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Ampel: Lost in Klein-Klein!

Eine Analyse der Europawahl zu wagen, gleicht 2024 einem Ritt über ein Minenfeld. Eins vornweg: Der vorausgesehene Rechtsruck hat stattgefunden. Ungefähr so stark, wie es alle Prognosen vorausgesagt haben, aber europaweit etwas abgemildert, weil PIS, Orban und Fratelli Italia dramatisch verloren haben. Und auch bei den Sozialdemokraten ist durch ein gewisses Erstarken in Skandinavien nicht der Einbruch entstanden, der befürchtet werden musste. Verlierer der Wahl sind eindeutig FDP und Grüne, die etwa gleich stark europaweit verloren haben. Europapolitik, das ist ein international gemeinsamer Nenner, hat bei dieser Wahl noch viel weniger als 2019 eine politische Rolle gespielt. Nationale Ängste, Befindlichkeiten und politisches Klein-Klein haben diese Europawahl viel entscheidender geprägt als die letzte Wahl 2019.

Ein Blick auf das deutsche Wahlergebnis

Das Abschneiden von SPD, FDP und Grünen in Deutschland gleicht einem Desaster. Da mag Christian Lindner noch so blähen, die Europawahl habe die FDP gestärkt – Tatsache ist, dass sie verloren hat, wenn auch nur 0,2%, während Grünen von 20,4% auf 11,9% Prozent praktisch halbiert wurden. Europaweit wurde die liberale Familie jedoch von 102 auf 79 Sitze eingedampft, Die Grünen wurden fast halbiert, aber der europaweite Schwund beträgt von 72 auf 53 Sitze im EP. Das bedeutet ein Verlust des rechts- und linksliberalen Lagers zusammen in Europa von über 30% ihrer Sitze. Für Aufklärung, Wissenschaft und Vernunft, für diese beiden Parteien auf unterschiedlichen  strategischen Wegen und Inhalten stehen, ein politisches Desaster. Ebenso für die SPD, die Kanzlerpartei, deren Abschneiden von 13,9% tektonisch geeignet ist, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner gleichzeitig in ihren Gräbern in heftige Rotation zu versetzen.

Ohne Quertreiber könnten die Chancen der Koalition steigen

Für alle drei Parteien muss das Ergebnis der Europawahl ein Weckruf sein, dass Europawahlen nicht nach europäischen Kritierien stattfinden, wenn keine Medien über Politik aus Europa berichten oder über die europäische Politik reden. Ein Weckruf, dass es nicht erfolgreich sein kann, mit den Rechtsextremisten ins gleiche Horn zu tuten, die Flüchtlinge für die sozialen Ungerechtigkeiten in der Krise verantwortlich machen. Ein Weckruf, dass es einfach keinen Erfolg haben kann, wenn sich die drei Koalitionspartner der Ampel wie bisher bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegeneinander und auf Kosten der anderen profilieren wollen. Dass mit Agnes Strack-Zimmermann eine Quertreiberin der FDP als Oma nach Europa gegangen ist, könnte zur Deeskalation beitragen, zumal ihr Counterpart Hofreiter sich bei der letzten Runde der Forderung, dass mit deutschen Waffen endlich hinter die russische Grenze geschossen werden solle, ziemlich blamiert hat und SPD-Quertreiber Roth seinen politischen Abschied angekündigt hat. Aber die Frage bleibt vor allem, ob die Koalition sich dazu durchringen kann, zivilisiert vor der Sommerpause den Haushaltsentwurf 2025 zu verabschieden, um ihn in der ersten Septemberwoche in den Bundestag zu geben, oder sich im Sommerloch weiter zerlegen und gegenseitig demontieren wird.

