Die Gesellschaften Europas haben ein Problem mit jugendlicher Gewalt und mit sich selbst. Mit jugendlicher Gewalt, weil definitiv in bestimmten Schichten, Stadtbezirken, Kommunen und Gemeinschaften sich die Bereitschaft zur Gewaltausübung mehrt und die sozialen Ursachen ignoriert werden. Mit sich selbst, weil sie dabei nicht ehrlich sind. Seit Tagen wird nicht nach den Ursachen gefragt, sondern es werden vorwiegend stereotype Vorurteile bedient und damit die Frage nach den Ursachen und politischen Gegenstrategien vereitelt.

Wie 2015 stehen wir vor einer rassistischen Instrumentalisierung eines sozialen Problems. Da ist es erstaunlich wie begrüßenswert, dass ein CDU-Innenminister, nämlich Herbert Reul aus NRW, davor warnt, die Silvesterkrawalle auf Migranten zu reduzieren und betont, dass die Übergriffe und Gewaltausbrüche völlig unabhängig von der Herkunft der Täter, also ebenso von weißen Deutschen begangen wurden. Noch ist nicht klar, welches die Mehrzahl der Täter war, aber es ist sicher, dass einfache, monokausale Ursachen ausscheiden.

Einflussfaktor sozialer Status

Erste differenzierte Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass die Tätergruppen ganz überwiegend männlich sind, von niedrigem Bildungsgrad und aus vorwiegend sozial schwachen Verhältnissen stammen. Es sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sozial und entwicklungsmäßig abgehängt werden, sich früh selbst überlassen sind und keine Perspektive aufgezeigt bekommen. Wenn Jugendliche aus Unkenntnis bereits mit dem ersten Handyvertrag in die Schuldenfalle geraten und mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft machen, während im familiären Umfeld Hartz 4 oder Arbeitslosigkeit nicht den Ausnahme- sondern den Regelfall bedeuten, kann schon früh “der Staat” zum Feindbild werden. Kommen negative Erfahrungen wie häufige Kontrollen im ÖPNV, wegen Drogenverdachts oder anderer Anlässe aufgrund des entsprechenden Wohnviertels hinzu, ist ein Abgleiten in eine destruktive Haltung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft vorprogrammiert.

Einflussfaktor (a)soziale Medien

Unter den Jugendlichen ab 13 hat der Konsum (a)sozialer Medien in den vergangenen Jahren exponentiell zugenommen. Dabei spielen neben Cybermobbing gewaltverherrlichende, sexistische und verrohende Inhalte eine nicht geringe Rolle. Das Posten von Mut- und Wutvideos und andere häufig konsumierte Medieninhalte müssen systematisch auf ihre Wirkung bei der Wertebildung von Jugendlichen untersucht werden. Dies findet, bis auf rudimentäre Ansätze der Landesmedienanstalten, praktisch nicht statt. Klar ist lediglich, dass auch die Verabredungen zu gewaltbereiten Aktionen über Medien wie Facebook, Whatsapp, TikTok oder Instagram erfolgen.  Hier besteht dringender Analysebedarf.

Einflussfaktor Erziehung

Besonders in sozialen Problemgebieten der Städte, die von den Silvesterkrawallen betroffen waren, handelt es sich um Brennpunkte, in denen staatliche Betreuungs- und Bildungsangebote nicht in ausreichendem Maße erfolgen, oder die Zielgruppen nicht erreichen. In den meist bildungsfernen Schichten herrschen überwiegend autoritäre, patriarchale oder gewaltaffine Erziehungsmuster oder das genaue Gegenteil – distanzierte Gleichgültigkeit – vor. Das beginnt bei der jungen Mutter, die lieber mit ihrem Smartphone quatscht, als ihren Säugling zu bespielen, und endet beim Vater, der das, was er jeweils für richtige Werte hält, seinen halbwüchsigen Kindern einzuprügeln versucht. Dabei werden nicht zuletzt patriarchale Strukturen gerade von Müttern an männliche Kinder vermittelt.

Einflussfaktor toxische Männlichkeit

Dass die ganz überwiegende Mehrzahl jugendlicher Täter von toxischer Männlichkeit angetrieben und beherrscht werden, ist einer der offensichtlichen Befunde der Silvesterkrawalle. Egal, ob sie aus Familien mit oder ohne Migrationshintergrund stammen, das Motiv der jungen Männer, sich in scheinbarer Männlichkeit und Macht beweisen zu müssen, ist ein vorherrschendes, in der sozialen Gruppe scheinbar Ansehen garantierender Antrieb. Hinzu kommt der Antrieb besonders in patriarchalen, gewaltförmigen Strukturen aufgewachsener Jugendlicher, sich auf diese Weise gegen Autoritäten auflehnen zu wollen. Was man sich gegen die Väter nicht traut, entlädt sich stellvertretend gegenüber Polizei und Hilfsdiensten.

Einflussfaktor eigene Gewalterfahrung

Unter den Beteiligten und Tätern an den Krawallen befinden sich auch immer wieder Jugendliche, die aufgrund von verschiedenen Gewalterfahrungen traumatisiert oder selbst Gewaltopfer geworden sind. Das können Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak, aber auch aus Kurdistan sein, die Gewalt- und Kriegserfahrungen gemacht haben, und traumatisiert oder abgestumpft sind. Dazu zählen auch z.B. deutsche Spätaussiedlerkinder aus Russland oder Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die dort Erfahrungen mit täglicher Gewalt auf der Straße, in der Schule, zuhause oder in  Erziehungseinrichtungen gemacht haben. Das kann die Schwelle, Gewalt auszuüben, individuell entscheidend senken.

