Über den D-Day, das Gänsestopfen und die richtige Wahl – USA, EU, Ukraine, Russland – Wir haben immer noch die Wahl

Medizinische Definition eines Psychopathen: „Eine Person mit einer egozentrischen und antisozialen Persönlichkeit, die durch einen Mangel an Reue für ihre Handlungen, fehlendes Einfühlungsvermögen für andere und oft kriminelle Tendenzen gekennzeichnet ist.“ Bei der aktuellen Diskussion zur „Erlaubnis“ für die Ukraine, mit westlichen Waffen Ziele tief in Russland zu treffen, fällt auf, dass anscheinend völlig vergessen ist, dass es bis 2022 in der EU ein Tabu gab: Waffen werden nicht in Krisengebiete geliefert. Weil das Konflikte befeuert.

Das Tabu ist gefallen, von oben nach unten verkündet. Den von schrecklichen Kriegsbildern und der russischen Aggression geschockten Bürgerinnen und Bürgern wurde die „Zeitenwende“ ins Hirn gestopft, so wie man das beim Gänsestopfen macht: Schlucken, schlucken, schlucken.

In den allermeisten EU- Ländern ist das Gänsestopfen aufgrund der extremen Tierquälerei verboten. Nicht verboten ist es, Menschen propagandistisch so das Hirn zu vernebeln, dass sie es gar nicht mehr merken, sich für „informiert“ halten, glauben, eigenständig zu einer Meinung gelangt zu sein, oder sich gar nicht vorstellen können, wie simpel und gleichzeitig wie bösartig „Gehirnwäsche“ funktioniert: Keine Gemeinheit ist zu gemein, keine Lüge zu groß, um nicht benutzt zu werden, wenn Feindschaft, Krieg und Völkerhass das Wort geredet werden.

Am 24. Februar 2022 fand unzweifelhaft eine völkerechtwidrige Aggression Russlands gegenüber der ukrainischen Zentralgewalt statt, an der sich die bewaffneten Truppen von Donezk und Luhansk beteiligten. Damit verwandelte sich der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg in der Ukraine, den Kiew startete (sogenannte Antiterror-Operation) und den die ukrainische Regierung in Kiew nicht im Rahmen des geltenden Minsk-II-Abkommens lösen wollte, endgültig in einen schweren internationalen Konflikt.

Alle Fakten, alle geschichtlichen Zusammenhänge und Ursachen wurden propagandistisch ausgelöscht mit der Behauptung, die Entscheidung Moskaus zum kriegerischen Mittel zu greifen, sei „unprovoziert“. Jetzt käme die wahre Natur Russlands zum Vorschein: es ist imperial, sehnt sich neuen Territorien, kann mit Demokratien in der Nachbarschaft nicht leben und will alles Ukrainische ausrotten, und es sei die heilige Pflicht der „freien Welt“, nunmehr dafür zu sorgen, dass sich Aggression nicht auszahlt. Sonst macht das Beispiel weltweit Schule, und wer weiß, dann gibt es bald in Europa eine neue große Sowjetunion, die bis an den Atlantik reicht, vom Kreml mit diktatorischer Fuchtel regiert. Dann sitzen wir alle in einem großen Gulag.

Damit wir alle hassen

Das sollen wir verinnerlichen und inbrünstig glauben. Im Magen soll sich der Angstknoten immer mehr anspannen, damit wir alle hassen, die uns das antun, also die Russen und ihren psychopathischen Chef im Kreml, diesen neuen Hitler, diesen Teufel in Menschengestalt, diese Inkarnation des Bösen schlechthin. Das ist schon vor Kriegsbeginn im Westen hochgezüchtet worden. Man soll nichts mit den schlimmsten Hassverbrechen der Vergangenheit vergleichen, aber mich erinnert die gezielte Dämonisierung Russland, die täglich immer neue Tiefen erreicht, inzwischen eben doch daran. Die Saat des Völkerhasses ist aufgegangen, und sie wächst prächtig hoch. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Zusammenleben in unserem Land.