Mit Europa hatte diese Wahl nicht viel zu tun

Was gibt Anlass zur These, dass die Bundespolitik entscheidend für den Wahlausgang war? Umfragen von ARD und Infratest dimap ergaben, dass bei dieser Wahl – anders als 2019 – für 55% die Bundespolitik, nur 38% die Politik in Europa wahlentscheidend war. Und eine zweite Schlüsselzahl: 82% der AfD Wählenden war es scheißegal, dass diese Partei rechtsextremistisch ist. Dieses Problem bleibt uns erhalten. Deshalb ist es müßig, sich den Kopf zu  zerbrechen, warum die AfD bei TikTok so toll Jugendliche erreicht hat. Viel wichtiger wäre es, wenn Nancy Faeser und die Bundesländer Thüringen, Sachsen und Brandenburg die dort als gesichert rechtsextrem analysierte AfD-Jugendorganisation verböte. Denn die Umfragewerte machen auch klar, dass die eingefleischten AfD-Wählenden sich durch Berichterstattungen in den demokratischen Medien nicht beeindrucken lassen. Dann vielleicht durch ein konsequentes Vorgehen des demokratischen Rechtsstaats gegen Rechtsextremisten. Das darf die politische Auseinandersetzung natürlich nicht ersetzen, aber es wird immer dringender, dass die wehrhafte Demokratie endlich wehrhaft handelt. Gleichermaßen ist es notwendig, dass die Gespräche mit der Union über die verfassungsrechtliche Absicherung des Bundesverfassungsgerichts noch in dieser Legislaturperiode zum erfolgreichen Abschluss kommen.

Grüne Politik erstickt im Detail

Es gibt seit Rot-Grün 1998-2005 kaum noch grüne Wähler*innen, die nicht wissen, dass man in Koalitionen Kompromisse machen muss. Aber Grüne Politik in einer Ampel umzusetzen muss nicht heissen, Grundsätze über Bord zu werfen. Aber es ist wichtig, dass trotz Kompromissen in der Sache und der Anpassung an einen nicht vorhergesehenen Krieg, die großen Linien erkennbar bleiben, wohin Grünen langfristig wollen. Decarbonisierung, Klimapolitik, ökologische Landwirtschaft, aber eben auch Friedens- und Migrationspolitik, eine liberale Gesellschaft in der Innen- und Rechtspolitik, eine nachhaltige Sicherung der Renten – all dies sind grüne Themen, die in dieser Koalition nicht optimal erreichbar sein mögen – es darf nicht sein, dass sie als Themen der Grünen Partei in der Öffentlichkeit nicht mehr vorkommen. Die Grüne Partei erstickt momentan in Details und Klein-Klein und kann nicht erklären, wo sie langfristig hin will. Das ist ungeschickt und unklug. Das mag auch an der zu großen Nähe der beiden Parteivorsitzenden zur Tagespolitik der Koalition liegen, die sie die “großen Linien” nicht mehr sehen lässt. Hinzu kommt, dass sich die derzeitige politische Geschäftsführerin der Grünen, Emily Büning, allein als technokratische Chefin des Parteiapparats versteht. Ihre Vorgänger*innen waren weit politischer und es stünde den Grünen gut an, eine/n Generalsekretär*in zu wählen, die sich um die langfristigen Ziele der Grünen und ihr gesellschaftliches Profil kümmert. Die Grünen haben wohl vergessen, dass Politik nicht nur in den Parlamenten stattfindet. Da hat sich die aktuelle grüne Führungsschicht selbst zu Tode gesiegt.

Dringende Wende der Grünen in Migrationspolitik und Friedenssicherung

Wenn diese Europawahl etwas gezeigt hat, dann war das – die Grüne Partei betreffend – dass es dringend notwendig ist, dass Grüne sich von den Falken der Kriegsführung gegen Russland zurück zu einer nachdenklichen Haltung verändern, die den Wurzeln in der Friedensbewegung angemessen ist. Grüne haben den größten Teil ihrer Wähler*innen an die “Partei der Nichtwähler” verloren. Es geht nicht darum, den Kurs der Unterstützung der Ukraine – wie etwa das BSW – fahrlässig zu verlassen. Aber angesichts der riesigen Zahl von Wähler*innen, die in der Friedensbewegung und gewaltloser Politik sozialisiert worden sind, stünde es den Grünen gut an, mit Offenheit und Nachdenklichkeit über Wege zur Befriedung des Krieges in Europa zu diskutieren. Sie sollten sich dabei an seriösen Publikationen etwa von Heribert Prantl: “Den Frieden gewinnen”  und Günter Verheugen/Petra Erler: “Der lange Weg zum Krieg”  orientieren, deren erstaunliche Auflagezahlen zeigen, dass es eine breite Sehnsucht nach differenzierter Diskussion über einen europäischen Frieden jenseits platter Phrasen von Außenministerin Baerbock “Putin will nicht verhandeln” und der  Märchen von AfD/BSW, Putin sei ein Friedensengel, gibt. Hier gäbe es für eine offene, kluge und strategische Diskussion für Grüne viele Wähler*innen zurück zu gewinnen.

