Beueler-Extradienst

Meldungen und Meinungen aus Beuel und der Welt

Solidarität an Weihnachten

Wer fordert Solidarität von denen, die sie nicht üben wollen?

Unerwartet und plötzlich wie in jedem Jahr stehen wir kurz vor Weihnachten. Nun werden wir sie wieder lesen und hören können, die Appelle der Bundeskanzlerin, der Ministerpräsident*innen und des Bundespräsidenten, dass die Familien vor allen Jung und Alt zusammenhalten sollen, dass wir auf unsere Schwachen Rücksicht nehmen, und dass deshalb mit der Corona-Impfung auch in den Alten- und Pflegeheimen begonnen werden wird. Aber auch die salbungsvollen Worte unserer Priester*innen werden an das Gewissen appellieren, aufeinander Rücksicht zu nehmen, einander achtsam zu begegnen und für die Lieben und alle anderen da zu sein. Auch für die einen oder anderen guten Zwecke, Obdachlose, Tafeln, die 3. Welt, geschlagene Frauen und Kinder werden wir Spendenaufrufe und Solidaritätsbekundungen hören. Sogar um den armen Eisbär vor der Klimakrise zu retten, wird Greenpeace vielleicht bei uns Spenden sammeln. Dagegen ist nichts zu sagen, aber wie wirkungsvoll, und an die Richtigen gerichtet, sind solche Appelle?

Solidarität der Ausbeutenden mit ihren Mietsklaven?

Was wir vermutlich nicht zu hören bekommen werden, sind ernstzunehmende, dringende Aufforderungen an die Superreichen, die in der Corona-Krise unbeeinträchtigt leben, ihren Reichtum zu teilen. Zum Beispiel an die Quandt-Erben, die dieses Jahr trotz Lockdown und Krise der Automobilindustrie für 900 Mio. € Coupons schneiden konnten. Oder an Jeff Bezos, dem “reichsten Mann der Welt”, bei dessen Amazon-Ausbeutungsmaschinerie weltweit Hunderttausende zu Hungerlöhnen schuften.  Der die eigenen Mietsklaven beim Arbeiten von Computern überwachen lässt, wobei jeder Klogang und jedes Nasenbohren genauestens registriert wird. Der Gewerkschaften bekämpft und sich seit Jahren erfolgreich weigert, die richtigen Tariflöhne zu zahlen – aber immer reicher wird, und zu den größten Profiteuren der Krise gehört. Werden wir zu Weihnachten und Neujahr hören, dass das aufhören muss, dass er mit 25% oder 30%  Umsatzsteuer belegt wird, oder dass er überhaupt endlich gezwungen wird, hier Steuern zu zahlen? Wir sind gespannt.

Solidarität der Datendiebe mit ihren Objekten der Begierde?

Oder werden wir Appelle an die Multikonzerne Google, Whatsapp, Tik-tok, Facebook und Co. hören, – die als Werbeagenturen mit freiwilligem Selbst-Observationsportal von der Ausspähung von Menschen und der Verbreitung von Fake-News leben – endlich Solidarität zu üben, indem sie sich an gültige Gesetze halten und endlich in Europa Steuern zu zahlen? Die im Übrigen auch dafür verantwortlich sind, dass die Presse als vierte Gewalt der Demokratie fast alle Werbeeinnahmen verloren hat, weil alle glauben, dass diese Datenkraken erfolgreicher Kunden generieren. Werden wir hören, dass die Regierungen versprechen, im kommenden Jahr endlich etwas gegen diese Konzerne zu tun, die  bestrebt sind, jedes noch so kleine Schlupfloch in Datenschutzgesetzen oder der DSGVO zu nutzen, um Konsumenten auszuspähen und dieses Wissen zu vermarkten? Werden wir hören, dass es nicht angehen kann, dass die bayerische Landesaufsichtsbehörde für den Datenschutz in der Privatwirtschaft vergeblich versucht, die Coockies der Süddeutschen Zeitung auszuschalten und dass es nicht richtig ist, dass gerade Twitter mit einem lächerlichen Bußgeld wegen Datenmißbrauch drohend gestreichelt worden ist?

Solidarität der Mißbraucher mit den Opfern?

Wird sich der Papst an Weihnachten endlich bei den hunderttausenden Mißbrauchsopfern seiner Priester entschuldigen, ihnen Entschädigungen zusagen und dies auch einhalten? Wird er zum heiligen Abend den unseligen Vertuscher und Nebelkerzenanzünder Pater Woelki  als Trainer der Kölner Buß- und Betmannschaft entlassen? Wird er selbst tätige Reue zeigen für die jahrhundertelange Menschenrechtsverletzung, Frauen leitende Ämter in seinem Glaubenskonzern zu verwehren und diese Diskriminierung endlich aufheben? Und Schluss machen mit dem verlogenen und heuchlerischen kirchlichen Arbeitsrecht, das im 21. Jahrhundert noch Ärzt*innen oder Sekretär*innen kündigt, nur weil sie sich scheiden lassen oder einen Menschen mit der falschen Konfession heiraten, der Unterstützung selbsternannter “Lebensschützer”, die Frauen in Not terrorisieren und heuchlerisch zusehen, wie ganze Gesellschaften ohne Geburtenkontrolle verelenden?

