Verschiebungen im globalen Machtgefüge: Welche Rolle spielt Lateinamerika?

Europa, China und die USA strecken ihre Fühler und ihre Baggerschaufeln nach Lateinamerika aus, dieses Mal nicht auf der Suche nach Gold, auch nicht nach Kohle oder Gas. Es geht um Wind, Sonne, Wasser, Kupfer und Lithium – um Energie und dafür benötigte strategische Rohstoffe. Ein neues globales Wettrennen hat begonnen. Aber: Bleibt alles beim Alten, also Ausbeutung im Globalen Süden, Profite im Globalen Norden? Was dafür spricht und was dagegen.

Die Klimakrise spitzt sich zu und nationale Regierungen weltweit reagieren mit der Strategie der Dekarbonisierung. Damit ist ein technologiebasierter Umbau fossiler Energie-, Produktions- und Antriebssysteme gemeint. Das Ziel der Dekarbonisierung ist es, Klimaneutralität zu erreichen. Vor allem in CO2-intensiven Sektoren wie Energie, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft sollen dafür die Emissionen auf Netto-Null reduziert werden. Die Ampelregierung zielt auf eine Klimaneutralität in Deutschland bis zum Jahr 2045. Die USA und die Europäische Kommission wollen bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden, Chinas Führung will dieses Ziel bis 2060 erreichen. Für die Zielerreichung haben alle genannten Staaten und Staatenbünde Programme zur Förderung grüner Technologien und zum ökologischen Umbau ihrer Industrien verabschiedet. Mit diesen Programmen soll nicht nur Klimaneutralität erreicht werden. Es geht auch um Wettbewerbsvorteile im Wettrennen um Rohstoffe und Marktführerschaft bei grünen und erneuerbaren Technologien. Um sich Zugang zu Rohstoffen, billiger Arbeit und den wachsenden Märkten für grüne Technologien (wie Batterien, Elektroautos, Windkraft, Photovoltaik und grünen Wasserstoff) zu sichern, setzen die USA, China, die EU und andere Staaten vermehrt auf geopolitische Strategien. Wie sich dieses Wettrennen gestaltet und inwiefern sich hierbei bestehende globale Ungleichheiten und Machtasymmetrien reproduzieren, verändern oder sich neue herausbilden, ist noch offen. Es hängt auch davon ab, welche Kämpfe sich um die Energiewende in den Ländern des Globalen Nordens und Südens herausbilden.

Rohstoffe von Freunden

Die während der Coronapandemie erlebte Störung von Lieferketten hat in Europa und den USA zu einem geopolitischen Umdenken geführt. Mit Strategien wie re-shoring oder friend-shoring sollen Lieferketten verkürzt und in „befreundete“ oder vertrauenswürdige Länder verlagert werden. Diese geopolitische Neuordnung ist auch eine Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig ist sie ein zentrales Kennzeichen der Energiewende. Angetrieben wird diese Neuordnung durch den geopolitischen Wettbewerb zwischen den USA und China. In diesem Wettbewerb bemühen sich die europäischen Staaten, nicht zu den Verlierern einer grünen, klimaneutralen Wirtschaft zu werden und sich zugleich den Zugang zu strategischen Rohstoffen für die Energiewende zu sichern. So hat die EU-Kommission mit dem im März 2024 vom Europäischen Rat verabschiedeten Gesetz über kritische Rohstoffe (Critical Raw Materials Act) einen Rahmen geschaffen, um den Zugang zu kritischen Rohstoffen zu garantieren. Eine weitere Strategie der Zugangssicherung sind bilaterale „Partnerschaftsabkommen“. In den letzten Jahren hat etwa die deutsche Bundesregierung eine Reihe solcher Partnerschaften in den Bereichen Energie, Klima und Wasserstoff mit afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten geschlossen.

