Ein deutscher Friedenspreis für Anne Applebaum – und das ewig “gestrige” China

„Sicherheit und Verteidigung sind elementare Eckpfeiler unserer Demokratie. Deshalb halten wir es für die richtige Entscheidung, uns sehr intensiv damit zu beschäftigen, wie wir diese Eckpfeiler schützen. Gerade heute, da wir jeden Tag erleben, wie Freiheit in Europa verteidigt werden muss. Mit dieser neuen Normalität sollten wir uns auseinandersetzen … So lautete ein Teil der Begründung, warum Borussia Dortmund Rheinmetall zum „Champion-Partner“ machte.

Die Ausrufung einer „neuen Normalität“, die in den vergangenen Jahren immer häufiger erfolgte, ist eine mehr oder minder unintelligente Art, breiten Bevölkerungsteilen zu vermitteln, dass sie sich gefälligst unaufgeregt mit dem abzufinden haben, was bei jeweiliger Gelegenheit als „neu normal“ definiert wird. 2005, als eine heranziehende Pandemie wegen des Vogelgrippevirus befürchtet wurde, war die geforderte Akzeptanz einer „neuen Normalität“ schnell zur Hand. In der Pandemie ab 2020 hatte die „neue Normalität“ Hochkonjunktur. Nur wenige, wie etwa die ehemalige Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger verwahrten sich ausdrücklich dagegen, Krisen bzw. Krisenreaktionen als Normalität festzuschreiben, und schon gar nicht, wenn damit Grundrechtseinschränkungen einhergehen.

Auch in der damaligen Diskussion im Rahmen des World Economic Forum regte sich Widerstand. Ein Kenianer im öffentlichen Dienst, Chime Asonye, schrieb einen sehr bemerkenswerten Beitrag, der in der Auffassung mündete, dass schon das bisher „Normale“ nicht im Sinne der Mehrheit der Weltbevölkerung funktioniert hätte. Das angeblich „neue Normale“ ignoriere das und erwecke im Übrigen den falschen Eindruck, so wie es jetzt wäre, wäre es gut und richtig.

Schon das alte “Normale” taugte nicht

Die mit der „Zeitenwende“ proklamierte „neue Normalität“ krankt exakt an dem, was Asonye 2020 mit Blick auf pandemiepolitische Behauptungen so scharfsinnig sezierte: Das bis dato „Normale“ taugte schon nicht zur Befriedung Europas und der Welt. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass eine „neue Normalität“, die Gegnerschaft, ja Feindschaft züchtet und Kriegstüchtigkeit will, uns dem näherbringt. Wie sagte Sigmar Gabriel, der sich im „new normal“ zum neokonservativen Falken wendete, so schön, als er von einem nötigen „klaren Signal an Putin“ sprach: „Stopp diesen Krieg oder wir tragen ihn zu dir“. In Zeiten der „Zeitenwende“ frisst sich das Wendehalsvirus ganz ungeniert durch die graue Hirnmasse viel zu vieler.

Inzwischen sind auch die Verleiher des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels „neu normal“ infiziert. 2024 soll ihn Anne Applebaum erhalten, weil ihr Werk, so die Beurteilung des Stiftungsrates, einen „eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden“ leiste. So tief sind die Preisverleiher selbst in Hochzeiten des Kalten Krieges nicht gefallen, banden sie doch diesen Preis ausdrücklich an die Kant`sche Idee vom „ewigen Frieden“. Er wurde 1950, vor inzwischen 74 Jahren, gestiftet, als der Kalte Krieg längst die Staatenbeziehungen regierte und Deutschland und Europa geteilt waren. Damals betonten die Initiatoren:

„Die Stiftung dient dem Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker. Dies geschieht durch die Verleihung des Friedenspreises an eine Persönlichkeit, die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat. Der Preisträger wird ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Bekenntnisses gewählt.“ (Anmerkung: Das Wort „Rasse“ wurde später gelöscht und der Grund dafür im Statut vermerkt.)