Bitte lesen Sie die Rede des US-Präsidenten Biden, die er anlässlich der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des D-Day, der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie hielt, wie er diesen damaligen Kampf gegen den Hitlerfaschismus portraitiert. Sie ist nahezu perfekt durchkomponiert, jedes Wort sorgfältig gewählt. Sie soll das Bild erzeugen, dass damals wie heute die USA an der Spitze einer Koalition der „freien Welt“ stehen, die gegen das unsäglich Böse aufsteht, dafür Opfer bringt und siegt. Die Intention wird mit dem zweiten Satz bereits offensichtlich: „Nazi-Deutschland hatte die einst freien Nationen Europas mit roher Gewalt, Lügen und einer verdrehten Ideologie der rassischen Überlegenheit unterjocht.”

Ausgeklammert wird die Sowjetunion, denn die war damals kein „freies Land“, aber Teil der Anti-Hitlerkoalition. Unter den Tisch fällt ebenfalls, dass der Krieg gegen die Sowjetunion aus ideologisch-rassischen Motiven ein Vernichtungskrieg war. Deshalb galt im sogenannten „Unternehmen Barbarossa“ durch Befehl Nr. 21 noch nicht einmal das Kriegsrecht. Nicht umsonst sprach die Nazi-Propaganda von der „jüdisch-bolschewistischen Verschwörung“.

An dieser Stelle relativiert Biden die selbst festgestellten rassischen Überlegenheitsphantasien der Nazi-Ideologie: „Hitler und seine Mitstreiter waren der Meinung, dass die Demokratien schwach seien und die Zukunft den Diktatoren gehöre.“ Das Lied „Es zittern die morschen Knochen“ hat zwei Versionen. In einer ist die nazistische Orientierung enthalten und sie wurde dominant und zur Katastrophe für Deutschland und die Welt: „…und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt…“

Der Blutzoll war sehr hoch

Was sagte der US-Präsident zum D-Day noch? „Im Morgengrauen würden die Alliierten zuschlagen. Der ,,Große Kreuzzug´ zur Befreiung Europas von der Tyrannei würde beginnen.“ Eine Allianz in heiliger Mission also, zur Befreiung Europas. Aber war da nicht noch ein Alliierter mehr?

Zudem: 1944 war die Kriegswende längst erreicht, jedenfalls im Osten Europas. Dort kämpfte die Sowjetunion. Dort gab es die „schlimmste Schlacht im Zweiten Weltkrieg“ (Spiegel), die Schlacht um Stalingrad. Ihr folgte die Schlacht von Kursk, die „größte Schlacht des Zweiten Weltkrieges“. So wie der US-Präsident es vorerzählt, erzählte es dann auch die Neue Züricher Zeitung nach. Stern und Spiegel dagegen sprachen historisch korrekt von der Befreiung Westeuropas, wobei der Stern auch die hohen Verlustzahlen der Operation „Overlord“ vorlegte, sowohl an militärischen als auch an zivilen Opfern. Der Blutzoll war sehr hoch.

In der Normandie 2024 präsentierte sich US-Präsident Biden als Anführer der geschichtlichen Sieger: „Noch 11 Monate dauerte es, bis der Krieg in Europa zu Ende war. Aber hier (Anm.: gemeint ist die Normandie) wendete sich das Blatt zu unseren Gunsten. Hier haben wir bewiesen, dass die Kräfte der Freiheit stärker sind als die Kräfte der Eroberung. Hier haben wir bewiesen, dass die Ideale unserer Demokratie stärker sind als jede Armee oder Kombination von Armeen in der ganzen Welt. Wir haben hier auch etwas anderes bewiesen: die unzerbrechliche Einheit der Alliierten.“ Wir haben gewonnen, erklärte Biden.

