mit Update: Nachlesen II + Update 15.6.

Nach Wahlen simulieren Wahlverlierer*innen oft “wir haben verstanden”. Das ist mittlerweile so ausgeleiert und unglaubwürdig, dass es kaum noch zu hören ist. Das hat seinen Grund aber leider nicht in intelligenter Auffassungsgabe, sondern im Schwund der nötigen Demut. Die Hauptstadtblase ist ein eigener Mikrokosmos, der sich in der Not nicht öffnet, sondern immer weiter einschliesst. Wenn es nur diese bekloppte Stadt wäre – sie ist es nicht, sondern nur eine Blase in ihrer Mitte – wäre es egal. Weil wir aber von dort regiert und informiert werden (sollen), wird das gefährlich.

Diese Gefahr hat eine Stimme, die insbesondere in die Führungsspitze der Grünen hinein und dann von dort auch wieder hinaustönt.

Dem entgegen stehen nicht nur Wahlergebnisse sondern auch gesellschaftliche Wirklichkeit hier draussen im Land. Wenn der Kollege Rüdiger Suchsland/telepolis, der vom Kino viel versteht, sich an politischen Strategiefragen versucht, ist Vorsicht geboten. Und auch in diesem Fall Europawahl: Medienanalyse vs. politische Wirklichkeit – Debatte über Rechtsruck: Die Wahl der Medien und die Zahlen. Analysen der Europawahl reflektieren Mediennarrative, nicht Tatsachen.” ist wieder viel Unsinn enthalten. Aber eins erfasst er richtig: “Nur zwölf Prozent der eigenen Wähler gestehen der Partei besondere ‘Kompetenz in der Außenpolitik’ zu, sogar nur acht Prozent Expertise beim `Frieden herstellen und sichern` und sogar nur sieben Prozent glauben, dass Baerbock und ihre Partei ‘deutsche Interessen in der EU zu vertreten’. … Das wichtigste Thema ist Friedenssicherung. Die Regierungsparteien adressieren diese Frage größtenteils falsch und unglaubwürdig. Da Regierung wie klassische Opposition sich in ihrem Bellizismus nicht nachstehen, weichen die Wähler auf neue und extremistische Parteiangebote aus.” (Fettschrift von mir) Ich ergänze: oder bleiben weg – ein banales Kalkül, das von Merkel bis Trump weltweit geläufig ist – aber nicht in der deutschen Hauptstadtblase.

Suchsland weiter: “Man kann solch ein Wählerverhalten auch als selektives Ausblenden unangenehmer Realitäten und als fatale Komplexitätsreduktion beschreiben. Aber die Prioritäten, die die Wähler einfordern, sind klar: Sterben, aber auch nur Frieren und Arm-werden für die Ukraine will keiner, und Frieren und Arm-werden fürs Klima wollen auch nur die Wenigsten.” So ist es.

Wir hier draussen wollen keinen Krieg. Und auch an keinem Krieg von Anderen teilnehmen. Weder für Gutes noch für Böses. Denn der Krieg ist das Böse. Er macht gute Menschen böse. Der vielleicht weltberühmteste Rheinländer hatte vor knapp 200 Jahren rausgefunden: das Sein bestimmt das Bewusstsein (Materialismus). So auch in Eurer Berliner Blase.

Irgendjemand von uns sollte aber auch denen im Kölner Hochhaus des Deutschlandfunks, da draussen am Rande der Stadt, Bescheid sagen. Womit sich wichtige Medien beschäftigen, lesen oder hören Sie dort nicht – aber hier. Das Sein dominiert.

Update Nachlesen II

Zu oben verlinktem Einflüsterer – wobei von Flüstern kann keine Rede sein, Denkpanzerfahrer trifft es besser – bietet sich als unpathetisches Kontrastmittel dieser Beitrag zweier russischer Autoren an: Alexander Lukin, Wladimir Lukin/Nesawissimaja gaseta/telepolis: Moskaus Außenpolitik: Blick nach China, Beziehungen zum Westen – In aktueller Krise sind Lehren aus Geschichte nötig. Und eine Abkehr vom totalitären Erbe der UdSSR sowie ein aufmerksamer Blick nach Beijing.” Keine Ahnung, inwieweit diese Autoren in Moskau beachtet werden. Bemerkenswert ihr Lob des chinesischen Machtpragmatikers Deng Xiaoping. Seine damaligen maoistischen Vorgänger waren es, die den grünen Denkpanzerfahrer als jungen Mann begeisterten. Das Pathos von damals hat er sich bis heute als alter Mann erhalten.

Eine inhaltlich mglw. sinnvolle Analysenergänzung zum Gequatsche um “die Jugend” bietet – vielleicht – die “Sinus-Jugendstudie 2024”, die es nur gegen Geld gibt. Darum hat sie Harald Neuber/telepolis auch nicht verlinkt, sondern nur wie folgt zusammengefasst: So wappnet sich Deutschlands Jugend gegen bestehende und kommende Krisen – Neue Studie zeigt: Heranwachsende sehen Krisen als Normalzustand. Persönliche Perspektiven im Vordergrund. Vor allem zwei Phänomene beunruhigen sie.” Ebenso relevant für das Wahlverhalten der grossen Zahl inkl. Nichtteilnehmer*innen: Axel Kannenberg/heise-online: Umfrage unter Angestellten: Immer mehr gehen mit Faust in der Tasche zur Arbeit​ – Nicht nur die konjunkturellen Aussichten in Deutschland trüben sich ein: Auch die Zufriedenheit unter den Angestellten ist einer Umfrage nach im Abschwung.​” Zeigen Sie mir die Partei (oder ein Medium), die sich darum kümmert. Gewerkschaften tun es – aber nur da, wo sie überhaupt noch sind.

Weitere Länderinformationen: Frankreich, Skandinavien

Bernhard Schmid/Jungle World: Bei den Neuwahlen in Frankreich droht ein Sieg des rechtsextremen Rassemblement national: Macron spielt va banque – Auf den Wahlerfolg der extremen Rechten bei den Europawahlen reagierte der französische Präsident Emmanuel Macron mit der Auflösung der Nationalversammlung. Die Wahlen könnten eine vom Rassemblement national geführte Regierung bringen.”

Andrea Seliger/telepolis: Linke Wahlsieger in Finnland und Schweden erteilen Sahra Wagenknecht eine Absage – In nordischen Ländern haben Linke und Grüne einen beachtlichen Erfolg errungen. Abstriche in Position zur Nato. Klare Haltung zu deutschem Newcomer.”

Digitale Schaubildnummer

Ultramodern das Technodressing der “Anstalt”. Und nebenbei eine kenntlichmachende Dekonstruktion deutschen TV-Quatschens.

Update 15.6.

Die Mehrheitsposition in den demokratischen Gesellschaften, die jedoch weder in den relevanten Massenmedien noch im demokratischen Parteiensystem adäquate Repräsentanz findet, die war heute morgen um 6.50 h im DLF zu hören: Politologe Varwick: ‘Man kann russische Interessen nicht ignorieren’ – Im Ukrainekrieg gebe es faktisch keine Optionen mehr, sagt der Politologe Johannes Varwick. Man müsse lernen, Russlands strategische Ziele zu lesen und Verhandlungsstrategien entwickeln. Es werde um schmutzige Kompromisse wie Land gegen Frieden gehen.” Audio 9 min. Dank an Moderator Jürgen Zurheide – gute Arbeit.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net