Gegen Fremdenhass und verfassungswidrige EU-Migrationspolitik

Völlig ohne Not haben sich die Grünen die EU-Migrationspolitik zueigen gemacht. Es hätte von Anfang an sehr wohl die Möglichkeit gegeben, die Beschlüsse der EU mit Kühle und Distanz einzuordnen und deutlich zu machen, dass es sich hier um einen Kompromiss handelt, durch den zwar Konservative, Sozialdemokraten und Liberale eine Lösung des Flüchtlingsproblems versprechen, der aber erkennbar individuelle Grundrechte und Flüchtlingskonventionen verletzt. Die Durchführung von Asylverfahren ohne Rechtsschutz in Auffanglagern außerhalb der EU-Grenzen wird sich spätens bei einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erweisen. Es kann so keine Rechtstaatlichkeit und keine Einhaltung von Mideststandards geben. Die Drittstaatenregelungen zur Abschiebung von Flüchtlingen steht ebenso auf tönernen Füßen – allein der Verteilungsmechanismus innerhalb der EU könnte, würde er irgendwann funktionieren, –  begründen, warum die Grünen ein Regelpaket akzeptiert haben, das Menschen- und bürgerrechtlichen Prinzipien und auch dem Grundgesetz zuwiderläuft. Gerade Grüne Wähler*innen haben seit dem Kosovo-Krieg gelernt, dass man in Regierungsverantwortung Kompromisse machen muss. Man muss sie sich aber nicht zueigen machen und die eigenen bürgerrechtlichen Prinzipien aufgeben. Insofern wird es Zeit, dass in der Grünen Partei eine Meinngsbildung angestoßen wird. Wohin es dabei gehen könnte, habe ich am Wahlsonntag hier skizziert. Wir brauchen eine neue, grundsätzliche Diskussion über Migrationspolitik von links, die mit den Märchenerzählungen von AfD bis SPD von der erfolgreichen Abschottung radikal bricht. Und feiges Wegducken beendet und dem Mitheulen von falschen Migrationsparolen der Abschottung ein Ende bereitet und zur Grundrechtspolitik der Grünen zurückkehrt. Dann klappts auch wieder mit der Klimapolitik.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Heiner Jüttner

    Roland schreibt: Grüne “haben seit dem Kosovo-Krieg gelernt, dass man in Regierungsverantwortung Kompromisse machen muss. Man muss sie sich aber nicht zueigen machen und die eigenen bürgerrechtlichen Prinzipien aufgeben.”
    Damit hat er meine Austrittsbegründung noch einmal auf den Punkt gebracht. Danke.

  2. Annette Hauschild

    Lieber Roland, ich stimme Dir bei. Du hast meine Gefühle sehr gut dargelegt. Dein Herzensthema sind die Bürgerrechte und das Grundgesetz. Meines ist die Außen- und Sicherheitspolitik.
    Es ist verflixt mit diesen Oliv- Grünen. Das hat seine Geschichte. Aufgrund der Zustimmung zu dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Serbien sind viele langjährige friedensbewegte Mitglieder ausgetreten. Damals wurde von den “Realos” die grüne Wurzel in der Friedensbewegung gekappt. Die Leute hinterließen eine große Lücke und ich fühlte mich plötzlich sehr allein in diesen Grünen mit meinen friedenspolitischen Überzeugungen. Aber diese Austrittswelle war beabsichtigt und wurde genutzt um die Ausrichtung der ‘Grünen auf totale Regierungsfähigkeit zu ändern. Es ging ja auch erstmal aufwärts in der Wählergunst und eine kleine Versöhnung kam mit dem Nein zur Beteiligung am Irakkrieg 2003.