Wettlauf um die lateinamerikanischen Märkte

In der geopolitischen Neuordnung spielt Lateinamerika aus zwei Gründen eine zentrale Rolle: Erstens werden Klimaneutralitätsziele nicht nur in den westlichen Industrieländern oder in China formuliert. Auch lateinamerikanische Regierungen wie Kolumbien, Chile oder Brasilien verfolgen eine Dekarbonisierung bis zum Jahr 2050. Um dies zu erreichen, sind ausländische Direktinvestitionen und Technologieimporte in enormem Umfang erforderlich. So wird die Region im Kontext der Energiewende zu einem riesigen Absatzmarkt für grüne Technologien aus dem Norden. Zweitens verfügt Lateinamerika über einen hohen Anteil der weltweiten Vorkommen strategischer Rohstoffe für die Energiewende. Fast 60 Prozent des weltweit förderbaren Lithiums befindet sich in der Grenzregion zwischen Chile, Argentinien und Bolivien (dem sogenannten Lithiumdreieck). Lithium ist ein Rohstoff, der für den Ausbau der Elektromobilität entscheidend ist.

Um die grünen Technologiemärkte wird bereits heute gestritten, oft unter chinesischer Führerschaft und zum Leidwesen der USA. Hohe chinesische Investitionen zeigen sich in den Bereichen Elektromobilität, Photovoltaik, Wind und dem Ausbau der Energienetze. In vielen Hauptstädten der Region, etwa in Santiago de Chile, Montevideo (Uruguay) oder Bogotá (Kolumbien), bestimmen E-Busse aus China den öffentlichen Nahverkehr. Über 70 Prozent aller 2023 importierten E-Autos in der Region kommen aus China, das Gleiche gilt für über 90 Prozent der Lithium-Ionen-Batterien sowie 99 Prozent der importierten Solarpaneele und über 60 Prozent der Windturbinen. In Chile hat das chinesische Staatsunternehmen State Grid zwei der größten Energieversorger des Landes übernommen und bedient damit über 50 Prozent des nationalen Strommarktes, und in Lima (Peru) wird der Strom zukünftig komplett von chinesischen Unternehmen zur Verfügung gestellt.

Hier zeigt sich eine Verschiebung um den Gegenstand des geopolitischen Wettbewerbs. Stand im Zentrum geopolitischer Strategien im fossilistischen Zeitalter vor allem die Sicherung des Zugangs zu Öl, Gas und Kohle, den fossilen Schmierstoffen des kapitalistischen Wachstums, so geht es in der Geopolitik der erneuerbaren Energiewende zunehmend um die Kontrolle der grünen Technologien und Märkte.

Grüner Extraktivismus

Dennoch spielen Rohstoffe weiterhin eine zentrale Rolle. Denn es geht bei den geopolitischen Strategien auch darum, sich den Zugang zu den Ressourcen zu sichern, die für die Dekarbonisierung unerlässlich sind. Hierzu zählen Lithium sowie Kupfer, Kobalt oder Nickel.

In aktuellen Konflikten um die Ausbeutung von Lithium, Kupfer oder Nickel zeigen sich Kontinuitäten zu dem als Extraktivismus bezeichneten rohstoffexportierenden Entwicklungsmodell der letzten Jahrzehnte. Nicht ohne Grund bezeichnen Kritiker*innen die Ausbeutung von Rohstoffen für die grüntechnologische Energiewende als „grünen Extraktivismus“. Grün steht dabei nicht für eine umweltschonende und sozial gerechte Nutzung von Natur, sondern für den Umbau von Wirtschaft, Energie und Verkehr im Rahmen einer kapitalintensiven und technologiegetriebenen Energiewende. Rohstoffausbeutung wird im grünen Extraktivismus Mittel zum Zweck, weshalb es so scheint, als sei sie mit Zielen nachhaltiger Entwicklung vereinbar und für den Weg in eine kohlenstoffarme Zukunft sogar unumgänglich. Dabei führt der grüne Extraktivismus globale Ungleichheit und Ausbeutung fort, argumentieren Kritiker*innen.

