Menschenwürde, Hilfsbereitschaft, Solidarität und Hilfe in Not sind Werte, zu denen ich erzogen worden bin. Nicht nur von meinen Eltern, von einer Bundesrepublik der 60er Jahre, die Kerzen für die unterdrückten “Brüder und Schwestern” in der DDR in die Fester stellte. In der Schule, in der die DGRS – Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger – Filme ihrer Arbeit zeigte und anschließend die Schüler*innen nötigte, am kommenden Tag Spenden ihrer Eltern mitzubringen. Ich dachte immer, in einer freiheitlichen Gesellschaft des Grundgesetzes zu leben – später habe ich dann gelernt,
dass Grundrechte immer in Gefahr sind, täglich neu erkämpft werden müssen, dass es einen Unterschied zwischen dem Postulat und ihrer materiellen Verwirklichung gibt.

Moria ist die Schande Europas, die die Verfassungswirklichkeit der europäischen Staaten jenseits der Paragraphen mit Brutalität aufzeigt und sie ad absurdum führt. Moria ist ein Symbol der Barbarisierung einer egoistischen, gefühlskalten post-humanen, vorwiegend weissen Europäischen Gesellschaft.
Menschenrechte verkommen zur Ideologie
Der politische Umgang mit Moria ist ein Beispiel für institutionellen Rassismus. Der Einsatz der EU-Regierungen für Demokratie und Menschenrechte im Falle Nawalny und zugunsten einer weißen Mittelschicht in Weissrussland verliert angesichts des unbarmherzigen Umgangs derselben Regierungen mit den Grundrechten auf Asyl, der persönlichen Freiheit, des Lebens und körperlicher Unversehrtheit ganz zu schweigen vom Schutz vor Verfolgung oder gar sozialer Teilhabe eines überwiegend schwarzen, vergleichsweise armen Migrationsproletariats jede Glaubwürdigkeit und wird zur reinen Ideologie im neuen Kalten Krieg.

Was ist nur passiert in den Gesellschaften Europas, die seit dem 2. Weltkrieg ihr Eintreten für Freiheit, Humanität und Bürgerrechte in den Mittelpunkt ihres Handelns gestellt haben? Waren es doch nur Lippenbekenntnisse im Kalten Krieg, um sich vom Ostblock abzusetzen, oder wahre Werte? Wie konnten Sozialneid, Rassismus, Fremdenhass und Nationalismus nach 45 Jahren Blocktrennung und wenigen Jahren der demokratischen Hoffnung vor allem die Staaten der östlichen EU in einen Haufen selbstvergessener und inhumaner und kleingeistiger Machtapparate verwandeln? Deren erbärmlichste Vertreter mit Namen Duda, Orban, und Kaczyński ihren Rassismus und ihre Ressentiments angesichts einer humanitären Katastrophe hinter bürokratischen Floskeln und scheinheiliger Christlichkeit verstecken? Denen Horst Seehofer insofern ebenso bürokratisch beispringt, indem er die humanitäre Aufnahmebereitschaft von Kommunen und Ländern abwürgt und behauptet, “eine Aufnahme von Flüchtlingen durch Länder und Kommunen würde einer bundeseinheitlichen Regelung widersprechen”?

Abschottung statt vorausschauender Politik

Der Luxemburgische Außenminister Asselborn hat dieser Tage einen der wichtigsten Verursacher der aktuellen Krise benannt: Österreichs populistischen Kanzler und “Wunderwuzzi” Kurz. Der Rechtsextremist im christdemokratischen Tarnumhang ist einer der wichtigsten Erfinder der These von den angeblichen “Pull”-Effekten. Er schwadroniert seit 2015 mit der unbewiesenen Behauptung, würde man eine spürbare Zahl von Flüchtlingen aus Moria und anderen Griechischen Asyl-Gefangenenlagern in Europa aufnehmen und damit zu einem Mindestmaß von Rechtstaatlichkeit zurückkehren, würden “Schleusen” geöffnet und sich hunderttausende auf den Weg machen. Selbst Christian Lindner plappert diesen Unsinn inzwischen nach. Dabei ist die Balkanroute zu und das Mittelmeer ein feuchtes Massengrab mit ungewisser Wiederkehr in die Folter- und Vergewaltigungslager der sogenannten “Libyschen Küstenwache”.