Der „emotionalste“ Augenblick dieses Tages (Spiegel) sei die Begegnung zwischen dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und einem 99-jährigen Kriegsveteranen gewesen. Dieser bezeichnete den ukrainischen Präsidenten als „Retter des Volkes“, als seinen Helden. Nein, nein, erwiderte Selenskyj, Sie sind der Held, retteten Europa … In diesem Moment war alles vergessen, die Anti-Hitler-Koalition, das historische Treffen der Alliierten an der Elbe, nahe Torgau. Das Denkmal für diese Begegnung wurde von einem Kiewer Architekten entworfen und noch im Jahr 1945 aufgestellt.

Es gab einen Helden beim erwähnten „emotionalsten“ Augenblick. Der saß im Rollstuhl, ergriffen von der Erinnerung und der Größe des Augenblicks, hingerissen von der Rede seines Präsidenten. Der zweite sprach nach derm Bidenschen Drehbuch, obwohl sein Großvater in der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte.

2020 feierte die Ukraine noch den 9. Mai als Siegestag über den Faschismus. Damals betonte Selenkyj, dass auch 7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer für „unseren Sieg als Teil der Anti-Hitler-Koalition“ kämpften, der nicht „privatisiert“ werden dürfe. Aber in der damaligen Rede schien auch andeutungsweise auf, wie die neue Ukraine ihre Geschichte sieht: Erst von den Nazis überfallen und anschließend von Russland okkupiert. 2022 hat Selenskyj einem solchen Geschichtsbild nicht mehr widersprochen.

2023 verfügte er, dass in der Ukraine der 8. Mai als Tag des Sieges (seit 2015 in leichter sprachlicher Unterscheidung zum russischen Begriff) und der 9. Mai als „Europa-Tag“ gefeiert werde, so wie ihn die EU feiert. Er erklärte aus diesem Anlass unter anderem: “Wir werden nie vergessen, welchen Beitrag das ukrainische Volk zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet hat. Und wir werden keine Lügen zulassen, als ob der Sieg in diesem Krieg ohne die Beteiligung eines Landes oder einer Nation möglich gewesen wäre.“

“Ukraine zum Zentrum Europas geworden”

2024, in der Normandie, war auch das vergessen, bzw. durch die Einladung des ukrainischen Präsidenten auf die Ukraine reduziert. Auf einer Website für Besucher der Ukraine steht zur Entscheidung, den Europa-Tag in der Ukraine zu feiern, eingangs das Folgende: “Die Ukraine ist nicht nur geografisch zum Zentrum Europas geworden, sondern hat auch die EU-Mitgliedstaaten durch gemeinsame Werte vereint: Freiheit, Demokratie und Würde.“ Nur ein strammer Nationalist, ins europäische Sternenbanner gehüllt, kann so etwas aufgeschrieben haben.

Was mich brennend interessiert, ist, ob uns Deutschen die Bidensche Geschichtsbrille gefällt? Ja, Deutschland musste besiegt und befreit werden, in gewisser Weise auch von sich selbst. Die Widerstandsbewegung gegen Hitler war dazu nicht stark genug. Deshalb ist der D-Day auch für Deutschland ein Tag, an dem die Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus näher rückte. Die großen Opfer, die die westlichen Teilnehmer der Anti-Hitler-Koalition erbrachten, müssen erinnert und gewürdigt sein. Aber was ist mit der Sowjetunion?

Die grossen Opfer müssen erinnert und gewürdigt werden

Wer die Sowjetunion aus der Geschichte streicht, aus ideologischen Motiven gegenüber Russland, schreibt die Geschichte neu. Er schreibt damit auch deutsche Schuld und Verantwortung neu. Der Holocaust ist das zivilisatorische Verbrechen. Aber was ist mit den 27 Millionen Sowjetbürgern, die dieser Vernichtungskrieg von Nazi-Deutschland verschlang?