Der grüne Extraktivismus unterscheidet sich in zwei Punkten vom alten Extraktivismus. Da sind einerseits die Diskurse zur Legitimierung. Weil sie grünen Zielen diene, bezeichnen staatliche, internationale und privatwirtschaftliche Akteure, aber auch nichtstaatliche Umweltschutzverbände, diese Form der Naturausbeutung als klimafreundlich, entwicklungsfördernd, nachhaltig, fortschrittlich und ökologisch-modern. Zum anderen kommt den Regierungen der Extraktionsländer im grünen Extraktivismus eine sehr viel aktivere Rolle zu. Sie treiben die Ausbeutung kritischer Rohstoffe und die Ausweitung erneuerbarer Energien auch mit dem Ziel der Energiewende vor Ort voran. Es ist der Versuch, sich im Zuge der Dekarbonisierung mittels grüner Industrialisierung und Dezentralisierung der Energieproduktion aus der Abhängigkeit vom globalen Norden zu befreien.

Grüner Wasserstoff

Lateinamerika ist nicht nur reich an Mineralien und Metallen. Ähnlich wie die Küsten Afrikas verfügt die Region über enorme Potenziale an Wind- und Sonnenkraft, ideal für den Aufbau einer grünen Wasserstoffindustrie. Und hierfür interessieren sich vor allem die EU und Deutschland. Die EU plant bis 2030 20 Millionen Tonnen Wasserstoff zu nutzen, 50 Prozent sollen vor allem aus dem globalen Süden importiert werden. Deutschland rechnet mit einem noch höheren Importanteil von 50 bis 70 Prozent, um seinen Wasserstoffbedarf bis 2030 zu decken. Wichtige „Freunde“ beziehungsweise Partner in Lateinamerika zum Aufbau stabiler Lieferketten sind aktuell Brasilien, Chile, Argentinien und Kolumbien. Mit allen Ländern hat die Bundesregierung Partnerschaften verabschiedet oder bereitet diese vor; in allen Ländern unterstützt die GIZ den Aufbau von Institutionen zur Etablierung einer Wasserstoffgovernance; in allen Ländern investieren deutsche Unternehmen in Pilotvorhaben. Gegner*innen kritisieren die grünen Wasserstoffimporte aus dem globalen Süden als eine Form des „grünen“ oder „Energiekolonialismus“. Denn während sich Deutschland und deutsche Unternehmen Land und Wasser sowie Wind- und Solarenergiepotenziale im globalen Süden aneignen und diese kontrollieren, etwa um die deutsche Stahlindustrie zu dekarbonisieren, werden die sozialen und ökologischen Kosten auf Ökosysteme, Regionen und Bevölkerungen im globalen Süden ausgelagert. Der größte Teil der Gewinne bleibt jedoch im Norden. Welche Bedeutung grüner Wasserstoff im Kontext der geopolitischen Dynamiken der Energiewende hat, ist offen, denn dies hängt auch von den lokalen Kämpfen und nationalen Politiken ab. So sehen viele Akteure in Lateinamerika, unter anderem die kolumbianische Regierung unter Gustavo Petro, in grünem Wasserstoff die Chance für eine grüne Industrialisierung, neue Exportmöglichkeiten mit höherer Wertschöpfung im Land, neue Arbeitsplätze und eine Erhöhung der nationalen Energiesicherheit. All dies könnte sozioökonomische Entwicklungs- und Industrialisierungseffekte haben und die globalen, kolonial geprägten Beziehungen verändern.

