Der absehbaren und schon aufgezogenen Pflegekatastrophe nur zuschauen?

Die Worte Katastrophe oder Desaster (das ist das, was unter einem Unstern steht) reservieren wir für Krieg, Banken-Zusammenbrüche, die Folgen von Unglücken und anderes mehr. Ursächlich ist freilich keine ungünstigen Sternen-Konstellation, wie der Ursprung des Wortes „desaströs“ in der Astrologie vermuten lässt. Es fiel und fällt auch kein Stern von Himmel, wie Heinrich Heine im Gedicht vom „Unstern“ beschrieb („Der Stern erstrahlte so munter, Da fiel er vom Himmel herunter“). Und an die Sozialgeschichte denken wir in Verbindung mit dem Wort Desaster oder Katastrophe sowieso nicht. In Deutschlands ereigneten sich jedoch nach Gründung der beiden Staaten mehrere Länder- und soziale schichtenübergreifende soziale Katastrophen.

Die eine war zeitlich über 30 Jahre gestreckt. Es war die Zeit wachsender und schier unaufhaltsamer Massenarbeitslosigkeit im Westen. Die voranschreitende Zerstörung des Wertes unserer Arbeit und unserer Fähigkeiten nahm damals Ausmaße einer Epidemie an. Weil diese Massenarbeitslosigkeit schier unschlagbar schien, wurde sie als Schicksal empfunden, wurden geistig- moralische Wenden gegen sie propagiert. Das eigentümliche an diesem Desaster war, dass nichts half. Von Konjunktur-Zyklus zu Zyklus stieg die Arbeitslosigkeit. Man wusste, was geschah, erwartete die nächste Verschlechterung der Beschäftigungslage, es wurden Schulzeiten verlängert, Ausbildungsplätze geteilt, die Zeiten der Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen ausgedehnt, Beschäftigungsprämien und Zuschüsse zu den Sozialbeiträgen beschlossen, die Arbeitszeit verkürzt. Es gab zeitweise über 600 000 Frauen und Männer in sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das Kürzel „ABM“ hierfür war alltäglich. Heute ist es nahezu vergessen.

In der Öffentlichkeit spielt dieses Desaster keine große Rolle mehr. In den Köpfen der Betroffenen und ihrer Familien sowie in unseren „Herzen“, in unseren imaginierten „Zentren“ sitzt die Furcht vor Arbeitslosigkeit aber immer noch. Kehre ich in die Heimat meiner Kindheit und der Jugend zurück, spreche mit Gleichaltrigen, dann ist die Erinnerung an die Arbeitslosigkeit „wie gestern“. Ich verlor wie Millionen andere meinen Job, im Frühjahr 1989 wurde ich meine Arbeitsstelle los, ich bewarb mich vielfach vergeblich, bis ich Ende des Jahres wieder eine bezahlte Arbeit hatte; ich weiß also halbwegs worüber ich rede. Darin steckt eine bis heute nachwirkende, aber nahezu vergessene Ursache zermürbender Ungewissheit über ein gelingendes Leben.

Dann brach – die zweite soziale Katastrophe – die Wirtschaft des Realsozialismus in rasendem Tempo auseinander. Die Wucht der um sich greifenden Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit, ein Leid, das Millionen ergriff, waren furchterregend. Millionen hatten das Gefühl, von etwas verschlungen zu werden. Auch so etwas vergisst Mensch nicht. Das zweite Desaster war kaum vorauszusehen. Experten meinten noch 1990, allein die Übertragung marktwirtschaftlicher Regelungen auf die Ökonomie der DDR werde die Produktivität um ein Drittel erhöhen. Alles dummes Gerede. Der DDR-Wirtschaft brachen die Märkte im COMECON weg und was sie damals produzierte, war auf den anderen, den Weltmärkten nicht zu verkaufen.

Und nun zieht ein drittes soziales Desaster herauf. Seit Jahren wissen wir, dass es heraufzieht, wir beobachten sein Heraufziehen, wir vermessen seine wachsende Dimension. Wir wissen sogar, was dagegen Erfolg verspricht.

Dieses Desaster wird die Jahrgänge treffen, die auf die 80 Jahre zusteuern; die also vor dem neunten Lebensjahrzehnt stehen. Danach trifft es diejenigen, die während der kommenden Jahre ihre Erwerbsleben verlassen, um in Rente zu gehen. Ich schreibe über die Altenpflege. Die fehlende Pflege und Versorgung einer wachsenden Zahl alter und sehr alter Menschen wird die dritte Katastrophe unserer Sozialgeschichte sein. Dabei ist die wachsende Pflegebedürftigkeit auch Ergebnis erfolgreicher Bekämpfung von Volkskrankheiten. Menschen werden im Schnitt heute älter. In der Folge nehmen die Kräfte ab, meist nachdem das neunte Lebensjahrzehnt erreicht, „betreten“ wurde.

Es gab früher kein nennenswertes Pflegeproblem, weil die Menschen im Schnitt früher starben. Literarisch aufgearbeitet werden heute persönliche Erfahrungen mit dementen, altersschwach gewordenen Angehörigen – ich nenne Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“. Nach Literatur über das Leben geistig schwächer gewordener Frauen und Männer in der Vergangenheit sucht Mensch vergebens.

Unter den Millionen Pflegebedürftigen befinden sich auch viele, viele behinderte Frauen und Männer. Körperlich oder/und geistig eingeschränkte alte Menschen. Was wird aus denen? Wir, Gesellschaft und Staat der Bundesrepublik, haben den Behinderten im Teilhabegesetz versprochen, ihnen bis zum letzten Tag ihrer Leben größtmögliche Selbständigkeit zu verschaffen. Teilhabe soll möglich werden. Und nun?