    Petra Kelly ist heute bei Grünenmitgliedern unbekannt

    Es kamen neue Mitglieder, jung, karriereorientiert, die aktiv mitgestalten wollten, und es kamen in späteren Jahren etliche, die den bewaffneten Kampf als Ehre und Verpflichtung empfinden. Die sind jetzt an den Spitzen einiger Landesverbände und des BuVo. sowie im Bundestag. Die Neuen hatten mit der Friedensbewegung nichts mehr am Hut, für die war das nur Mythos aus grauer Vorzeit. Viele Mitglieder kennen heute nicht einmal den Namen Petra Kelly.

    Besonders Mitglieder mit Migrationshintergrund sind vollkommen anders sozialisiert. Ich denke an Pegah Edalatian, kampfbereit für Frauenrechte in Iran , an einen Bundeswehrsoldaten in der LAG Europa und Frieden für die Kurden in Syrien. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ein MdB aus Kassel, der von Bosniern abstammt, hat mir am Rande des Bonner Parteitags gesagt, “Ihr wart eine arische Friedensbewegung”. (Es waren ja relativ wenige Migranten bei den Friedensdemos am Hofgarten). “Wenn wir damals Waffen von Euch bekommen hätten, hätten wir uns gegen die Serben verteidigen können.. Aber Ihr habt sie uns vorenthalten..” Er wollte damit sagen “Ihr seid schuld”. In völliger Verkennung übrigens der Überfälle und Angriffe der kroatisch-bosnischen Armee auf die serbischen Dörfer rund um Srebrenica, die dem Massaker an den wehrfähigen Männern in Srebrenica vorausgingen. Sarah Nanni aus Düsseldorf, die angeblich zur parlamentarischen Linken in den Oliv-Grünen zählen soll, mit ihrem albernen “Laßt die Leos frei”- Slogan, das sind alles Leute, die Kampf und Widerstand offenbar für selbstverständlich halten. Über Wege zum Frieden und zur Verständigung denken die sicher nicht nach. Ebenso wenig wie Annalena Baerbock.
    Haben sie das je gelernt? Haben sie dazu das geistige Rüstzeug? Sind sie zu sehr von der Richtigkeit ihrer Haltung überzeugt? Was ist für die wichtiger, Leben, Freiheit, Vaterland? Oder Frieden, Abrüstung und Verständigung?

    Besonders enttäuscht bin ich von Jürgen Trittin. Der hat auf dem Parteitag in Bonn tatsächlich gerufen wir brauchen die nukleare Teilhabe, Damit wir später gleichzeitig mit der anderen Seite wieder abrüsten können. Total umgefallen, der Mann. Einfach traurig. Von Joschka will ich gar nicht reden, was der zur jetzigen Lage sagt war mir schon lange klar. .

    So eine Partei kann ich nicht wählen.

    Ich wünsche mir sehr, dass die Tarnfleckfanatiker*innen Ihre Überzeugung ändern können, aber wie kann das erreicht werden?
    Wann wächst bei denen die Einsicht, dass sie auch an den Toten der Ukraine und im Gazastreifen mit Schuld sind, indem sie die NATO-Expansion in völlig unverantwortlicher Weise weitertreiben, und in der Ukraine durch Waffenlieferungen und verächtlichem Abtun aller Friedenspläne außer dem von Selensky das Töten verlängern?
    Wann begreifen sie, dass sie sich In Gaza machen mitschuldig gemacht haben durch Stillhalten, Waffenlieferungen und Schweigen – wer schweigt stimmt zu, oder? – und Stigmatisierung/Unterdrückung/Verbot des zivilen Widerstandes in Deutschland gegen das Abschlachten von 37.000 Zivilisten und ethnischer Säuberung durch Israel.

    Wir hätten uns früher umgehend zu Wort gemeldet und nicht nur den russischen Überfall auf die Ukraine und den Überfall der Hamas vom 7. Oktober sondern auch die Kriegsverbrechen Israels in Gaza aufs Schärfste verurteilt und den sofortigen Stopp von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung gefordert. Wir hätten die Demos organisiert, die Bundestagsresolutionen, Hilfslieferungen, Schiffskonvois und Spendensammlungen. So was hat alles dann die Linke übernommen.

    Und heute? Kein Wort in grünen Mitgliederversammlungen zu Gaza, Schweigen in der Wüste ,

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