spielen die Londoner und die Frankfurter Börse eine zentrale Rolle. Wenn man sein Geld an diesen Börsen im Bergbausektor investiert (wie es zum Beispiel unsere Banken und Pensionskassen machen), unterstützt man die Enteignung von Menschen im Süden, in Ländern wie Ecuador. Die gewalttätigen Enteignungen sind der Preis, den die Menschen bezahlen, damit globale Finanzprodukte, Ersparnisse und Rentenfonds Gewinne erzielen.

Im Allgemeinen ermöglicht eine Bergbaukonzession dem Konzessionsnehmer, Regierungen dazu aufzufordern, die Menschen zu enteignen, die auf dem betreffenden Gebiet leben. Es ermöglicht auch, diejenigen Personen zu kriminalisieren, die Widerstand dagegen leisten. Das Beispiel Ecuador und die aktuellen Entwicklung dort sind typisch für die Enteignungen, die der Mega-Bergbau mit sich bringt.

Mehr als zehn Prozent des Landes befinden sich im Konzessionierungsprozess. Die Kupfer-Megaprojekte „Mirador“ und „Panantza-San Carlos“ des chinesischen Staatsunternehmens Tongling und CRCC in der sogenannten Cordillera del Condor sind verantwortlich für gewaltsame Vertreibungen von bäuerlichen Gemeinden und der Shuar, der wichtigsten indigenen Bevölkerung in diesem Gebiet. Hinzu kommen Umweltzerstörung und Verschmutzung von lebenswichtigen Ressourcen. Die Beschränkung des Zugangs zu Wasser und die massive Verschmutzung von Wasserquellen und -läufen (oft von Millionen Liter Wasser pro Tag) von Seiten der Bergbauunternehmen stellen eine Art von enclosure dar („Einhegung“, wie es Marx beschrieben hat, siehe weiter unten). Angesichts dieser Logik und dieser Bedrohungen gibt es für viele Gemeinden keine andere Option, als Widerstand zu leisten. Diese Situation erklärt, warum sich die Konflikte rund um die Mega-Bergbau-Projekte in den letzten Jahrzehnten so sehr verschärft haben.

In die ecuadorianischen Amazonas-Provinzen Zamora-Chinchipe und Morona-Santiago hat die „progressive“ Regierung in den letzten Monaten Polizei geschickt, um Familien von ihrem Land zu vertreiben. Diese Familien lebten dort, wo das chinesische Staatsunternehmen Konzessionen für ein Mega-Bergbauprojekt für Kupferabbau bekommen hat. Der Widerstand der Anwohner*innen gegen den Mega-Bergbau existiert bereits seit über 50 Jahren. Aber Rafael Correas Regierung hat damit begonnen, systematisch Gewalt anzuwenden, um diese Leute zu disziplinieren.

Im Dezember 2016 verhängte Rafael Correa zum Beispiel den Ausnahmezustand in einem Gebiet der indigenen Shuar, nachdem einige von ihnen Widerstand gegen das chinesische Mega-Projekt Panantza-San Carlos geleistet hatten. Dieser Beschluss von Correa hatte die Militarisierung der ganzen Provinz zur Folge. In mehreren Shuar-Gemeinden zerstörten Armee und Polizei Häuser; die Region befand sich quasi im Kriegszustand. Die Männer flohen in den Regenwald, weil sie Angst hatten verhaftet zu werden, während die Frauen mit der Gewalt konfrontiert waren.

Diese Vorfälle erinnern uns an die sogenannten enclosures – Einhegungen –, die Marx in „Das Kapital“ in den Kapiteln zur „ursprünglichen Akkumulation“ beschrieben hat. Die Parallelen zu den Enteignungsprozessen in Westeuropa in den vergangenen Jahrhunderten sind frappierend: So beschreibt Marx zum Beispiel in seinem Artikel „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz“ im Rheinischen Landtag ausführlich über den Prozess der Kriminalisierung des traditionellen Holzsammelns.

Wie können wir diese Prozesse erklären, die der Mega-Bergbau in Ecuador und im Rest von Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten verursacht hat? Die politische Ökonomie kann an diesem Punkt helfen, Antworten zu geben.
Die erste Welle von Investitionen und von Landraub (Landgrabbing) im großen Stil gab es in den 1990er Jahren. Nach den neoliberalen Reformen der Investitionsbedingungen für Bergbauprojekte wurde es für Unternehmen zunehmend interessant, nach Lateinamerika zu gehen. Diese Investitionsbedingungen waren für das transnationale Kapital entwickelt worden und Folge des berühmten Washington Consensus. Transnationale Konzerne mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten, Europa und Australien konnten keine rentablen Investitionsmöglichkeiten mehr finden, weshalb sie ihre Aktivitäten in neue Weltregionen ausweiteten. Anfang der Nuller Jahre wurden diese rechtlichen Rahmenbedingungen weiter entwickelt und die Unternehmen trafen auf günstige Bedingungen im globalen Bergbausektor, schließlich gab es zu dem Zeitpunkt einen starken Anstieg der Metallpreise.

