Wiederaufleben, erneuter Rückgang und Perspektiven

2009 erschien das Buch „Das Wiederaufleben des Arbeiter*innenstreiks in Chile – Die Gewerkschaftsbewegung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts“, herausgegeben von Antonio Aravena und Daniel Núñez. Dieses Buch ist zu einem Standardnachschlagewerk in Chile geworden. Es zeigt einen Wendepunkt der Konfliktbereitschaft in der Privatwirtschaft. Einige sahen darin sogar den Beginn einer Phase der Wiederbelebung der Gewerkschaften. Die in dem Buch dokumentierten Streiks fanden in einer Zeit boomender Rohstoffpreise statt und in Wirtschaftssektoren, die an der Rohstoffproduktion beteiligt sind, wie Bergbau, Forstwirtschaft und Lachsindustrie. Angeführt wurden die Streiks durch Aktionen von Randbelegschaften. Gonzalo Durán erklärt, warum dies ein Wendepunkt war, wie die Situation vorher aussah und wie es heute, nach der COVID-19-Pandemie, weitergeht.

Um die aktuelle Streiksituation in Chile zu verstehen, müssen wir bis in die Zeit der Pinochet-Diktatur zurückgehen. Im Jahr 1979 wurde der so genannte „Plan Laboral“ (Arbeitsplan) eingeführt, der die Arbeitsbeziehungen in der Industrie von Grund auf veränderte. Dieses durch die ökonomischen Ideen von Milton Friedman und auch F. A. Hayek inspirierte Maßnahmenpaket verlegte Tarifverhandlungen auf die betriebliche Ebene und sogar noch darunter (beispielsweise in eine Filiale), es förderte die Zersplitterung der Gewerkschaften und damit die Rivalität zwischen den Organisationen. Der Plan Laboral zielte darauf ab, die Arbeiterklasse zu entpolitisieren, indem er das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in eine Zwangsjacke steckte und Gewerkschaftsgründungen, Tarifverhandlungen sowie Streiks stark reglementierte.

Gewerkschaftsarbeit sollte sich fortan nur noch um einzelne Probleme im Betrieb kümmern, nicht aber, wie Oberst Sergio Badiola es während der Diktatur formulierte, „die Probleme Chiles und der Welt lösen“. Schließlich wurden mit diesem Plan auch schwerwiegende Hindernisse für Streiks eingeführt, wie etwa die Möglichkeit, Streikbrecher*innen einzusetzen. Diese Vorschriften, die mit einer der blutigsten Diktaturen Lateinamerikas durchgesetzt wurden, dienten den Interessen des Kapitals und sollten eine Reihe von Errungenschaften, die die Arbeiterklasse in fast 100 Jahren erkämpfen und in Gesetzen verankern konnte, zunichtemachen – was auch weitgehend gelungen ist.

Zusammen mit diesem Gesetzespaket hat die zivil-militärische Diktatur Chiles Werkverträge ausdrücklich anerkannt und das Subunternehmertum auf allen denkbaren Ebenen erlaubt, auch dort, wo es vorher verboten war. In den 1980er-Jahren wurde der Plan Laboral zur Grundlage der neuen Arbeitsgesetzgebung, insbesondere im Hinblick auf das kollektive Arbeitsrecht. In Chile begann eine neue, für das Kapital besonders günstige Ära.

In den ersten Jahren der Rückkehr zur Demokratie erlebte das Land einen starken Wirtschaftsaufschwung, mit BIP-Wachstumsraten von durchschnittlich mehr als sieben Prozent. Chile wurde international gelobt und von der kapitalistischen Presse zum „Jaguar Lateinamerikas“ ernannt, in Anspielung auf das überragende Wirtschaftswachstum der sogenannten asiatischen Tiger in Südostasien. Ohne größere Arbeitskonflikte intensivierte Chile den Prozess der Handelsliberalisierung und Transnationalisierung der Wirtschaft. Die unter der Diktatur begonnene Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und Renten belebte den Kapitalmarkt. Die Asienkrise Ende der 90er-Jahre war nur ein Zwischenhalt auf diesem Wachstumspfad, der später mit dem Boom der Rohstoffpreise wieder aufgenommen wurde. In diesem Kontext kam es zum Wiederaufleben der Streiks, wie der Titel von Aravena und Núñez besagt. Die größte Intensität lässt sich auf den Zeitraum zwischen 2007 und 2009 eingrenzen.

Außerhalb des gesetzlichen Rahmens

Diese Zeit war ein Wendepunkt, an dem neue Strategien gewerkschaftlicher Aktion die Regeln des Plan Laboral sprengten und sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegten. Diesen Schritt konnten diejenigen Arbeiter*innen machen, die über größere strukturelle Machtressourcen verfügten. Das Paradebeispiel sind die Leiharbeiter im Kupferbergbau, die das Hauptunternehmen, die staatliche CODELCO, dazu zwangen, einen Rahmentarifvertrag mit mehreren Leiharbeitsfirmen zu unterzeichnen, was durch die Diktatur und das Establishment mehr als 25 Jahre lang verhindert worden war. Mit den Streiks konnte jedoch kein dauerhafter Sieg errungen werden, der die Grundlagen des Plan Laboral beseitigt oder auch nur ausgehöhlt hätte.

