7 Tage die Woche – Interview mit Susana Pereira Ventura von ver.di über Arbeitsbedingungen und Konflikte in der Seeschifffahrt

Jeder und jede kauft, isst oder verwendet tagtäglich Produkte, die mit Schiffen auf den Weltmeeren transportiert wurden. Dennoch ist sehr wenig über die Arbeitsbedingungen auf den großen Tankern und Containerschiffen bekannt. Wer sind die Leute, die die Dinge transportieren, die wir konsumieren? Woher kommen sie und mit welchen Problemen sind sie konfrontiert? Darüber sprach Gert Eisenbürger mit Susana Pereira Ventura. Die Portugiesin ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di und dort für gemeinsame Kampagnen und Kooperation mit der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) im Bereich Seeschifffahrt zuständig. Die ITF ist ein internationaler Zusammenschluss von Gewerkschaften aus dem Transportsektor, die fast 20 Millionen Mitglieder repräsentieren. Ver.di ist die deutsche Mitgliedsorganisation der ITF.

Vielleicht können Sie zunächst kurz einige Basisinformationen zur Seeschifffahrt geben. Wie viele Menschen arbeiten weltweit auf Schiffen? Ist es tatsächlich so, wie in Filmen oder Abenteuerromanen dargestellt, dass sie jeweils für einige Monate auf den Schiffen anheuern und dann wieder ein neues Schiff suchen müssen, oder sind sie bei Reedereien fest angestellt?

Die Seeschifffahrt ist ein ganz wichtiger Sektor der Weltwirtschaft. Fast 90 Prozent aller Waren, die wir bekommen, kommen über die Meere. Es gibt ungefähr zwei Millionen Seeleute weltweit. Aber diese Leute sind oft nicht sichtbar. Normalerweise haben sie keine festen Verträge. Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Leuten, vor allem europäische Seeleute, die fest angestellt sind. Aber die große Mehrheit arbeitet mit befristeten Verträgen von sechs bis neun Monaten, manchmal mehr, manchmal weniger, auch abhängig von der Funktion, die sie auf den Schiffen haben, und von der Region, aus der sie kommen. Die europäischen Seeleute sind meistens kürzer, die aus der asiatisch-pazifischen Region oft länger unterwegs.

Nach landläufiger Meinung waren und sind Seeleute ausschließlich Männer. Ist das tatsächlich so?

Das ist überwiegend so. Auf den Schiffen deutscher Reedereien, egal ob sie unter deutscher oder der Flagge eines anderen Landes fahren, liegt der Frauenanteil bei etwa drei, vielleicht vier Prozent. Das ist etwas mehr als bei den Schiffen von Reedereien anderer Länder, aber dennoch sehr, sehr wenig. Die Frauen arbeiten überwiegend dort, wo Passagiere an Bord sind, also auf Kreuzfahrtschiffen oder Fähren. Dort sind sie aber in der Regel auch nicht im technischen Bereich, sondern im Hotel- und Gastronomiebetrieb tätig. Auf Frachtschiffen fahren fast keine Frauen.

Billigflaggen

Bei Schiffsunglücken ist immer wieder die Rede davon, dass das jeweilige Schiff unter einer Billigflagge fährt, weswegen die Sicherheitsstandards dort anders gehandhabt würden als etwa bei Schiffen, die unter der Flagge europäischer Länder arbeiten. Bei den Billigflaggen wird häufig neben dem afrikanischen Liberia auch das mittelamerikanische Panama genannt. Was bedeutet es, wenn ein Schiff zum Beispiel unter der Flagge Panamas fährt?

Reedereien können ihre Schiffe im eigenen Land, aber auch in anderen Ländern registrieren lassen, zum Beispiel in Panama. Die Reedereien machen das, weil in diesen Ländern die Auflagen niedriger sind als in ihren Heimatländern, also etwa in Deutschland. Für Besatzungen in Deutschland registrierter Schiffe existieren klare Vorgaben bezüglich Sozialversicherung, Arbeitszeiten, Pausen. Das betrifft aber auch Sicherheitsauflagen oder Steuern. Deshalb registrieren Reedereien ihre Schiffe lieber dort, wo Standards und Auflagen niedriger sind, wie Sie schon sagten. 95 Prozent der Schiffe, die etwa in Panama registriert sind, gehören Reedereien aus anderen Ländern. Von den Schiffen deutscher Reedereien fahren 90 Prozent unter Flaggen anderer Länder, also unter Billigflaggen.