Schlichtheit und Demut sind keine gängigen Vokabeln mehr

Der erste Preisträger war Max Tau, und die Zeremonie fand in einem Privathaus statt. 1951 wurde Albert Schweitzer ausgewählt. Eingangs seiner Dankesrede betonte er: „Keiner auf der Welt darf heute den Friedenspreis empfangen für eine Leistung, die offensichtlich ist, sondern jeder darf ihn nur als Ermutigung hinnehmen, für das, was er in Schlichtheit und Demut für die Idee des Friedens tun will.“ Aus heutiger Sicht muten solche Sätze altertümlich an. Schlichtheit und Demut sind keine gängigen Vokabeln mehr. Einstein spricht nur in männlicher Form. Und doch ist sein Kerngedanke ganz klar: Der Beitrag zum Frieden soll das Maß aller Dinge sein. So will es auch die Satzung der Treuhandstiftung, die 1952 ins Leben gerufen wurde und Frankfurt/ Main zum Ort der Preisverleihung bestimmte. Seitdem sind viele Jahre vergangen und die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger ist inzwischen sehr beachtlich.

Der Preis wurde im Lauf der Jahre „internationalisiert“, aber es fällt schon auf, dass es bis 1988 nur sehr wenige Preisträger gab, die aus dem damaligen Reich des östlichen „Bösen“ kamen, und nicht einer davon stammte aus der DDR. Gab es dort niemanden, der diesen Preis verdient hätte? So weit ging der Stifter-Mut offenbar nicht, aber mutig war die Auswahl der Preisträgerinnen und Preisträger vor 1990 durchaus. In den Reden von damals Geehrten findet sich immer wieder der Grundgedanke, den bereits Schweitzer aufwarf: Nichts ist mühseliger, als den Weg zum Frieden zu suchen, aber nur er ist es wert, gegangen zu werden, weil nur er in menschliche Zukunft führt, nicht nur für Deutschland, sondern für die Familie der Völker der Welt.

Auch rückblickend sind beispielsweise die Dankesreden von Viktor Gollancz (1960) oder von Leszek Kolakowski (1977) zutiefst humanistisches Plädoyers, dem Hass zu widerstehen und sich auch im Angesicht von zutiefst Unmenschlichem nicht selbst in der Unmenschlichkeit zu verlieren. Es verschlägt einem in doppelter Hinsicht fast den Atem in der heutigen Zeit, dass Gräfin von Dönhoff in der Laudatio auf Lew Kopelew (1981) eine strikte Trennung zwischen der Beurteilung eines politischen Systems eines Landes (Russland) und dessen Volk forderte und dazu sogar Albert Speer zum Beweis nahm. Einmal, weil auch von Dönhoff, die aufgeklärte streitbare Frau, Russland und die Sowjetunion synonym nahm und ein weiteres Mal, weil sie in der Eiszeit des Kalten Krieges den „Russen“ zusprach, ein liebenswertes, mitleidvolles Volk zu sein.

Was ist nun der spezielle Beitrag von Anne Applebaum zum Frieden?

Man kann lange suchen und wird nichts finden außer tiefer Verachtung für das heutige Russland unter Putin, Hass auf den russischen Präsidenten persönlich und Geschichtsklitterei, die sich als Aufarbeitung von autoritären Systemen präsentiert. Sie schreibt regelmäßig im Atlantic (558 Artikel). Auch ohne Abonnement lässt sich ihre Denkhaltung ablesen: Sie ist durch und durch neokonservativ. Anne Applebaum, das zieht sich durch ihre Veröffentlichungen wie ein rotes Band, will beispielsweise den Siegfrieden der Ukraine. Sonst wäre kein Frieden zu machen.

Sie träumt von der Ablösung Putins und schrieb 2023 im Atlantic „Doch selbst der denkbar schlechteste Nachfolger, selbst der blutigste General oder der tollwütigste … ist Putin vorzuziehen, denn er wird schwächer sein …“ Glaubt sie wirklich, das russische Volk würde so etwas wählen?

