Psychoanalytikerin über Konflikte: Frieden ist etwas Dynamisches, die Schuld spaltet nur – Schuld und Herrschaft hängen eng miteinander zusammen. Anstatt die Welt in Täter und Opfer aufzuteilen, könnten wir unsere Energie auf etwas anderes richten.

Letzthin habe ich mit einer Bekannten Mittag gegessen. Sie aß jedoch nichts, meinte, sie hätte Magenverstimmung, weil sie gestern Abend zu viel und vor allem das Falsche gegessen hätte. Ich bot ihr an, Wermuttropfen aus der Apotheke von nebenan zu holen, das würde die Beschwerden schnell lindern. Sie meinte dann: „Nein nein, ich bin ja selbst schuld“.

Es mag die Leser überraschen, aber als Psychoanalytikerin würde ich sagen: Diese Episode zeugt von Herrschaft. Im Folgenden werde ich erklären, warum.

Schuld und Schuldgefühle verhindern Bindung. Dies ist meine psychoanalytische Ausgangsthese zu diesem Artikel. Eine Bindung – wie wir sie in der Psychoanalyse verstehen – ist eine, die den anderen Menschen als anders, als different von mir anerkennt. Mit anderen Worten: Das einzig Verbindende zwischen Menschen ist die Anerkennung genau dieser Differenz. Die Anerkennung, dass der andere anders ist als ich, Nicht-Ich ist. Das hat nichts mit Liebe oder Toleranz zu tun, das hat nichts mit Akzeptanz zu tun, vielmehr geht es ganz bescheiden und einfach darum, die Differenz anzuerkennen. Dies ist viel schwieriger, als es den Anschein macht, denn es setzt voraus, dass wir diese Differenz auch aushalten.

Wo wir doch liebend gerne Gemeinschaften suchen und ihnen auch angehören möchten, in denen wir eine Gruppe Gleichgesinnter finden und über diese ‚Gleichgesinntheit‘ Sicherheit und Aufgehobenheit empfinden können. Wo wir gerne die Unterschiede, die Differenz ausblenden, um uns in symbiotischer Einheit gegenseitig wärmen zu können. Solche Gruppierungen, seien es politische, religiöse und auch familiäre haben letztendlich keinen Bestand, gerade weil die Differenz reduziert oder gar ausgeblendet ist.

Unausweichlich mit der Differenz geht eine Reibungsfläche einher. Sie bedeutet Konflikt, Auseinandersetzung und sie bedeutet auch Begehren. Diese Reibungsfläche erzeugt Energie, ist Feuer, ist auch Leidenschaft. Hier, genau hier entsteht Neues, hier ist Kreation, hier ist Welt, hier ist Leben. Hier ist auch Frieden, wenn wir Frieden als etwas Dynamisches verstehen. Diese Dynamik der Auseinandersetzung, der Reibung, die mit Lust einhergeht, diese kann gebrochen werden, unvermittelt gebrochen werden, indem die Schuld in diese Bindungsform eingeführt wird.

Schuld richtet Gefälle ein

Die Schuld bricht den von mir beschriebenen intersubjektiven Diskurs, also der zwischen mindestens zwei Menschen, die sich in ihrer Differenz anerkennen, die sich auf Augenhöhe begegnen. Es entsteht ein Gefälle: Der eine ist schuldig und der andere ist unschuldig. Die eine ist Täterin und die andere ist ihr Opfer. Und ein Opfer hat immer recht und ein Opfer ist immer unschuldig.

Um das zu verstehen, möchte ich folgende Begrifflichkeit klären: Ich unterscheide zwischen Opfer und Betroffene. Ein Betroffener ist schuldlos betroffen von realer Gewalt, sei sie physisch oder psychisch. Das Opfer nicht. Als Opfer bezeichne ich diejenigen, welche eine Opferposition einnehmen, um Druck auf andere auszuüben, um Macht zu haben über andere, um die anderen kontrollieren zu können. Die Opferposition ist eine mächtige, das wissen wir alle, wir alle können sie jederzeit einnehmen, das geht ganz leicht, diesen Mechanismus zu bedienen. Die Opferposition hat die Macht, den anderen als Täter zu benennen. In dem Sinn ist sie immer gewalttätig.

Ein Beispiel dazu: Wenn ich als Elternteil die Kinder schelte, sie würden mir Kopfweh machen mit ihrem Geschrei, dann bezeichne ich mich als Opfer der Ausgelassenheit dieser Kinder. Diese werden Schuldgefühle bekommen, sie werden ihre Energie zurücknehmen, domestizieren, allein um mich nicht leiden zu machen, allein, um nicht schuldig zu werden an mir. Das hemmt die Lebensenergie, die Lebenslust. Fortan wird die Lebendigkeit dieses ehemaligen Kindes mit Schuld kontaminiert sein, das Gefühl mit der eigenen Spontanität oder Ausgelassenheit jemandem anderen zu schaden wird sich fest einnisten in unser Tun und Handeln.