Dieser Anstieg war Ergebnis des chinesischen Nachfrage-Booms nach Mineralien (für den Absatz im Inland, aber auch für den Export ins Ausland, in Länder wie Deutschland). Diese günstige Situation führte zu einer neuen Investitionswelle im geopolitischen Süden. Viele Unternehmen aus dem Norden sahen im Bergbausektor große Gewinnchancen. Heutzutage ist es jedoch nicht mehr nur der Geopolitische Norden, der nach neuen Gebieten für den Rohstoffabbau sucht. Auch in China sehen sich große Unternehmen mit einer Art „Erschöpfung“ der Gewinnchancen innerhalb der nationalen Grenzen konfrontiert. Das Ergebnis ist eine noch nie dagewesene Welle von chinesischen Auslandsinvestitionen: in Südostasien, Afrika und natürlich in Lateinamerika. Lateinamerika ist zweifelsohne ein bevorzugtes Ziel für die chinesischen Auslandsinvestitionen im Bergbausektor. Unter den 20 weltweit wichtigsten chinesischen Bergbau-Megaprojekten befinden sich neun in Lateinamerika, sechs in Peru, zwei in Ecuador und eins in Chile.

Leider waren die Reaktionen der linken beziehungsweise der Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika in dieser Hinsicht enttäuschend. Sie haben nichts an den neoliberalen Strukturen der Investitionsbedingungen verändert (trotz einiger kleiner „Verbesserungen“, zum Beispiel der Besteuerung in den Bergbaugebieten). Im Allgemeinen haben diese Regierungen die Mega-Bergbauprojekte aktiv gefördert und dieses gigantische und äußerst destruktive Modell nie kritisiert.

Das Beispiel Ecuador zeigt das sehr anschaulich: In diesem Land, in dem wir angeblich eine „Revolution“ erleben, befinden sich die sechs wichtigsten Mega-Bergbauprojekte in den Händen von transnationalen Unternehmen. Darüber hinaus haben sich große Teilen des ecuadorianischen Staates in den letzten Jahrzehnten in den Dienst dieses Mega-Bergbaus gestellt. Die Regierung hat sehr stark daran mitgewirkt, um die Bedingungen für das chinesische, kanadische, chilenische und australische Kapital zu verbessern und dessen Gewinne zu steigern.

Der ecuadorianische Staat hat also in den dafür nötigen Ausbau der Infrastruktur investiert, dabei den Widerstand der Bevölkerung unterdrückt und ein Dispositiv der Disziplinierung etabliert. In den letzten Jahren hat die Regierung von Rafael Correa eine ganz neue Form von Institutionalität geschaffen, um das transnationale Bergbau-Kapital zu unterstützen. Diese Art von Staatlichkeit könnte man auch als „Mineralien-Staat“ bezeichnen. Unter der zehn Jahre währenden Herrschaft von Rafael Correa ist Ecuador zu einem neuen lateinamerikanischen Mineralien-Staat geworden, wo die Mehrheit der Behörden und Ministerien sowie Medien, Polizei und Armee im Dienst des Bergbau-Kapitals stehen.

Wir können viele dieser Phänomene als Folge der Schwierigkeiten verstehen, mit denen das transnationale Kapital in den vergangenen Jahrzehnten weltweit konfrontiert war. Das westliche und chinesische Kapital drängt in den lateinamerikanischen Mega-Bergbausektor, weil in diesem Sektor Gewinnchancen stecken, die innerhalb der eigenen nationalen Grenzen nicht mehr erreicht werden können. Der Mega-Bergbau bietet potentiell hohe Gewinne. Dies ist aber nur durch die Aneignung oder „Eroberung“ neuer Gebiete und durch die flächendeckende, gewaltsame Enteignung von Menschen, die in diesen Gebieten leben, möglich. Mit marxistischen Worten ausgedrückt: Die sozialen Bewegungen können als Widerstand gegen die „ursprüngliche Akkumulation“ beziehungsweise die „Akkumulation durch Enteignung“ verstanden werden.

„Akkumulation durch Enteignung“ ist ein Konzept, das der Humangeograph David Harvey formuliert hat, um die aktuelle oder kontinuierliche „ursprüngliche Akkumulation“ zu beschreiben. Der Mechanismus der Akkumulation ist mit Diebstahl, Plünderungen, Gewalt und Krieg verbunden. All diese Prozesse sind charakteristisch für den Übergang zum Kapitalismus. In diesem Prozess haben in der Vergangenheit koloniale Staaten in Lateinamerika eine wichtige Rolle gespielt. Diese Rolle ist heutzutage immer noch sehr wichtig. Staaten und Regierungen jedweder politischer Richtung haben die Mega-Bergbauunternehmen unterstützt, um ihnen maximale Gewinne zu ermöglichen.

Aus dieser Perspektive kann zum Beispiel die Eroberung des Shuar-Territoriums durch die Bergbau-Megaprojekte in Ecuador analysiert werden sowie die damit einhergehende Gewalt gegen die betroffene Bevölkerung. Die Menschen in diesen Gebieten Lateinamerikas erleben einen neuen historischen Moment, der Teil eines längeren Übergangsprozesses zur kapitalistischen Moderne ist. Der einzige Ausweg für diese „volatile Mischung aus sozialen Bewegungen“ (wie sie David Harvey etwas verächtlich nennt) aus dem Trend der „Akkumulation durch Enteignung“ sowie aus der unerträglichen Gewalt besteht in der Zusammenarbeit mit verschiedenen lokalen, nationalen und globalen Widerstandsbewegungen.

Der Autor ist Dr. in Entwicklungsökonomie und PhD in Marine- und Atmosphärischen Wissenschaften, Mitglied des Kollektivs „Minka Urbana“, Quito.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der Zeitschrift “ila 408 Sep.2017” hg. von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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