Aber Applebaum glaubt noch nicht einmal an die Kraft demokratischer Wahlen. Gegenüber Radio Free Europe/Radio Liberty 2023 freute sie sich darüber, dass die Nato-Staaten „weiter daran festhalten, den Krieg zu gewinnen” (gemeint war der Stellvertreterkrieg gegen Russland), aber räumte ein, dass es auch Opponenten gegen diesen Kurs gäbe. Sie bezeichnete es als Gefahr, wenn die durch Wahlen an die Macht kämen. Und damit ist alles über ihr Demokratieverständnis gesagt. Das Kreuz der Wähler gehört an die „richtige“ Stelle, dort, wo sie es nach dem Willen von Applebaum zu machen haben. Wörtlich hieß es:

„It’s true that, as I said, you know, inside French politics, inside German politics, inside U.S. politics, there are opponents. And there is a danger that if any of them were to win an election, then the situation could change. But right now — the next really important election is the U.S. one next year — right now, it doesn’t look like that’s going to happen.”

Übersetzung: Es stimmt, dass es, wie ich schon sagte, in der französischen Politik, in der deutschen Politik, in der US-Politik, Gegner gibt. Und es besteht die Gefahr, dass sich die Situation ändern könnte, wenn einer von ihnen eine Wahl gewinnen würde. Aber im Moment – die nächste wirklich wichtige Wahl ist die in den USA im nächsten Jahr – sieht es nicht so aus, als würde das passieren.

Im gleichen Interview erklärte sie auch – in weiten Teilen frei erfunden – wie man Putin geschichtlich einordnen müsse: “Ich glaube, es steht außer Frage, dass Putin als der Mann in Erinnerung bleiben wird, der sich wirklich daran gemacht hat, sein eigenes Land zu zerstören. Abgesehen von dem, was er der Ukraine angetan hat, abgesehen von dem, was er Georgien angetan hat, abgesehen von dem, was er Tschetschenien angetan hat, abgesehen von dem, was er Syrien angetan hat, wissen Sie, das ist jemand, der den Lebensstandard, die Freiheit und die Kultur in Russland selbst verschlechtert hat. Er scheint sich nicht um das Wohlergehen oder den Wohlstand der einfachen Russen zu kümmern. Sie sind für ihn nur Kanonenfutter.”

2022 gehörte Applebaum zu einem kleinen Kreis von Auserwählten, die mit Biden über den internationalen Kontext seiner Präsidentschaft diskutierten. Laut Washington Post drehte sich Diskussion vorrangig um die Frage des Wettstreites zwischen demokratischen Werten und Institutionen und dem „globalen Trend zur Autokratie“.

2002 äußerte Anne Applebaum, dass die Überbringer von Nachrichten im Konflikt Israel-Palästina legitime Kriegsziele seien. („Kill the messenger“). Die Zerstörung des Sendegebäudes der „Stimme Palästinas“, die in Ramallah ansässig ist, sei in Ordnung, sehr viel besser, als etwas im Gaza-Streifen kaputtzuschlagen, wie etwa dessen „armseligen“ Flughafen oder Verwaltungsgebäude. Aus Sicht Applebaums sollte Arafat so eingeschüchtert werden. Sie schob ihm, aber auch den palästinensischen Medienschaffenden die Schuld dafür zu, dass der Osloer Friedensprozess gescheitert sei.

Der Brite John Mitchell, der 2021 die Königliche Gesellschaft für Literatur rügte, Applebaum zu ehren, rief diese Auffassung in Erinnerung. Er nutze gleichzeitig die Gelegenheit, zu bilanzieren, wie viele Journalisten bis dato durch Israel getötet bzw. verfolgt worden waren, und dass die Internationale Journalistenvereinigung 2019 an den Internationalen Strafgerichtshof appelliert hatte, die Gewalt gegen palästinensische Journalisten zu untersuchen. Mit dem Gaza-Krieg ist nun auch das förmlich explodiert.