Schuld bedeutet also Spaltung. Spaltung in schuldig und unschuldig; Spaltung in richtig und falsch, in wahr und unwahr, in gut und böse. Auf dieser Grundlage werden Kriege geführt, auf dieser Grundlage werden Kriege legitimiert. Wir können die Schuld zuordnen und damit ist auch die Unschuld zugeordnet. Schuld hebt die Anerkennung der Differenz auf und führt einen Herrschaftsdiskurs ein. Wer die Deutungshoheit über die Schuld hat, der hat Macht.

Das Verhältnis von Schuld und Angst

Gibt es eine Schuld, welche einen Sinn ergibt, außer dass sie Macht konstituiert? Ich glaube, nein. Schuld zerstört die Beziehung zur Welt, zum anderen Menschen und zu sich selber.

Schuld bricht Bindung, bricht Beziehung und in der Folge vereinsamen wir. Und wenn die Schuld die Bindung zum anderen bricht, ist auch die Bindung zu uns selbst gebrochen und damit auch unsere Bindung zur Welt. Dies ist die Ausgangsposition der Angst. Die Angst ist nichts anderes als ein Getrenntsein von sich und der Welt. In der Angst haben wir keinen Zugriff mehr auf diese, wir sind abgeschnitten. Aus der Perspektive der Angst ist das Außen immer bedrohlich.

In diesem Zustand sind wir anfällig für Manipulation und Unterwerfung – alleine, um nicht mehr allein zu sein, allein, um wieder dazuzugehören. Diese Dynamik der Ungleichheit verinnerlichen wir im Laufe der Zeit und entwickeln ein gespaltenes Selbstverhältnis, das von Über- und Unterordnung geprägt ist: Damit bauen wir unumgänglich ein sado-masochistisches Verhältnis zu uns selber auf.

Und an dieser Stelle kommt meine Bekannte mit er ich Mittag gegessen habe wieder ins Spiel, die trotz Magenverstimmung die Wermuttropfen ablehnte mit der Begründung: „Nein, nein, ich bin ja selbst schuld“.

Sie bestraft sich selbst für etwas, was sie als Schuld bezeichnet. Eine sadomasochistische Dynamik. Welche richtende Instanz setzt hier die Schuld? Und damit die Strafe? Liebevoller wäre gewesen, sie hätte die Tropfen geschluckt, die Besserung genossen und den Tag damit auch. Auf ihre Weise hat sie vermutlich die Strafe genossen, die sie der Schuld entledigte. Schuld kann abgebaut werden, indem wir die Strafe auf uns nehmen, wie absurd diese Schuld auch sein mag.

An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie die Bindung, die wir zu uns selbst haben, bereits eine verinnerlichte, eine herrschaftliche ist, wie sie unser Selbstbild prägt: Meine Bekannte ist gleichzeitig Herr und Knecht, sie hat die Macht, sich schuldig zu sprechen, sich zu bestrafen und ist Bestrafte zugleich.

Diese Dynamik lässt sich nicht nur innerpsychisch beobachten, sondern auch gesellschaftlich. Verfahren wir nicht mit den anderen und der Welt, als seien sie unsere Objekte? Objekte, über die wir urteilen, richten, die wir gar verwalten dürfen? Die Objektivierung der Welt prägt auch die Medizin, die Naturwissenschaft und die technologischen Entwicklungen.

Wir ordnen diese Dynamiken nicht mehr als Gewalt ein, weil wir uns zusehends daran gewöhnt und sie damit legitimiert haben. Viele Wissenschaften verkennen, dass die Bindung des Menschen zu sich und zu anderen das zentrale Moment ist für Gemeinschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Was tun?

Ich gehe davon aus, dass wir den Schuld-, bzw. Opfer-Täterdiskurs überwinden können. Die sadomasochistische Perversion, in der die Strafe für eine (noch so abwegige) Schuld, Lust hervorrufen kann, ist keine Naturnotwendigkeit, sondern ein Ausweichmanöver der gebremsten und abgewürgten Lebensenergie. Die Perversion versucht diese Energie, diese Lust zu retten, ihr einen Platz zu sichern, sie hintenherum zu würdigen. Das zeigt auch: Die Lust ist schwerlich zu domestizieren. Diese Erfahrung machen wir alle, nicht nur im sexuellen Kontext, sondern auch in unseren alltäglichen Beziehungen.

Wir könnten jedoch – jeder und jede Einzelne – dafür sorgen, dass unsere Lebensenergie sich keine sadomasochistischen Wege suchen muss. Wir könnten, statt einander als Opfer und Täter zu begegnen uns wechselseitig in unserer Differenz anerkennen – und uns an ihr reiben.

Jeannette Fischer ist Psychoanalytikerin und Buchautorin. Sie lebt in Zürich und beschäftigt sich intensiv mit den Fragen der Gewalt, Macht und Ohnmacht. Ihre Arbeit verbindet sie oft mit interdisziplinären Auseinandersetzungen. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Jeannette Fischer / Berliner Zeitung:

Dieses ist ein Beitrag aus der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) und darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.