Proteste gegen die grünen Projekte

Für eine grüntechnologische Energiewende werden derzeit die Weichen gestellt. Die Regeln formulieren vor allem Vertreter*innen des privaten Kapitals, internationale Finanzinstitutionen, Regierungen der EU, USA und Chinas sowie einiger weiterer Länder Asiens (Japan, Korea, Indien). Das ist nicht verwunderlich, verfügen diese Akteure doch über das Kapital, das für den Aufbau der grünen Produktionsinfrastruktur und Rohstoffausbeutung benötigt wird. Viel deutet darauf hin, dass die grüntechnologische Energiewende und die damit verbundene geopolitische Neuordnung an den Nord-Süd-Machtverhältnissen wenig verändern werden. Vielmehr zeichnet sich ab, dass die imperiale Lebens- und Produktionsweise des fossilistischen Zeitalters fortgesetzt wird, diesmal unter grünen Vorzeichen und einer neuen Vormachtstellung Chinas in vielen Bereichen. Aber ob das am Ende so ist, hängt auch von den Kämpfen um die Energiewende ab. Denn vielerorts wird die grüntechnologische Krisenbearbeitung von emanzipatorischen Kräften politisiert. In Argentinien protestieren indigene Bewegungen gegen den Lithiumbergbau im Norden des Landes, in Kolumbien kommt es vermehrt zu Protesten gegen Megawindparks, die erneuerbaren Strom, unter anderem für die Produktion von grünem Wasserstoff, liefern sollen. Diese Politisierung kann die Richtung der Energiewende ebenso verändern wie die globalen Abhängigkeitsverhältnisse.

Kristina Dietz ist Professorin für Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Lateinamerika an der Universität Kassel.

(1) Netto-Null bedeutet nicht, dass kein CO2 mehr emittiert wird, sondern das CO2 an anderer Stelle entweder ausgeglichen oder der Atmosphäre entzogen wird. Für eine Kritik siehe den Text „Whose negative emissions“ von Alina Brad, Tobias Haas & Etienne Schneider (2024).

Das ABC der Energiewende

Dekarbonisierung: Reduzierung oder Beseitigung von Kohlenstoffdioxid (CO2)-Emissionen bei der Energieerzeugung und -nutzung. Derzeit dominante Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels (im Gegensatz zu einem Systemwandel).

Energiepartnerschaft: Das deutsche Wirtschaftsministerium unterhält 32 dieser strategischen Vereinbarungen mit anderen Ländern, mit dem Ziel, „Klimaneutralität bis 2045 möglich zu machen“.

Extraktivismus: politisches und wirtschaftliches System, das auf dem Abbau und der Vermarktung natürlicher Ressourcen in großem Umfang beruht, oft unter Ausbeutung der Umwelt und lokaler Gemeinschaften.

kritische Rohstoffe: Materialien, die für die Wirtschaft und Industrie von entscheidender Bedeutung, jedoch mit hohen Versorgungsrisiken verbunden sind, wie Seltene Erden, Lithium oder Kobalt.

Lithium: chemisches Element, das in der Industrie für die Herstellung von Batterien verwendet wird. Seine Nachfrage ist aufgrund seines Einsatzes in Elektrofahrzeugen stark gestiegen. Die größten Vorkommen liegen in Argentinien, Bolivien und Chile.

Reserven: Rohstoffe, die gewonnen werden können (zum Beispiel ein Großteil der Lithiumvorkommen in der Atacama-Salzwüste in Chile)

Ressourcen: Rohstoffe, die prinzipiell vorhanden sind, aber nicht unbedingt gewonnen werden können (etwa, weil es noch keine Technologie dafür gibt, zum Beispiel ein Großteil der Lithiumvorkommen in Mexiko)

Rohstoffe: geförderte Reserven, die zur Energiegewinnung oder Produktion genutzt werden können (zum Beispiel Öl, abgebaute Kohle, extrahiertes Lithium)

Wasserstoff: chemisches Element, das künftig als Brennstoff insbesondere in der Industrie genutzt werden soll, da bei seiner Verbrennung nur Wasser als Abfallprodukt entsteht (kein CO2). Wasserstoff muss aber energieintensiv hergestellt werden. Geschieht dies mit erneuerbaren Energien (Wind- & Solarenergie), spricht man von grünem Wasserstoff.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 475 Mai 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Kristina Dietz / Informationsstelle Lateinamerika:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.