2023 erschien in Foreign Policy ein Artikel zu den Gründen des Scheiterns des Osloer Friedensprozesses. Der Autor erklärte unmissverständlich, dass für die palästinensische Seite eine zwei-Staaten-Lösung am Ende stehen sollte, und dass es die israelische Seite gewesen wäre, die sich nicht darauf festlegen wollte. Erst 2001, als Bill Clinton sein Amt verließ, habe die USA förmlich und offiziell ihre Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung erklärt. Diese Option fehle in den Osloer Dokumenten. Mangels politischer Führung auf beiden Seiten sei es immer wieder zu einer Spirale der Eskalation gekommen: terroristische Angriffe seitens der Palästinenser einerseits, Ausbau der israelischen Siedlungen in palästinensischen Gebieten andererseits.

China/Indien: 70 Jahre “Fünf Prinzipien”

In der Grauzone zwischen der angeblich alten und neuen „Normalität“ fand, ganz unbeachtet vom Westen, der seine Blicke auf das Rededuell von zwei US-Präsidentschaftsbewerbern richtete, in Peking eine Feier statt. 70 Jahre hatten die sogenannten „fünf Prinzipien“ inzwischen auf dem Buckel, die das friedliche Zusammenleben in der Welt regeln sollen und einst zwischen China und Indien verabredet worden waren. Der ehemalige französische Ministerpräsident de Villepin und der chinesische Präsident Xi erklärten sie für unverändert gültig.

„Jenseits der Unterschiede zwischen den Kulturen, der Geschichte und den politischen Systemen ist Frieden auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien möglich, die in unserer gemeinsamen Menschlichkeit, Rationalität und Spiritualität verwurzelt sind“, betonte de Villepin und warnte: „Noch nie war das Erbe der fünf Prinzipien so wichtig wie heute, denn es erinnert uns daran, dass wir überall auf der Welt am Rande von Konfrontation und Krieg stehen.“ Präsident Xi unterstrich: „An Chinas Entschlossenheit, auf dem Weg der friedlichen Entwicklung zu bleiben, wird sich nichts ändern. Wir werden niemals den ausgetretenen Weg der kolonialen Ausplünderung oder den falschen Weg des Strebens nach Hegemonie einschlagen, wenn man stark wird.“ Das ist ein großes globales Friedens-Versprechen. Der neuen “Normalität“ kann Xi nichts abgewinnen. Präsident Xi unterwarf damit sich und sein Land einem hohen Maßstab. Daran wird sich China messen lassen müssen. Aber alle anderen Länder auch.

Die in Peking gewürdigten Prinzipien lauten: gegenseitiger Respekt für die territoriale Integrität und Souveränität des anderen, gegenseitige Nichtaggression, gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, Gleichheit und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen, friedliches Zusammenleben. In englischer Sprache ist die Rede des chinesischen Präsidenten hier nachlesbar.

Um diese Prinzipien zu verwirklichen, muss das Rad nicht neu erfunden werden. Man muss sie nur wollen und der Diplomatie und den Vereinten Nationen eine Chance geben. Diejenigen, die sie wollen und so Zukunft suchen, werden von Tag zu Tag mehr. Denn der “Rest” der Welt hat das übliche vormundschaftliche Auftreten, die Anmaßung und Heuchelei des Westens gründlich satt.

Die Hoffnung auf und das Verlangen nach Frieden sterben nicht aus, wie auch nicht die Zungen, die den Mächtigen auf ihre Weise die Leviten lesen, ob nun gesprochen, geschrieben oder auch spottend gesungen wie hier. Die im Video verwendeten Zeichentrickfiguren sind Lolek und Bolek, einst Helden polnischer Kinderfilmproduktionen, die auch in der DDR sehr beliebt waren. Mehr sollte daraus nicht geschlossen werden.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.