In der Kognitions- und Sozialwissenschaft gewinnt ein neues Forschungsfeld an Bedeutung, nämlich die Interdependenz zwischen der zunehmenden Anwendung digitaler Informationsquellen und der Nutzung von Gedächtnis und Erinnerungen der Menschen. Heute ist ein Großteil des benötigten Wissens (und noch viel mehr) im Internet verfügbar. Das hat Auswirkungen auf unser Gedächtnis. Dank der Internet-“Auskunfteien“ lernt unser Gehirn immer mehr, nichts zu lernen.

Schaut man nämlich nur mal kurz im Internet nach, bleibt kaum Erinnerung zurück. Schlägt man jedoch in herkömmlicher Weise in einem Lexikon oder in einer vergleichbaren Quelle nach, so ist dies aufwändiger, jedoch bleibt auch viel mehr Wissen hängen. Erinnerung entsteht so ähnlich wie eine Datei auf dem Computer. Wenn man zu schnell ist und die Datei nicht speichert, bevor man den Computer bzw. das Gehirn ausschaltet, ist sie verloren.

Die Digitalisierung beeinflusst unser Gehirn. Unser Gedächtnis und unsere Erinnerungen passen sich an. Dabei kann die Digitalisierung sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben, je nachdem, wie wir digitale Techniken nutzen und ob wir ein gesundes Gleichgewicht zwischen digitalen und offline-Aktivitäten anstreben.

# Die Digitalisierung sorgt für Ablenkung, macht süchtig, mindert Konzentration und Leistungsfähigkeit.

# Sie beeinträchtigt das Gedächtnis, weil dieses nicht mehr wie bislang gefordert und trainiert wird.

# Sie macht träge, weil das Gehirn von der Reiz- und Informationsüberflutung überfordert ist.

# Sie kann die Gehirnstruktur verändern, vor allem jene Bereiche, die für Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheidungsfindung zuständig sind.

# Sie erhöht die Stressbelastung, weil von digitalen Geräten ständig „Alarm“meldungen und Einblendungen ausgehen.

# Sie manipuliert und verändert den Menschen und die Gesellschaft, weil das Gehirn zunehmend überfordert ist, wahre und erfundene (erlogene) Internetinformationen zu unterscheiden.

# Sie verändert das soziale Miteinander, weil Kommunikation weitestgehend online erfolgt und die sozialen Kontakte, Fähigkeiten und Gefühle drastisch abnehmen.

# Sie verführt durch ungefragte Werbeeinblendungen und durch Influencer/innen zu unüberlegtem Konsumverhalten.

# Sie erleichtert Multitasking, d.h. die parallele Erledigung mehrerer Dinge. Gleichzeitig führt der Multitaskingmodus jedoch auch dazu, langsamer zu lernen und mehr Fehler zu machen.

# Sie bereichert das menschliche Leben durch Zugang zu neuen Kontakten und zu  neuartigen, nützlichen und bemerkenswerten Erkenntnisse.

# Sie verbessert die Lernmöglichkeiten, weil sie Zugang zu riesigen strukturierten Informationsmengen verschafft.

# Sie erleichtert den Zugang zu Unterhaltungsangeboten.

# Sie steigert die Kreativität, weil sie neue Werkzeuge und Möglichkeiten für kreatives Tun anbietet.

Im Extremfall wird alles gegoogelt. Sicherheitshalber oder zur Selbstbestätigung selbst dasjenige, bei dem man sich eigentlich auf sein Gedächtnis verlassen kann. Wer in der digitalen Welt aufwächst, macht sich nicht mehr die Mühe, Wissen zu speichern, weil alles im Netz verfügbar und abrufbar ist. Dort findet er das Gesuchte, oft aber auch eine Fülle überflüssiger Informationen. Darunter leidet zwangsläufig das Gedächtnis. Man speichert dort weniger Informationen, das Denken wird oberflächlicher, die Erinnerung schwächelt, man kann auf weniger Wissen zurückgreifen. Bekanntlich verkümmert das Gedächtnis, wenn wir es nicht kontinuierlich nutzen. Diesen Effekt kann man nur vermeiden, wenn man die frei gewordene Zeit verwendet, um andere sinnvolle Dinge zu tun und zu lernen.

Ein ungebremster Zugriff auf digitale Informationen kann auch zu einer anderen unerwünschten Wirkung führen, nämlich zur Reizüberflutung. Wenn man gleichzeitig einer Vielzahl von Informationen ausgesetzt ist (z.B. Smartphone, Radio, Straßenverkehr), wird die Aufnahmefähigkeit des Gehirns überfordert und es ist gezwungen, auszuwählen. Was es dann speichert und was nicht, kann recht willkürlich sein und wird nicht unbedingt den Vorstellungen der betreffenden Person entsprechen. 