Früher starben Behinderte früher. Bis vor wenigen Generationen wurden „Krüppel“ vor der Öffentlichkeit verborgen – oder das Gegenteil wurde getan: Sie wurden auf Jahrmärkten vorgezeigt. „Krüppel“ widersprachen per Existenz den Vorstellungen von einer „Reinheit“ des Volkes, der „Rasse“, also der Existenzen. Man wollte sie aus den Augen haben und zudem verhindern, dass sie Kinder bekamen. Und es waren nicht allein Nazis, die so dachten und taten. Alva und Gunnar Myrdal, beide mit einem Nobelpreis ausgezeichnet (heute würden sie „Ikonen” genannt), waren in den dreißiger Jahren Anhänger einer rigorosen Politik der Zwangssterilisierung – so wie auch der SPD-Reichstagsabgeordnete Alfred Grotjahr.

Behinderte sind auf besondere Unterstützung durch ambulante und stationäre Angebote angewiesen. Sie würden zu den am härtesten Betroffenen in der heraufziehenden Katastrophe zählen. Aber merkwürdig ist, dass sie fast nie „mitgezählt“ werden. Das wirft kein gutes Licht auf uns alle.

Wo steht das Land mit seinen Versprechungen und Normen heute? Vielleicht erinnern Sie sich? Am Montag den 27. Mai hatte Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach der Rheinischen Post ein Interview gegeben, dessen wesentliche Aussagen durch fast alle Medien rauschten. Er sprach von einem explosionsartigen Ansteigen der Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland und davon, dass sich bereits 2024 in diesem Bereich der sozialen Sicherung die Alters-Auswirkungen der Boomer-Jahrgänge bemerkbar machten.

Der Minister kündigte zugleich an, bis Ende der Legislaturperiode werde sich nichts Wesentliches an der gegenwärtigen Situation im Bereich der Altenpflege ändern. Er verwies in diesem Zusammenhang auf eine interministerielle Arbeitsgruppe, die getagt habe. Die Auffassungen in dieser Gruppe lägen so weit auseinander, dass es keine gemeinsamen Vorschläge gebe. Im Klartext: Vor allem der Bundesfinanzminister ist nicht gewillt, der Pflegeversicherung frisches Geld aus dem Steueraufkommen zuzuweisen, um die heute bereits bestehende und weiter zunehmende Not zu lindern. Die Schuldenbremse beschleunigt auf dem Weg in die Katastrophe. Wie lange noch wollen wir diesem Irrsinn zuschauen?

Für die alten Volksparteien mit dem „C“ im Namen und für die SPD ist das übrigens unter Wahlgesichtspunkten besonders gefährlich, denn die Alten halten die genannten Parteien heute sozusagen „über Wasser“. In der Europa-Wahl lagen die Stimmanteile der über 60-Jährigen für die CDU bei über 30 v.H. – bei der SPD weit über 20 v.H. Das müsste nachdenklich stimmen.

Lauterbach wurde sofort widersprochen. Sachlich und im Ton zurückhaltend widersprach der deutsche „Pflegepapst“ Professor Dr. Heinz Rothgang von der Uni Bremen. Eine Überraschend hohe Zahl Pflegebedürftiger? Keineswegs. Auswirkung der Boomer-Jahre? Die sah Rothgang nicht. Ausgesprochen sauer reagierte die Verbandschefin der AOK, die frühere niedersächsische Sozialministerin Carola Reimann (SPD). Sie sprach von „Kraft- und Ratlosigkeit“. Was die Ampel zur Pflegesituation vorlegten, „grenzt an Arbeitsverweigerung und wird der Verantwortung für die rund 70 Millionen Pflegeversicherten nicht gerecht“. Reimann neigt nicht zu verbalen Ausreißern.

Schauen wir auf einige Zahlen: Von 2016 auf 2017 wurden binnen kurzer Zeit knapp 600 000 Menschen als pflegebedürftig anerkannt. Diesem Sprung lag eine Reform zugrunde, die die Leistungen der Pflegeversicherung ausdehnte, von allem die Einbeziehung der Demenzkranken. Die Reform war bereits 2009 von einer Kommission unter Leitung des evangelischen Theologen und damaligen Vorstand des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, Jürgen Gohde, fertig gestellt aber nicht beschlossen worden. Acht Jahre wurden nach 2009 verschenkt.

Wie ging es nach 2017 weiter? 2018 kamen 346 000 Pflegebedürftige neu hinzu. 314 000 waren es 2019, 2020 wurden 323 000 pflegebedürftig, ein Jahr später 283 000, 2022 etwas weniger: 268 000. Danach 360 000. Mittlerweile sind 5,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik pflegebedürftig. Tendenz: rasch steigend.

In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird die Zahl der Pflegebedürftigen auf etwa sieben Millionen steigen. Gegenwärtig machen mehr Pflegedienste dicht als neue entstehen. Es fehlen heute bereits mehr als 100 000 Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Jetzt müsste begonnen werden, die Infrastrukturen in den Gemeinden und Städten alten- und pflegeangepasst zu ändern. Davon ist wenig zu sehen. Die soziale Katastrophe ist also auf dem Weg, sie bricht aus, wenn nicht ganz rasch und umfassend gehandelt wird. Es ist wie überall im Leben: Ohne Vorsorge und Investition wird die Schlussabrechnung unbezahlbar.

Korrekturhinweis: der Name des o.g. SPD-Reichstagsabgeordneten war falsch, und wurde nachmittags korrigiert.

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.