Nun wäre es wieder soweit, so wie vor 80 Jahren, verkündete der US-Präsident bei den Feierlichkeiten zum D-Day. Denn das ist der ewige Kampf zwischen den Mächten der Dunkelheit und denen des Lichts, ausgetragen in der Ukraine. Die Sowjetunion und ihre Rolle als Teil der Anti-Hitler-Koalition passt nicht in das gewollte Narrativ.

Heute geht es um die US-Hegemonie. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach darüber jüngst in Singapur. Er redete auch über Russland und die Ukraine und über den Nahen und Mittleren Osten. Dann aber kam er zum indo-pazifischen Raum. Der wäre der „Kern des strategischen Interesses“ der USA. Dort entscheide sich die Weltgeschichte im 21. Jahrhundert. Es geht um China. Russland diente in Austins Rede als abstoßendes Beispiel des imperialen Tyrannen, der nur Chaos produziert und mit seinen Nachbarn nicht im Frieden leben will.

Die USA sind klug genug zu wissen, dass sie Hilfe brauchen, also „Alliierte“, wenn sie „DIE Weltmacht“ (Biden) bleiben wollen. Unsere Allianzen sind unsere Stärke, erklärte Biden und meinte ausschließlich die USA. Deshalb brauchen sie auch die europäischen Nato-Alliierten in diesem globalen Kräftemessen. Biden formulierte diesen Anspruch in der D-Day-Rede so: „Und die NATO ist geeinter denn je und noch besser darauf vorbereitet, den Frieden zu wahren, Aggressionen abzuschrecken und die Freiheit in der ganzen Welt zu verteidigen.“

Es geht also darum, die Nato global zu positionieren – ihre Bindung an den transatlantischen Raum aufzuheben.

Das wird in Deutschland noch nicht einmal als Frage diskutiert.

Wie weit sind wir bereit, uns auch gegen China in Stellung bringen zu lassen?

Die ganze Welt passe auf, so Biden in der Normandie, was wir mit Russland machen – lassen wir die Aggression durchgehen oder nicht? Das sagt der Repräsentant eines Landes, das so viele Völkerrechtsbrüche und Aggressionen auf dem Buckel hat, dass man kaum nachkommt, sie alle aufzuzählen.

Aber nach der imperialen Logik macht es Sinn. Die von den USA geführte Nato will sich keine Niederlage gegen Russland erlauben, wie stünde sie sonst da, wer nähme sie noch ernst? Also gilt das Prinzip: Stärke zeigen, Siegfrieden. Bis die USA entdecken werden, dass die Ukraine nicht ihr Hauptproblem ist.

Die EU vergaß inzwischen die eigene historische Erfahrung, mit der die europäische Integration aus der Taufe gehoben wurde: Allein durch Zusammenarbeit kann Feindschaft überwunden und Aussöhnung verlässlich erreicht werden. In der Praxis versagt „Team Europe“ allerdings seit langem. Wer sich für „Europa“ hält, kann den Kontinent Europa nicht gestalten. So ging die Türkei verloren, Großbritannien verabschiedete sich. So wurde der Konflikt mit Russland getrieben, blieb der Krisenherd Westlicher Balkan ungelöst. So opfern wir – allen gegenteiligen Erklärungen zum Trotz – die Ukraine. In der Arktis, im Ostseeraum, in Moldawien, im Schwarzes Meer, im Kaukasus – überall schwelen Brandherde.

Wiedergänger Napoleons

Aktuell haben Wiedergänger Napoleons Hochkonjunktur. Auch manche Brüsseler Spitzenfunktionäre gebärden sich bereits wie Vier-Sterne-Generäle, als würden sie gerne in einem Hauptquartier Platz nehmen, das über eine kriegstüchtige Wirtschaft regiert, kriegswillige Menschen befehligt.

Was Biden bei den Feierlichkeiten in der Normandie in brillanten Formulierungen verlangte, übersetzte der ehemalige US-General Ben Hodges, einst Nato-Oberkommandierender in Europa ins Praktische: Auf in die Kriegseskalation, tönte er kürzlich. Putin blufft nur.

