Juan Carlos Montenegro Bravo wurde 2017 Geschäfts­führer des staatlichen Lithium­unternehmens Yacimientos de Litio Bolivianos, damals, als Evo Morales noch Präsident Boliviens war. Am 24. April 2024 fand man seinen leblosen Körper. Als dazu ein Abschiedsbrief auftauchte, war schnell klar, dass er sich das Leben genommen hatte: „Ich lasse mich nicht demütigen von einer abgekarteten Justiz, die sich an die politische Macht verkauft.“ Der Hintergrund: Kurz zuvor hatte die aktuelle Regierung von Luis Arce den ehemaligen Bergbauminister Alberto Echazú festgenommen und gegen zehn weitere Personen Vorwürfe erhoben, auch gegen Montenegro Bravo. Sie sollen ihren Pflichten nicht nachgekommen sein und dem Staat so einen Schaden von umgerechnet rund 57,5 Millionen Euro verursacht haben. Denn trotz der Investitionen in den Lithiumsektor wurde bisher kein einziges Gramm des international begehrten Rohstoffs exportiert, ganz anders als etwa in Chile. Der Gegenvorwurf von Ex-Präsident Evo Morales kam prompt: Der aktuelle Präsident Arce versuche durch dieses Schauspiel von Festnahmen lediglich, die eigenen Verfehlungen im Lithiumsektor zu vertuschen. Wer hat nun Recht? Sicher ist nur, dass das Projekt „nationale Industrialisierung durch Lithium“ bisher nach einem gescheiterten Versuch aussieht.

Dieser Krimi ist eine winzige Episode von vielen dramatischen Folgen der gegenwärtigen Energie­wendepolitiken. Dabei haben wir noch gar nicht über die standardmäßigen Verdrän­gungen, Vertreibungen, Übervorteilungen und Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Windparks oder Wasserkraftwerken gesprochen. Wir brauchen natürlich schleunigst eine Energiewende, und das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas sollten wir in die Müllverbrennungsanlage der Geschichte werfen. Dass das gegenwärtige System vor dem Kollaps steht, muss man mittlerweile nicht einmal mehr der CDU erklären. Aber das heißt noch lange nicht, dass nachhaltige Antworten auf die Krise gefunden werden. Vielmehr heißt die gängige Strategie heute: Klima schützen durch grünes Wachstum. Industrie, Produktion und Mobilität sollen so umgebaut werden, dass sie keine klimaschädlichen Emissionen verursachen. Überspitzt gesagt heißt das, auf den deutschen Autobahnen sollen nicht weniger Autos fahren, sondern mehr, denn die Wirtschaft soll ja wachsen – aber bitte mit E-Antrieb.

Dafür wird es in Zukunft große Mengen Rohstoffe brauchen: Lithium, Nickel, Kobalt, Kupfer, Seltene Erden, und grünen Wasserstoff für eine emissionsfreie Industrieproduktion. Für ein Weiter so in grün gibt es aber weder in Deutschland noch in der EU genügend dieser Rohstoffe. Auch grüner Wasserstoff lässt sich nicht in ausreichender Menge herstellen, denn anders als etwa Lithium kann man Wasserstoff nicht einfach abbauen, sondern muss ihn aus Wasser herstellen. Das heißt, um diesen Energieträger zu erhalten, muss erst eine Menge Energie hineingesteckt werden. Damit sich das grün nennen kann, muss diese aus erneuerbaren Quellen kommen, und so viel Wind, Sonne und Wasser gibt es vor allem an den Küsten Afrikas und Lateinamerikas. Deswegen spielt in vielen der sogenannten Energiepartnerschaften, die Deutschland mit 32 Staaten unterhält, Wasserstoff eine zentrale Rolle. Einige lateinamerikanische Staaten bringen derweil ihre eigenen Energiewendeprogramme auf den Weg, die sich häufig an der Nachfrage der „Partner“ im Norden orientieren und auf Rohstoffexport setzen.

Aber es macht dennoch einen Unterschied, ob ein Land auf neoliberalen Ausverkauf oder auf nationale Industrialisierung setzt

Als die Idee zu dieser Ausgabe entstand, diskutierten wir, ob sie „Energieimperialismus“, „Energiekolonialismus“ oder „Grüner Kolonialismus“ heißen sollte. Interessiert uns eine ökonomische Betrachtungsweise, die den Fokus auf den imperialen Konsum der Zentren legt, oder die geschlechts- und klassenspezifischen sowie rassistischen Folgen von kolonialen Energiepraktiken? Je mehr wir uns mit konkreten Fällen beschäftigten, desto klarer wurde uns, dass diese Schlagworte politische Relevanz, aber nicht unbedingt große Analysekraft haben, denn die politischen Programme zur Energiewende sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Viele Strukturen wiederholen sich – ungleiche Profite, Vertreibung verarmter und/oder indigener Menschen – aber es macht dennoch einen Unterschied, ob ein Land auf neoliberalen Ausverkauf oder auf nationale Industrialisierung setzt, obwohl die Bedingungen für letztere in einer globalen ungleichen Welt mehr als prekär sind.

Wir haben uns entschieden, in der Ausgabe einen Fokus auf Lithium und Wasserstoff zu setzen, um genau diese regionalen Unterschiede diskutieren zu können. Viele andere Beispiele fanden des­wegen keinen Platz in der Ausgabe, und die globale Energiewende bleibt auch für uns ein 10 000-Teile-Puzzle, von dem wir gerade einmal die ersten 500 kennen.

Ein paar dieser Puzzleteile gefallen uns besonders gut: Es sind die vielen Beispiele für eine emanzipatorische (Energie-)Wende, von großen Utopien der sozialökologischen Transformation über politische Maßnahmen, die den Konsum von Energie nachhaltig und schnell senken, bis zu dezentraler Energieversorgung und gemeinschaftlicher Aneignung von Energietechnologien.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme des redaktionellen Editorials von ila 475 Mai 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einzelne weitere Beiträge folgen in den nächsten Tagen.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.