Einflussfaktor Gruppendruck

Es ist ein aus der Forschung über jugendliche Gewaltphänomene seit der Generation der “Rocker” und “Teds” der 50er Jahre bekannt, dass Gruppenverhalten in bestimmten Altersgruppen zur Anpassung an zweifelhafte Vorbilder führen kann. Dabei werden auch immer wieder in der Gruppe Grenzen überschritten, die Einzelne allein niemals überschreiten würden. Die Auftrittsorte von Bill Healey, Elvis Presley, oder den Rolling Stones in Schutt und Asche zu legen, folgte ähnlichen gruppenspezifischen Dynamiken, wie Ausschreitungen von Fußballfans oder eben Silvesterkrawalle.

Einflussfaktor exzessive Gewaltbereitschaft

Sozialforscher beobachten seit Jahren eine ansteigende Bereitschaft zur Gewalt im Sinne einer quasi innergesellschaftlichen Aufrüstung. Wo in den 50er bis 80er Jahren eine Kneipenschlägerei mit Fäusten und Knüppeln ausgetragen wurde, sind heute schnell Waffen im Spiel, von der Schreckschusswaffe über den Schlagring bis zu fernöstlichen Waffen. Männer und Frauen sind in Kampfsportarten ausgebildet und zögern nicht, sie – ohne die ethischen Prinzipien, die z.B. Judo, Karate, oder Teakwon-Do prägen, einzusetzen. Das gilt in gleichem Maße für die Brutalität von Hooligans rund um den Sport. Verstärkt wird die Gewaltenthemmung noch durch Konsum legaler und illegaler Drogen: Alkohol, Amphetamine, u.ä..

Einflussfaktor Lebensalter

Schon der römische Philosoph Seneca postulierte 200 v.Chr., dass die Gesellschaft praktisch frei von Kriminalität wäre, würde sie alle jungen Männer im Alter von 15-25 wegsperren – was auch er für illusorisch hielt. Die Max-Planck-Gesellschaft für Kriminologie kam in den 1980er Jahren zum Ergebnis, dass über 75% aller Straftaten von Männern im Alter von 16-26 Jahren begangen werden.  Die bei oder nach den Silvesterkrawallen festgenommenen Täter fallen überwiegend in dieses Muster. Diese Erkenntnisse sind lange bekannt, gleichwohl gibt es bis heute praktisch keine gesellschaftlichen Ansätze, die Prävention bei diesen Zielgruppen zu verbessern. Eine politische Bankrotterklärung.

Einflussfaktor mangelnde Bildung

Mit der Bildungsferne von Jugendlichen scheint auch die Gewaltbereitschaft in bestimmten Situationen zu steigen. Mangelnde Fähigkeiten, sich elaboriert auszudrücken und sich verbal erfolgreich auseinandersetzen zu können, führen zu Gewaltbereitschaft. Frustration über mangelnden Schulabschluss und fehlende Kenntnisse, um eine Lehrstelle zu bekommen, können das Aggressionspotenzial steigern. Es ist eine häufig geäußerte These, dass mit sinkendem Bildungsgrad die Bereitschaft steigt, Gewalt als Lösungsmittel sozialer Konflikte zu akzeptieren. Ob das wirklich zutrifft, müsste dringend erforscht werden, bevor auch hier Pauschalurteile gefällt werden.

Einflussfaktor Stadtteil und Wohnumfeld

Im Digitalzeitalter gibt es viele Faktoren, die sozial schwache oder Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund ihres Wohnumfelds diskriminieren. Nicht nur staatliche, sondern auch private Wertungen werden so empfunden. Die Schufa und andere Auskunfteien und Banken versagen Menschen allein aufgrund des Wohnortes Konten, Bankkarten, Kredite, Kreditkarten oder berechnen erhöhte Zinsen, weil sie in sozialen Brennpunkten wie Bonn-Tannenbusch, Berlin-Neukölln, Köln-Chorweiler oder Stuttgart-Asemberg wohnen. Das befördert nicht nur Diskriminierungserfahrungen, sondern auch Schattenwirtschaft als Einstieg in ökonomische Parallelgesellschaften.

Sofort mehr Geld für die Erforschung der Ursachen

Alle hier benannten Einflussfaktoren und wahrscheinlich noch eine Vielzahl darüber hinaus ergeben die Ursachen für das, was wir als “Silvesterkrawalle” in diesem Jahr erlebt haben. Sie zu verhindern, sie zu bekämpfen und sie zu überwinden erfordert schnelle, sorgfältige und ganzheitliche wissenschaftliche Untersuchung und danach gezielte politische Maßnahmen. Sollen sie langfristig wirkungsvoll bekämpft werden, bedarf es einer wirkungsvollen, ganzheitlichen Strategie.

Gescheiterte soziale Integration korrigieren

Auch wenn Maßnahmen, wie die Beschleunigung von Gerichtsverfahren, nicht falsch sind, verkürzen sie doch den Blick und verhindern, sich tiefer mit den Ursachen der Jugendkrawalle an Silvester 2022/2023 zu beschäftigen. Die notwendigen Maßnahmen gehen vermutlich von sozialen Interventionen über schulische, familienpolitische Maßnahmen bis hin zu Sonderprogrammen in sozialen Brennpunkten – möglicherweise weit darüber hinaus. Den Fehler, den Frankreich mit seinen Banlieus gemacht hat, sollten wir nicht wiederholen, auch wenn es scheint, dass  es fünf nach zwölf ist. Die Stabilität unserer Gesellschaft und die Zukunft der Demokratie und vor allem der sozialen Integration sind zu wertvoll, um sie auf dem Altar des Populismus zu opfern.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net