Das heißt, wenn Schiffe deutscher Reedereien unter der Flagge Panamas fahren, gelten dort nicht die deutschen Gesetze bezüglich Arbeitsschutz oder des Rechts zur Wahl von Betriebsräten, sondern die von Panama?

Genau. Welche Regeln für Schiffe gelten, hängt allerdings nicht nur davon ab, unter welcher Flagge sie fahren, also wo sie registriert sind. Daneben gibt es auch Hafenregeln. Wenn ein Schiff im Hamburger Hafen vor Anker geht, gelten die Sicherheitsstandards, die in Hamburg vorgeschrieben sind. So gelten in jedem Hafen bestimmte Regeln, die die Schiffe, die diese Häfen anlaufen wollen, respektieren müssen.

Die ITF und ver.di machen seit vielen Jahren eine Kampagne gegen Billigflaggen. Worum geht es in der Kampagne?

Zuerst einmal den Blick darauf zu lenken, dass Unternehmen, die in Deutschland ansässig sind und Geld verdienen, mit der Möglichkeit, ihre Schiffe anderswo zu registrieren, deutsche Sozial- und Sicherheitsstandards unterlaufen können. Ein weiteres Ziel ist es, ein internationales Netzwerk aufzubauen, um die Seeleute zu unterstützen. An Land ist es wesentlich einfacher, mit den Kollegen und Kolleginnen zu kommunizieren und ihre Rechte zu verteidigen, also klassische Gewerkschaftsarbeit zu machen. Auf See haben die Kollegen oft nicht die nötigen Kommunikationsmittel, sind häufig isoliert, können nicht ohne weiteres mit den Seeleuten auf anderen Schiffen in Kontakt treten. So versuchen wir, die Kollegen untereinander zu vernetzen und ihnen Telefonnummern oder über WhatsApp Kontakte zu Ansprechpartnern in den Häfen oder ihren Heimatländern zu nennen, an die sie sich wenden können.

Unser großes Ziel ist natürlich das Ende des Billigflaggensystems. Denn solange Reedereien ihre Schiffe dort registrieren können, wo Standards niedriger sind, werden sie das auch tun. Aber das ist sehr langwierig, denn der politische Einfluss der Reedereien ist sehr groß. Die ITF kämpft seit 75 Jahren für nationale Flaggen mit einem fairen sozialen Schutz für Seeleute und fordert auch, dass jedes Schiff durch einen Tarifvertrag und faire Heuern (Löhne) abgedeckt ist.

Tarifverträge

Bei der Vorbereitung des Interviews habe ich gelesen, dass die Besatzungen der großen Frachtschiffe heute sehr international sind. Oft sind Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern an Bord. Wie sieht es unter diesen Umständen mit der gewerkschaftlichen Organisierung und Vertretung der Besatzungen aus? Wo sind Seeleute gewerkschaftlich organisiert, in ihren Heimatländern? In den Ländern, wo die Reedereien, für die sie gerade arbeiten, ihren Hauptsitz haben? In den Ländern, unter dessen Flagge das Schiff fährt, auf dem sie gerade sind?

Normalerweise sind die Seeleute in den Ländern gewerkschaftlich organisiert, aus denen sie kommen beziehungsweise in denen sie leben. In Deutschland sind die Seeleute bei ver.di organisiert. Ver.di schließt auch mit den deutschen Reedereien nationale Tarifverträge ab. Die gelten aber nur für die Schiffe, die in Deutschland registriert sind. Ver.di schließt mit den Reedereien auch Tarifverträge für Schiffe deutscher Reedereien ab, die unter anderer Flagge fahren. Aber die müssen für jede Reederei oder jedes Schiff gesondert abgeschlossen werden, da gelten nicht die nationalen Tarifverträge. Deshalb ist ein weiteres Ziel der Billigflaggenkampagne, zu international einheitlichen Regeln für Tarifverträge zu kommen.