Allein schon die Tatsache, dass jemand stets sein Smartphone beobachtet für den Fall, dass sich evtl. dort etwas tut, kostet Rechenkapazität im Gehirn. Paderborner Forschern zufolge verringert schon die Anwesenheit eines Smartphones die Aufmerksamkeitsleistung und übe Einfluss aus auf die Arbeitsgeschwindigkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit. Der Mensch arbeite dann langsamer. Wenn man stets einen Teil  seiner Hirnkapazität dazu verwende, an das Handy und dessen Nutzung zu denken, sei man leichter abzulenken. Besonders bei Kindern könne zu viel Zeit am Smartphone oder vor dem Tablet negative Auswirkungen haben. Diese Kinder seien weniger empathisch und litten manchmal sogar unter Sprachentwicklungsstörungen.

Es gibt Stimmen in der Wissenschaft, die sogar vor einer digital verursachten Demenz warnen. Die Beschränkung auf ein Nachschlagen im Internet führe zu einer Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses, weil Informationen dort nur noch bruchstückhaft und flüchtig verarbeitet werden. Für den Umstand, dass die digital erhaltenen Informationen gar nicht mehr in das eigenes Gedächtnis übergehen, wird bereits der Begriff „digitale Amnesie“ verwendet. Der Dauergebrauch digitaler Geräte könne die Hirnstrukturen schädigen, weil er Denken und Lernen schwächt und im Extremfall sogar zum Gedächtnisschwund führt. 

Noch ist dies nicht bewiesen. Andere Fachleute sehen diese Gefahr nicht. Für sie ist das Internet ein Werkzeug wie vieles andere, vielleicht vergleichbar mit der Erfindung der Schrift. Allerdings steht fest, dass die Verarbeitung und Verfestigung von Informationen im Gedächtnis umso besser funktioniert, je aufmerksamer und konzentrierter die Aufnahme und Aufarbeitung der Daten erfolgt – unabhängig davon, ob digital oder analog. Denkt ein Mensch, er könne eine Information jederzeit im Internet wiederfinden, so bemüht sich sein Gehirn nicht, diese zu speichern. Da ist es umgekehrt nachvollziehbar, dass Fakten automatisch stärker in der Erinnerung verankert werden, wenn man weiß (oder annimmt), dass der gerade bearbeitete Text anschließend gelöscht wird. Ansonsten gilt: Ich muss nicht alles wissen. Ich muss nur wissen, wo es steht.

Handys und Tablets sind inzwischen so etwas wie externe Speicher des Gehirns. Viele Menschen sind in hohem Maße darauf angewiesen, obwohl das externe Gedächtnis unpersönlich, verwechselbar und oberflächlich ist. Sie notieren Geburtstage, Reisepläne, Einkaufslisten und vieles mehr, um sie sich nicht merken zu müssen. Allerdings ist der Schrecken groß, wenn es eine Panne gibt und die Daten verschwinden. Wenn ich leichtfertig Dritten Zugriff auf meine Daten ermöglicht habe oder wenn sich Hacker diese illegal verschafft haben. Wenn wieder mal der Akku leer ist. Wenn ich dreimal vergeblich meinen PIN-Code eingegeben habe, weil ich mir vierstellige Zahlen nicht mehr merken kann. Wenn das Handy zu Hause liegt. Wenn es gestohlen wurde. Wenn der Gebrauch von Handys untersagt ist. Oder wenn kein Netzempfang besteht ….

Ungeachtet der nachweisbaren Tatsachen, dass Trojaner unbemerkt bleiben, dass Handys und Computer gehackt und dass die Daten zweckentfremdet werden können, haben nur 39% der Nutzer/innen ihr Smartphone bzw. 22% ihr Tablet durch eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme geschützt. 12,5% haben überhaupt keine Vorkehrungen gegen Missbrauch getroffen.

Im Unterschied zum Computer verwandelt sich wirklich etwas im Gehirn, wenn wir uns etwas merken. Die Strukturen und die Verschaltung der Nervenzellen ändern sich. Das Gehirn filtert relevante Eindrücke heraus und vergleicht sie mit dem bereits gelernten Wissen und Erleben. Doch das Angebot an Impulsen ist kaum überschaubar. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen eine Vielzahl von Informationen. Was nicht sofort verworfen wird, gerät ins Kurzzeitgedächtnis. Dort werden die Informationen bearbeitet, geordnet, systematisiert und verknüpft – sofern sie nicht gelöscht werden, um Platz für Neues zu machen. Die verarbeiteten Informationen gelangen dann ins Langzeitgedächtnis.  