Worin besteht das westliche Kriegsziel in der Ukraine, ganz konkret? Muss die Krim wieder ukrainisch sein? Auf Nachfrage konnte der US-Verteidigungsminister das nicht beantworten. Praktisch stehen wir in Deutschland vor der Entscheidung, wie weit wir es treiben wollen, oder uns hineintreiben lassen wollen. Sollen Taurus für die Ukraine fliegen? Gegen Moskau?

Völkerrecht: Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung

Deutsche würden gebraucht, um sich an der Zielerfassung zu beteiligen und mit ihrem Können, ihrer Erfahrung und der vorhandenen militärischen Struktur dafür zu sorgen, dass unsere Marschflugkörper auch treffen. Sozusagen in deutscher Wertarbeit. Vielleicht kann Taurus schaffen, was keiner vorher schaffte und die Krim-Brücke kaputtmachen? Das, so erschien mir das Gespräch der deutschen Luftwaffenoffiziere, wäre doch was. Da wäre man unter seinesgleichen wieder wer. Auch wenn es den Kriegsausgang nicht wenden würde. Das wussten sie auch. Stattdessen hört man Erklärungen, dass es völkerrechtlich zulässig wäre, und Herr Biedermann mit Kerosin und Zündhölzern in der Hand, fühlt sich gut. Im Völkerrecht gibt es auch die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung. Ganz „regelbasiert“ ist auch das vergessen.

Und was kommt danach? Nato-Ausbilder in die Ukraine, denen dann Truppen folgen zu deren Schutz, um den Krieg weiter zu füttern? So war es ja nicht nur in Vietnam. Die USA okkupierten einen Teil Syriens, aber wenn jemand dort US-Installationen angreift, dann schlagen sie umgehend zurück. So als wären sie nicht die Okkupanten. Was passiert, wenn atomwaffenfähige F 16 von Nato-Territorien aufsteigen sollten, und Russland dann angreift, auch die Abflugflughäfen oder militärische Kommandozentralen, wie angedroht? Ziehen wir dann in den direkten Krieg?

Deutschland ist ein dicht besiedeltes Industrieland, ein Krieg, selbst konventionell, wäre verheerend. Aber es scheint, auch darüber wird nicht nachgedacht. Wie lange geht das alles noch gut? Woher nehmen wir die Hoffnung, die Ukraine schere sich darum, was wir erlauben oder nicht. Die ist in einer so katastrophalen Lage, dass inzwischen mit allem gerechnet werden muss. Es ist ja nicht so, dass wir nicht wüssten, was alles schon gemacht oder versucht wurde.

Wie viele in unserem Land wissen, dass ein Großteil der Welt die westliche Interpretation des Krieges in der Ukraine nicht teilt? Dass sie die Heuchelei sehen, die wir betreiben?

Keine Ahnung oder interessiert es uns nicht?

Haben wir keine Ahnung oder interessiert es uns nicht, wie in Moskau deutsche, europäische oder US-Erklärungen aufgenommen werden? Ein Krieg ist eine ernste Sache. Es gibt russische Stimmen, die inzwischen fordern, Russland solle vorausschauend taktische Nuklearwaffen einsetzen, weil die glauben, der Westen sei kriegsbesoffen, verstehe nur die Sprache der Waffen und sehe die Gefahr einer nuklearen Kriegskatastrophe nicht mehr. Die finden Putin zögerlich.

Tatsächlich hat sich die Kriegsführung, seitdem der Westen einen frühen Friedensschluss verhinderte, stark verändert. Sie ist viel erbarmungsloser geworden. Die Warnungen, die inzwischen aus dem Kreml kommen, wurden sehr viel schärfer. Hodges glaubt an einen Bluff. Aber der taugt nicht zum Orakel. Der glaubte auch, die Krim wäre spätestens im August 2023 wieder in ukrainischer Hand. Tatsächlich ist unsere Sicherheit in den Händen von Leuten, die sich bisher mit allen Prognosen und Einschätzungen, was Russland betraf, irrten und die globale Unsicherheitslage praktisch verschärften.