Gelten die Tarifverträge, die zum Beispiel ver.di für Schiffe deutscher Reedereien, die in anderen Ländern registriert sind, abschließt, dann nur für deutsche oder in Deutschland lebende Seeleute oder auch für die Seeleute, die die deutschen Reedereien in Drittländern unter Vertrag nehmen?

Die Tarifverträge gelten für alle Mitglieder der Besatzung eines Schiffes.

Wie ist bei den Besatzungen der Schiffe deutscher Reedereien das Verhältnis zwischen in Deutschland lebenden Besatzungsmitgliedern und solchen, die in anderen Ländern leben?

Weit über 90 Prozent der Besatzungen kommen aus Drittländern. Bei Schiffen, die unter Billigflaggen fahren, ist der Anteil noch höher. Deutsche beziehungsweise in Deutschland ansässige Besatzungsmitglieder bekleiden in der Regel Führungspositionen, also Kapitäne, Offiziere, Ingenieure und ähnliches. Die anderen Arbeiten an Bord werden von Beschäftigten aus Drittländern ausgeübt.

Philippinen – fast die Hälfte der Seeleute

Woher kommen die Seeleute auf den internationalen Schiffen?

Den größten Anteil stellen Kollegen von den Philippinen, daher stammt fast die Hälfte der weltweit tätigen Seeleute. Danach kommen Seeleute aus der Ukraine. An dritter Stelle aus Russland, wobei deren Zahl aufgrund der internationalen Entwicklung sinkt. Sie finden derzeit nur schwer Jobs, andere kehren nach einem Heimaturlaub nicht in die Seeschifffahrt zurück. An vierter und fünfter Stelle kommen dann Seeleute aus Indien und Polen. Aus Lateinamerika stammt nur ein geringer Prozentsatz der internationalen Seeleute. Unter ihnen kommen die meisten aus Peru.

Gewerkschaftliche Inspektoren

Ich habe gelesen, ein großes Problem auf Seeschiffen sei, dass Löhne nicht oder nur teilweise ausgezahlt werden. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Das ist eines der vielen Probleme, die Seeleute haben, ein sehr gravierendes. Ein anderes konfliktives Thema ist die Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeiten. Dazu gehört auch, dass Überstunden nicht bezahlt werden. Ein anderes, häufig auftauchendes Problem ist die Rückführung. Wenn der jeweilige Zeitvertrag der Seeleute zu Ende ist, haben sie einen Anspruch darauf, dass die Reedereien den Rückflug zu ihrem Heimathafen organisieren und finanzieren. Oft erhalten wir Hilferufe von Seeleuten, die irgendwo festsitzen und tage- oder wochenlang auf ihr Rückflugticket warten. Ein weiteres Thema ist der Landgang, der den Seeleuten in Häfen zusteht, ihnen aber verweigert wird, etwa wenn ein Kapitän nach der Entladung (das geht bei Containerschiffen relativ schnell – die Red.) sofort weiterfahren will. Dann können die Seeleute nicht einkaufen oder Geld an ihre Familien schicken. Viele Seeleute beklagen immer noch, dass sie keinen Internetzugang haben. Inzwischen haben viele, aber immer noch nicht die Mehrheit der Schiffe Internet, aber längst noch nicht alle. Ein Internetzugang ist sehr wichtig für die Seeleute, um während der monatelangen Abwesenheit mit ihren Familien und ihrem Umfeld in Kontakt zu bleiben.

Bei solchen Konflikten können sie uns kontaktieren, telefonisch oder über WhatsApp. Wir schauen dann zunächst, ob es einen Tarifvertrag mit dem Unternehmen gibt und welche Gewerkschaft ihn unterschrieben hat. Dann ist die jeweilige Gewerkschaft zuständig und nimmt Kontakt mit dem Unternehmen auf. Oder wir als ITF schauen, welche Häfen das Schiff als nächstes anläuft, und schicken eine Inspektion.

Wir haben weltweit 140 Inspektoren, die in den Häfen an Bord der Schiffe gehen und die Leute bei Konflikten unterstützen und beraten. In deutschen Häfen haben wir fünf Inspektoren. Die Kollegen können sie vorab kontaktieren und auf die Probleme oder Missstände auf ihren Schiffen hinweisen. So können die Inspektoren gegenüber den Kapitänen und den Reedereien die Konflikte ansprechen und ihre Informanten schützen. Wenn bekannt würde, welche Seeleute sich über Missstände beschwert haben oder auch nur in der Nähe der Gewerkschaft sind, könnten die entsprechenden Kollegen schnell ihre Jobs verlieren und nicht so leicht neue finden.