Das menschliche Gedächtnis ist vielseitig und leistungsfähig. Gedächtnis und Erinnerung sind eng verzahnt. Erinnerungen sind eindrucksvolle Erbstücke unserer Vergangenheit, sie bestimmen unsere Einstellung zur Gegenwart und unsere Erwartungen an die Zukunft. Ohne Gedächtnis ist erinnern nicht möglich. Beispielsweise speichert es Bewegungsabläufe: Radfahren muss man nur einmal lernen. Es ermöglicht uns, Personen wiederzuerkennen, auch wenn wir sie jahrzehntelang nicht gesehen haben. Es erlaubt uns den Zugriff auf vielfältiges Wissen, das wir im Laufe unseres Lebens erworben haben, z.B. Historisches oder Fremdsprachen. Es bewahrt unsere autobiografischen Erlebnisse, also die guten und schlechten Erinnerungen aus unserem bisherigen Leben. Letztlich zieht es im Hintergrund die Fäden und bestimmt, was wir sind und was wir wollen.

Zumeist erinnern wir uns an unangenehme Erlebnisse bemerkenswert deutlich. Offenbar wird das Gehirn in Stress-Situationen besonders gefordert, so dass es verschärfte Gedächtnisspuren erzeugt. Emotionen sorgen also dafür, dass wir uns an bestimmte Ereignisse besonders gut erinnern. Offenbar gilt das sogar für emotionale Vorkommnisse, die uns gar nicht persönlich betreffen. Die gesteigerte Gedächtnisleistung betrifft nicht nur negative und traurige Anlässe, sondern auch solche, die Spaß machen, gesteigertes Interesse wecken oder als attraktiv angesehen werden.

Allerdings sind unsere Erinnerungen nicht immer wahr und zutreffend. Sie verändern sich im Laufe der Jahre, vermischen sich mit anderweitig erworbenem Wissen, mit Erzählungen Dritter und mit neuen Erkenntnissen über die Vergangenheit. Oftmals kann der einzelne gar nicht mehr überblicken, an was er sich wirklich noch selbst erinnern kann. Es gibt sogar die These, dass Erinnerungen stärker von der Gegenwart als von der Vergangenheit bestimmt werden. Obwohl Jean Paul gesagt hat „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“

Zeitzeugen bieten den besten Zugang zur Zeitgeschichte. Sie haben etwas mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, selbst geschmeckt, gerochen, am eigenen Leib gespürt. Doch jeder Mensch stuft andere Ausschnitte der Wirklichkeit als bedeutsam ein und verarbeitet sie demgemäß. Der Vorgang des Erinnerns ist daher ähnlich selektiv und subjektiv wie die Wahrnehmung.

Umfragen haben bestätigt, dass die Nutzung des allgegenwärtigen Internets das kognitive Verhalten der Menschen erheblich beeinflusst. 83,5% der befragten Deutschen, also eine überwältigende Mehrheit, nutzt das Internet als eine Art Speichererweiterung des eigenen Gedächtnisses. Jeder Zehnte verlässt sich sogar völlig auf die Möglichkeit, im Bedarfsfall Fakten online nachschlagen zu können. 65% der deutschen Befragten meinen, dass sie sich online recherchierbare Informationen nicht zu merken brauchen. Statt dessen merken sie sich den Weg, um an diese Daten zu gelangen. Fast 60% geben an, keine Zeit für eine Suche in Büchern und Bibliotheken zu haben.

Immerhin erklärt noch eine knappe Mehrheit der Europäer (57%), dass sie bei der Suche nach Fakten zunächst ihr Gedächtnis bemüht, bevor sie eine andere Problemlösung wählt. Überraschenderweise sind es vor allem Menschen im höheren Alter, die sich auf das Internet verlassen. Eventuell beruht das darauf, dass es ihnen schwerer fällt als jüngeren, Daten im Gedächtnis abzuspeichern und diese Erinnerungen abzurufen. Allerdings kann man dies auch positiv sehen, weil die Auslagerung bestimmter Informationen zu einer Entlastung des Gedächtnisses führen kann. 

Bedenklich ist, dass Internet- und Handynutzung sogar abhängig machen können. Die Tätigkeit kann sich wie Suchtverhalten auswirken. Computerspielsucht wurde bereits 2017 von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit anerkannt. Auffällig ist vor allem die Priorisierung gegenüber anderen Lebensbereichen wie Beruf, Schule, Freunde und Familie, aber auch Gesundheit oder Hygiene.

Rückblick:

Die Gedächtnisschwäche hat wahrscheinlich bereits mit dem Taschenrechner begonnen. Manche Schüler/innen kommen ohne diese Hilfe gar nicht mehr klar. Mein Eindruck beim Mathematik-Nachhilfeunterricht war manchmal, dass sie nicht den Rechengang kennen, den sie vornehmen, sondern nur die Reihenfolge, in der sie Zahlen und Zeichen drücken müssen. Da kann es schon mal vorkommen, dass sie sich irren oder vertippen und ein abwegiges Ergebnis erhalten. Bei Kritik beharren sie gerne (zunächst) darauf. Der Taschenrechner zeigt es doch!

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.