Worum geht es also? Geht es darum, Biden die Präsidentenwahl nicht zu vermurksen? Geht es darum, Russland so zu provozieren, dass es zu taktischen Nuklearwaffen greift? Damit auf diese Weise vielleicht eine weltweite Isolation Russlands gelingt, die BRICS zerstört werden, und Russland festgebunden werden kann für ewig am Schandpfahl der Welt?

Genau so denken die, die den Krieg eskalieren wollen. Sie haben schon Millionen von Leben zerstört in endlosen Kriegen, da kommt es auch ein paar mehr auch nicht mehr an. Es würde nur anderer Völker Erde verstrahlt, es würden nur anderer Söhne und Töchter sterben. Die Dümmsten unter ihnen sagen so etwas auch noch laut. Euer Krieg ist unser Krieg, tönte der republikanische US-Senator Graham in der Ukraine und monierte, dass dort nicht schon die Achtzehnjährigen eingezogen würden. Nur zu, feuerte er jüngst Israel mit Bezug auf den Gaza-Streifen an. Nutzt, was ihr habt. Wir haben schließlich im Krieg gegen Japan auch Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen.

Oder ist der Dritte Weltkrieg doch schon einkalkuliert?

In der neuen Normalität der „Zeitenwende“ regiert nicht mehr die Vernunft. Es gibt keine Gespräche, es herrscht Realitätsverlust. Die Begeisterung für Eskalation scheint ungebrochen. Die Kriegsopfer zählen nicht, weder die, die schon waren, noch die, die noch kommen werden.

In der Normandie hielt der US-Präsident sorgfältig die Fiktion aufrecht, dass in der Ukraine vor allem Russen sterben. In der Ukraine gab es keine Präsidentschaftswahlen. Selenskyj soll nun solange im Amt bleiben, wie der Krieg dauert. In Afghanistan hätte das der Westen nicht geduldet. Aber, um Admiral Kirby zu zitieren: andere Kriege, andere Entscheidungen.

In ukrainischen sozialen Medien zirkulieren Videos, die zeigen, dass Frauen auf der Straße ihnen wildfremde Männer gegen den Zugriff von Zwangs-Rekrutierern verteidigen. Sie schlagen mit Handtaschen und bloßen Fäusten auf sie ein. Warum tun die das? Sind die von der Fünften Kolonne Russlands, oder wissen sie, was an der Front los ist, wo die Überlebensrate von militärischen „Frischlingen“ oft nur Stunden beträgt? Sie werden nicht einmal mehr richtig ausgebildet. In der Westukraine formierte sich eine Gruppe auf Telegram, mit inzwischen 40.000 Mitgliedern, Tendenz steigend. So wie bei uns Anrufer bei Radiosendern vor „Flitzerblitzern“ warnen, warnen diese Ukrainer sich gegenseitig, wo Rekrutierer gerade gesichtet wurden. (Quelle: Professor Iwan Katschanowski, Universität Ottawa, im Gespräch mit Glenn Greenwald)

Falls Berichte in ukrainischen sozialen Medien stimmen, müssen frisch Eingezogene ihre persönliche Schutzausrüstung selbst kaufen, fehlt es an Essen an der Front. Das Thema spielt auch in veröffentlichten Verhören ukrainischer Kriegsgefangener eine Rolle. Sie hätten etwas zu essen bekommen, hört man regelmäßig. Sie seien auch nicht geschlagen worden. Diese Befragungen veröffentlicht das russische Militär, um damit die ukrainische Seite zu beeinflussen. Aber das geht nur mit Themen, die unter ukrainischen Soldaten eine Rolle spielen.