Die Streiks, die 2006/2007 begannen, haben einen Mobilisierungszyklus eröffnet, der 2018 an sein Ende kam. Die Gesetze aus der Diktatur sind in ihrem Kern unverändert und haben weiterhin ein starkes Gewicht. Streiks, die für die Arbeiterklasse zu Siegen führen, sind die sogenannten illegalen Streiks, die meist von Gewerkschaften mit „disruptiver Macht“ durchgeführt werden (beispielsweise in Bergbau und Häfen). Die Streiks der meisten Lohnabhängigen legen dagegen nicht wirklich etwas lahm. An legalen Streiks waren 2003 nur 0,3 Prozent der Lohnabhängigen in der Privatwirtschaft beteiligt. 2009 waren es 0,5 Prozent, 2014 0,8 und 2018 0,3 Prozent. 2019 war mit 0,6 Prozent ein „Frühling“ im Rahmen einer sozialen Revolte, die im Oktober 2019 begann und sich bis zum Beginn der Pandemie im März 2020 hinzog. Darin war die Aktion der organisierten Arbeiterklasse, der landesweite Streik vom 12. November, der entscheidende Meilenstein, der das politische Spektrum in Chile dazu brachte, über strukturelle Veränderungen zu verhandeln. Diese kamen jedoch nicht zustande, zwei Prozesse für eine neue Verfassung scheiterten. Im Jahr 2022 streikten nur noch 0,2 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft, der niedrigste Wert seit 1990. Die Pandemie hatte dabei starken Einfluss.

Keine Veränderung durch die linke Regierung

Die seit 2022 amtierende linke Regierung von Präsident Gabriel Boric hat in ihrem Programm eine Änderung des Systems der Arbeitsbeziehungen sowie eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden vorgesehen. Das Gesetz zur 40-Stunden-Woche verkürzte jedoch nicht nur die Arbeitszeit, sondern erhöhte auch deutlich die Arbeitsflexibilität, was von den regierungsunabhängigen Gewerkschaften stark kritisiert wurde. Die Arbeitgeber begannen, die gesetzliche Reduzierung der Arbeitszeit um eine Stunde auf eine absurde Weise umzusetzen: 12 Minuten weniger pro Tag. Die Arbeiter*innen hatten keine Macht, dem etwas entgegenzusetzen. Hier hätten die Aufsichtsbehörden eingreifen müssen, aber die haben nicht die Kapazität, fast eine Million Unternehmen in Chile zu überwachen. Die Regierung ist es immer noch schuldig, das System der Arbeitsbeziehungen zu ändern und Tarifverhandlungen für ganze Wirtschaftszweige zu ermöglichen. Auch die Diskussion über das Streikrecht steht aus. Ohne echte Streikfähigkeit haben die Unternehmen einen großen Spielraum, ihre Bedingungen ohne Widerstand durchzusetzen.

Ein großer Streik fand 2023 in der Region Atacama statt. Die Lehrer*innen im öffentlichen Dienst legten die Arbeit für Verbesserungen von Infrastruktur und Arbeitsbedingungen nieder. Der Streik dauerte mehr als 80 Tage und sorgte für landesweite Diskussionen. Dabei ging es aber kaum um die Forderungen der Gewerkschaft und die Arbeitsbedingungen. Kritisiert wurden die Auswirkungen, die der Streik auf das Bildungsangebot hatte. Der jüngste Streik der Hafenarbeiter im April 2024, von denen viele nicht dem Arbeitsgesetz unterliegen, verärgert weiterhin die Kapitalistenklasse, die nun versucht, die Protestierenden mit Zivilklagen zu überziehen, weil sie die freie Entfaltung ihrer kommerziellen Aktivitäten behindert hätten.

Die Streiks in Chile sind zersplittert. Arbeiter*innen mit starken Machtressourcen waren nicht in der Lage, diese Macht auf diejenigen zu übertragen, die sie nicht haben. Die Rechnungen des Kapitals gehen weiterhin auf und wenn es mal anders läuft, zeigt der Staat seinen wahren Klassencharakter. Nach den Daten des Labors für Ungleichheit (WID) eignet sich das reichste eine Prozent der Chilen*innen fast 50 Prozent des Reichtums an.

Die Zunahme von Konflikten, ob legal oder illegal, ist jedoch eine Schule für die Arbeiter*innen, die es ihnen ermöglicht, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit klarer zu erkennen. Der Anstieg des gewerkschaftlichen Organisationsgrads zwischen 2006 und 2019, der vor allem von Arbeiterinnen getragen wurde, ist eine Grundlage für eine Organisierung, die mit Strategie und Klassenstandpunkt einen neuen Wendepunkt in Richtung einer Wiedergeburt des Streiks erreichen könnte, der den Arbeiter*innen dieses Mal wirklich größeren Wohlstand bringt.

Gonzalo Durán ist Wirtschaftswissenschaftler. Er arbeitet bei dem gewerkschaftsnahen Forschungszentrum Fundación SOL und an der Universidad de Chile. Übersetzung: Alix Arnold. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ila 476 Juni 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Gonzalo Durán / Informationsstelle Lateinamerika:

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