Dürfen die Inspektoren überall an Bord gehen oder können die Kapitäne und/oder Reedereien ihnen auch den Zugang verweigern?

Den Inspektoren der Hafenbehörden müssen die Kapitäne immer Zugang gewähren, aber sie sind nicht verpflichtet, unsere Inspektoren an Bord zu lassen. Das hängt oft von den Beziehungen ab, die wir als ITF oder die lokalen Gewerkschaften zu den Reedereien haben. Bei Schiffen von Reedereien, die mit den Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen haben, ist darin normalerweise festgeschrieben, dass unsere Inspektoren das Recht haben, an Bord zu gehen. Bei den Schiffen, bei denen keine Tarifverträge bestehen, ist das nicht der Fall. Da können Kapitäne unseren Inspektoren den Zutritt verweigern. Da gibt es manchmal Diskussionen. Manchmal helfen auch die Hafenbehörden, indem sie die Kapitäne auffordern, unsere Leute an Bord zu lassen.
Viele Reedereien kooperieren, dann lassen sich Probleme lösen. In 90 Prozent der Fälle schaffen wir es, Lösungen zu finden. Aber manche Schiffseigner oder Kapitäne verweigern die Zusammenarbeit mit uns. Oder wir finden nicht die richtigen Ansprechpartner. In der Seeschifffahrt gibt es auch Firmengeflechte, das heißt, Reedereien gehören zu anderen Unternehmen oder zu Fonds. Dann ist nicht klar, mit wem wir verhandeln können.

Angst

Wenn keine Lösungen gefunden werden, kommt es dann auch zu Arbeitskämpfen und Streiks?

Sehr selten. Es ist heutzutage sehr schwierig, in der Seeschifffahrt Streiks zu organisieren. (1) Ich komme ursprünglich aus einem anderen Sektor des Transportwesens an Land, wo es häufig Arbeitskämpfe gab. Auf See ist das anders. Dafür gibt es viele Gründe. Ganz zentral ist die bei jeder Fahrt unterschiedliche Zusammensetzung der Besatzungen. Die Seeleute kommen aus Ländern mit sehr unterschiedlichen gewerkschaftlichen Traditionen, auch mit unterschiedlichen politischen Verhältnissen. Bei Kollegen, die aus diktatorisch regierten Ländern kommen, spielt Angst eine große Rolle. Da die Kollegen sich oft gar nicht kennen, wenn sie eine Fahrt antreten, gibt es häufig kein großes Vertrauen untereinander. Bei Arbeitskämpfen ist es sehr wichtig, dass man den Kollegen, mit denen man zusammen etwas durchsetzen will, vertraut.

Ich habe gehört, dass schwarze Listen existieren, die es Kollegen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen oder Missstände thematisieren, sehr schwer machen, wieder eine Arbeit auf einem Schiff zu bekommen. Ist das wirklich so?

Schwarze Listen, die irgendwo aushängen oder im Netz kursieren, gibt es nicht, ich habe noch nie so etwas gesehen. Was aber sehr wohl existiert sind informelle Kanäle. Die Reedereien in Deutschland kommen zum Beispiel alle aus der gleichen Ecke, Hamburg, Lübeck, Bremen, Bremerhaven. Deren Eigentümer oder Geschäftsführungen kennen sich alle untereinander. Da werden natürlich auch Informationen ausgetauscht, auch über Seeleute, die in ihren Augen Probleme machen könnten.

Anmerkung

(1) Das Wort Streik, englisch strike, kommt ursprünglich aus der Seeschifffahrt, von „to strike the sails“. Wenn die Seeleute unzufrieden waren, strichen sie die Segel, ggf. zerschnitten sie auch die Takelage. Damit war das Schiff nicht mehr manövrierfähig.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Das Interview führte Gert Eisenbürger am 21. Mai online. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 476 Juni 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Gert Eisenbürger (Interview) / Informationsstelle Lateinamerika:

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