Von gleich minderer Qualität sind die Maßnahmen zur Bekämpfung von Fluchtursachen: Sie blieben bisher reine Lippenbekenntnisse. Keine einzige Fluchtursache wurde seit 2015 bekämpft. Einzig die Länder südlich der Sahara, die u.a. die Kanzlerin bereiste, bekamen Geld, um ihre Bürger wirkungsvoller einzusperren und ihrerseits die Grenzen dicht zu machen. Seit 2015 wurde keine einzige Migrationsursache beseitigt. Stattdessen hat Sebastian Kurz den Europäischen Verantwortlichen erfolgreich Sand in die Augen gestreut, ihnen vorgegaukelt, eine Flüchtlingskrise mit globalen sozialen Ursachen ließe sich durch Grenzschließungen lösen. Seit 2015 schiebt die Elite der Europäischen Entscheider, flankiert von rassistisch motivierten Separatisten aus Ungarn, Polen und den übrigen Visegrad-Staaten ein ökologisch und soziales, sich immer weiter verschärfendes Problem an der Südgrenze der EU beiseite.
Politische Lösungen verweigert
Die ökonomisch abgehängten und durch die EU-Politik ebenso wie durch den Neokolonialismus Chinas und der USA in Abhängigkeit gehaltenen Staaten des afrikanischen Kontinents müssten dringend in die Lage versetzt werden, ökonomische Perspektiven zu entwickeln. Ideen hierfür gibt es schon lange. Durch Meerentsalzungsanlagen, die wie in Israel die Landwirtschaft ankurbeln könnten. Etwa durch einen nachhaltigen Solarenergiegürtel von der Westsahara bis zum Iran, der zum einen Energie vor Ort erzeugen könnte, um die Wirtschaft zu fördern, und der den Wasserstoff produzieren kann, der in einer CO2 neutralen Wirtschaft in Europa dringend benötigt wird. Ausbau, Produktion von Solarzellen, Errichtung, Wartung und Bewachung der Anlagen könnten hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Arbeitsplätze in Nordafrika schaffen und damit Teil eines ökonomischen “New Deal” zwischen Europa und den Mahgrebstaaten sein, der neue Prosperität in die Länder südlich der EU bringt und damit dem Migrationsdruck nicht nur entgegenwirkt, sondern ihn möglicherweise umkehrt. Aber anstatt zu handeln, haben sich die EU-Regierungen von rassistische Abschottungsideologien in lähmendes Nichtstun und furchtsames Starren auf die “Migrantenfluten” versetzen lassen. Diese Übernahme von AfD-Front National und Lega Nord-Politik muss endlich beendet werden!
Kriegsflüchtlinge nicht weiter aussperren
Das entbindet die Länder der EU keineswegs davon, für Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Krisenregionen aufzunehmen. Denn auch die Genfer Flüchtlingskonvention, das muss klargestellt werden, ist unmittelbar bindendes Recht für die Europäische Gemeinschaft. Deshalb bewegt sich Sebastian Kurz im Bereich des internationalen Rechtsbruchs, wenn er es ablehnt, Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien aufzunehmen. Österreich – und das ist politisch um so problematischer – ignoriert offen internationales Recht und ist damit beispielgebend für Ungarn, Tschechien, Polen und die Visegrand-Staaten in der Flüchtlingsfrage. Es ist ein Skandal, dass die österreichischen Grünen diese Politik mittragen, als ob sie gar nicht an der Regierung beteiligt wären. Eine derartige Doppelbödigkeit ökologischer Politik “lokal handeln, global denken” wird sich früher oder später rächen und ist in keiner Weise nachhaltig.
Die Kanzlerin hat wenig Zeit zu handeln
Die Kanzlerin kann dies während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht einfach ignorieren. Aber ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, noch während der deutschen Ratspräsidentschaft durch eine Doppelstrategie von ökonomischer Aufbauhilfe und Flüchtlingsaufnahme endlich Bewegung in die festgefahrene Situation der Flüchtlinge und der humanitären Hölle von Moria zu bringen. Geld dafür wäre da, denn es ist eine Farce, dass Polen, Ungarn und die anderen Visegrad-Staaten weiter EU-Subventionen in Milliardenhöhe kassieren, obwohl sie EU-Recht mit Füßen treten, Griechenland zum Kerkermeister und die Flüchtlinge zu den Geiseln ihrer inhumanen und rassistischen Abschottungspolitik machen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net