Solidarität der Hartherzigen und Rassisten mit Geflüchteten?

Natürlich wird es wieder Appelle an unsere Solidarität mit Menschen in den Flüchtlingslagern geben, bei denen die Kontonummer von UNHCR, Caritas oder Diakonie eingeblendet werden. Aber werden die Verantwortlichen der EU-Flüchtlingspolitik benannt werden,  für die Zustände in Moria und seinen Nachfolgelagern, für Sklavenhaltung, Vergewaltigungen und Menschenhandel in den nordafrikanischen Lagern? Wird die Verantwortlichkeit der Herren Orban, Katschinski, Morawietzki, und der Visegrad-Staaten als Ursache der brutalen EU- Flüchtlingspolitik in irgendeiner Weihnachts- oder Neujahrsansprache vorkommen, und sei es nur als hilflose Bitte, darüber nachzudenken, wie sehr diese dem eigenen Anspruch etwa eines Herrn Orban, das “christliche Abendland” verteidigen zu wollen, diametral zuwiderläuft? Werden die Grünen auch im Jahr vor der Bundestagswahl noch verurteilen, dass diese Bundesregierung sich in der Flüchtlingspolitik längst faktisch AfD-Forderungen zueigen gemacht hat?

Solidarität des militärisch-industriellen Komplexes mit der Demokratie?

Welche Würdenträger, die sich um den Jahreswechsel herum zu Wort melden – sofern sie nicht Kabarettist*innen oder Satiriker*innen sind – werden aussprechen, welcher gnadenlose, menschenverachtende Zynismus hinter den in den vergangenen Jahren weltweit angewachsenen Rüstungsausgaben steht, den Raketenprogrammen Russlands und Nordkoreas ebenso wie das wahnwitzige Ziel, 2% des Bruttosozialprodukts jedes NATO-Staates in Rüstung zu verbrennen? Wer wird den Mut aufbringen, den einst der scheidende Präsident Eisenhower aufbrachte, um mit der Rüstungslobby abzurechnen? Wer wird darauf hinweisen, in wievielen Staaten die Rüstungsetats im Geld schwimmen – dass auch in Deutschland die Rüstungsministerin AKK gar nicht weiss, wohin mit dem Geld – dass es aber den Kultusministerien seit drei Jahren nicht gelingt – nicht einmal angesichts einer Pandemie, die digitalen Unterricht erfordert – die Schulen zu digitalisieren und hierfür endlich die fünf Milliarden sinnvoll zu nutzen, die der Digitalpakt den Ländern zur Verfügung gestellt hat?

Solidarität der Verbrenner mit den Sauerstoff Atmern?

Wird es an Weihnachten oder Neujahr jemanden geben, der an die Solidarität der Energiekonzerne mit der Biosphäre appelliert, wo sie nun großzügig für den Kohleausstieg entschädigt werden, nicht alle Möglichkeiten und Fristen auszureizen, ihre vor Jahrzehnten abgeschriebenen, ineffizienten Braunkohlekraftwerke früher abzuschalten und damit freiwillig den CO² Ausstoß schneller und wirkungsvoller zu vermindern? Wird es vorkommen, dass Automobilkonzerne wie dieser aufgefordert werden, endlich von einem Menschenbild abzulassen, das Männern Automobile mit Macht, Durchsetzung von Interessen, angeblicher Freiheit, unbeschränktem Status und Potenz verspricht und Mittelschichtmüttern vorgaukelt, es sei eine gute Idee, ihre Sprößlinge in 2,5 Tonnen-Panzern zur Schule zu fahren?

Solidarität von Lidl, Monsanto und Freunden mit den Produzenten?

Wird an Weihnachten irgendjemand thematisieren, dass Bauern und Erzeuger inzwischen der Appendix der Chemieindustrie sind, die konventionelle Landwirte zwingt, in Glyphosat, Dosiermaschinen, demnächst auch Drohnen und alles teure Equipment zu investieren, dass sie immer tiefer in Abhängigkeit von Bayer und Monsanto bringen wird – natürlich unter dem Deckmäntelchen des Fortschritts und der Umweltfreundlichkeit? Dass diese zurecht um ihre bäuerliche Existenz fürchten, wenn ihnen gleichzeitig bei festgezurrten Margen, die sie den Chemiekonzernen zahlen müssen, die Kartelle der wenigen verbliebenen Lebensmittelkonzerne mit Dumpingpreisen den Atem abschnüren? Jener Konzerne, bei denen die überwiegende Mehrzahl der Bürger*innen ihre Zutaten zum Weihnachtsbraten oder vegetarischen Menü gekauft haben? Mit Milchpreisen unter 30 ct/l, mit Billigfleischdiktaten, die sie in den Schweinezyklus pressen, und mit Billigtarifen für ihre Produkte, die sie an den Rand der Existenzfähigkeit und darüber hinaus drängen? Und dass die EU und Julia Klöckner dieses System immer weiter fortschreiben?