Und schließlich: So, wie es läuft, trainieren wir gerade die russische Armee auf moderne Kriegsführung und machen sie noch stärker. Die Ukrainer lernen auch, was moderner Krieg tatsächlich ist, aber deren Armee wird dabei immer schwächer. Zudem merkt auch noch der „Rest“ der Welt, wer die kriegstauglichen Waffen, den längeren Atem und die klügere militärische Strategie hat. Wie dumm ist das denn?

Vor der Wahl wird das US-Establishment den Kurs nicht wechseln. Als „schwacher“ Präsident darf Biden nicht dastehen, nicht bei einem neokonservativen US-Mainstream, der nur die Politik der Stärke versteht und sich ständig von Feinden umzingelt sieht. Vorsicht, die Russen kommen! Oder sind sie etwa schon da? Das ist schon pathologisch. Die EU fährt den gleichen Kurs.

Was sind heute gute Europäer?

Diese Frage warf die Kommissionspräsidentin auf und beantwortete sie auch gleich: Man muss pro-ukrainisch sein und kein Putin-Freund. Dann passt alles Übrige ideologisch schon zusammen. Wieder klang die allgemeine Marschrichtung ganz glatt und fast gut. Auch dieser Brocken soll geschluckt werden. Deshalb will ich schon darauf hinweisen, dass „pro-ukrainisch“ für mich beispielsweise nicht einschließt, „Слава Україні“ zu intonieren, zu ignorieren, wie es um die Ukraine bestellt ist, oder mit Nazis vor der Asow-Flagge (mit Wolfsangel) zu posieren, so wie das Boris Johnson kürzlich tat. Im britischen Unterhaus. Kurz vor dem D-Day.

Einer der drei Asow-„Helden“ trägt ein großformatiges Tattoo von Adolf Hitler, fein ausgearbeitet, über dem ganzen Unterarm. Bei Johnson war er langärmlig bekleidet. Aber man sollte meinen, man erkundigt sich über die „Helden“, die man hofiert. Schließlich war Johnson einst Vorgesetzter des MI 6. Allerdings, wenn man nach der Methode, der Feind meines Feindes ist mein Freund verfährt, ergibt alles fürchterlichen Sinn.

Vielleicht ist doch die Mehrheit

Da applaudiere ich lieber dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der im Mai 2024 nach Wolgograd fuhr, um anlässlich des 25-jährigen Bestehens einen Friedhof für deutsche Soldaten aufzusuchen, und stehe an der Seite all jener, die ernsthaft nach Frieden suchen, auch für die Ukraine, auch mit Russland. Viele sind es nicht. Oder vielleicht ist doch die Mehrheit, nur eben die schweigende?

Besagter deutscher Friedhof in Wolgograd kam 1999 nur unter Schwierigkeiten zustande. Warum das so war, liegt auf der Hand. Die Deutschen kamen als Aggressoren. Die Wehrmacht war nicht ans Kriegsrecht gebunden. Aber Menschen sollen ein Grab haben. Damals, 1999, ist der russische Soldatenfriedhof in Wolgograd mit deutscher Unterstützung ebenfalls saniert worden.

Wir haben genug Soldatenfriedhöfe in Europa, viel zu viele, von Wolgograd bis in die Normandie. Wenn alles ungebremst weiter geht, wird es gar keine Gräber mehr geben, und niemanden mehr, der sich kümmern könnte, trauernd verharrt oder Tod als Mahnung an das Leben versteht, es nicht zu verspielen.

Besagter Besuch in Wolgograd machte auch sichtbar, dass ein paar deutsch-russische Verträge noch halten. Mehr noch, noch werden Gräber geachtet, Erinnerungsstätten und Mahnmale. Dort wie hier. Ich wünsche mir eine Politik, bei der ich mir auch um solche Fragen keine Sorgen machen muss. Das mag manchem gering erscheinen. Mir nicht.

Ich mag kein foie gras, und glücklicherweise bin ich auch keine Stopf-Gans.

Ich kann am 9. Juni wählen.

Auch Ihnen wünsche ich eine gute Wahl.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.