Solidarität der Krisengewinner mit den Verlierern?

Wir warten darauf, dass Politiker*innen wirklich auf Solidarität zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen der Corona-Krise pochen und ein umfassendes Gerechtigkeitsprogramm mit Vermögenssteuern, steuerlichen Belastungen der Spekulationsgewinne an den Finanzmärkten und der Kapitalerträge wenigstens fordern, besser auch umsetzen. Wird ein-schwarz-grünes-Bündnis der neuen Bürgerlichkeit Schluss machen mit der Ausdünnung des öffentlichen und Kapitalisierung des privaten Gesundheitssystems – jenes Mechanismus, der dazu führt, dass ein Beitrags- und steuergefördertes System mehr und mehr statt für die allgemeine Gesundheitsversorgung in der Fläche für die Selbstbedienung privater Klinikkonzerne und Gesundheitsunternehmen offen steht? Wann gibt es statt Klatschen und verbaler Bekundungen für das Pflegepersonal eine völlig neue monetäre Bewertung der systemrelevanten Gesundheits- und Pflegeberufe? Und wer wird diese Forderung aussprechen? Regierende, die vor Landtags- und Bundestagswahlen stehen? Konzernchefs und Gewerkschaftsvorsitzende mitten in der Krise? Eine CDU mit Friedrich “Blackrock” Merz an der Spitze? Bischöfinnen oder Kardinäle? Ist das nicht ebensoviel verlangt, wie die Erwartung an die chinesische Regierung, sich für Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen in Hongkong einzusetzen?

Eigenartige Verengung des Blickwinkels

Ein Jahresende könnte, ob demokratisch, atheistisch oder christlich, jüdisch, muslimisch gedacht und empfunden, doch ein Anlass sein, zu überdenken, was wir tun und wohin wir und unsere Gesellschaft steuern. Das sollte die Reden der Repräsentant*innen bestimmen. Wie aber soll das möglich sein, wenn wesentliche Aspekte der Fehlentwicklungen, von der wir alle betroffen sind, gänzlich unter den Tisch fallen? Wenn Gerechtigkeit auf Generationen abgelenkt, statt auf Schichten oder Klassen angewendet wird, wenn die Verantwortung der Verursacher für das Gefälle von Arm und Reich ausgeblendet oder verschleiert oder schön geredet wird – wie soll sich dann eine Gesellschaft entwickeln, die sich an neue Herausforderungen wie eine Pandemie anpassen kann? Krisenmanagement und Instrumente sind bisher auf die Aufrechterhaltung oder Wiedererrichtung des Status Quo Ante – der Situation vor der Corona-Krise ausgerichtet.

Ob Milliardenpaket für die Lufthansa, Kurzarbeit für die Autoindustrie oder 750 Milliarden-Paket der  EU – viele Wirtschaftshilfen sind nicht wirklich zukunftsweisend aufgestellt, weil sie das bestehende Wirtschaften weiterführen, aber keinen völligen Neuanfang. Eine Neubewertung der Parameter wie Bedeutung der Umwelt, Stellenwert des Konsums und Verwirklichung von Arbeitszufriedenheit und Gleichstellung vorsehen. Ein “Weiter so” kann und wird es nach der Corona-Krise nicht mehr geben. Insofern ist ein Scheitern den bisherigen Krisenkonzepten immanent. Das ist in den  Weihnachtsappellen an unsere Solidarität nicht vorgesehen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Christian

    “Ein “Weiter so” kann und wird es nach der Corona-Krise nicht mehr geben.”

    Leider ist das noch nicht so angekommen. Aus der Richtung Harald Welzer kamen ja immer die Utopischen Denkanstöße wie man es anders machen könnte. Wenn ich jetzt bei meiner Erwerbstätigkeit sehe wie der Arbeitsplan für nächstes Jahr aussieht scheint keiner der Entscheidungsträger etwas begriffen zu haben. Als ich den Plan sah dachte ich spontan an das Wort “Größenwahn” und bekam eine nicht so schöne Panikattacke. Ich hatte naiverweise gehofft das sich die Entscheidungsträger in irgendweiner Weise erden würden, das Wort “Demut” wiederentdecken würden, aber nichts dergleichen. Weitermachen wie vorher…

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