Wie geht es Menschen unter Putins „Bluthund“ wirklich? – Unsere Autorin unterstützt seit Jahren Flüchtlinge aus Tschetschenien und stellt fest: Zu Unrecht wird ihnen immer wieder Nähe zum Islamismus unterstellt.

Es war Ende Juni 2015. Am frühen Morgen trafen sich fünfzehn tschetschenische Frauen aus dem Landkreis Ostprignitz-Ruppin vor dem Rathaus in Neuruppin. Sie warteten auf einen Bus, der sie zu einer Exkursion nach Berlin bringen sollte. Es war die erste Bildungsreise der neu gegründeten Frauenselbsthilfegruppe mit dem Namen „Lebensfreude“.

Ihr erstes Ziel war der Deutsche Bundestag, auf Einladung einer Abgeordneten. Danach ging es weiter mit einer Sightseeing­-Tour und dann zum Interkulturellen Garten „Rosenduft“ im Park am Gleisdreieck. Dort war das erste Treffen mit einer Gruppe bosnischer Frauen vereinbart. Sie hatten den Garten in jahrelanger Arbeit zum Gedeihen gebracht. An diesem Nachmittag ging es auch um alte Obst- und Gemüsesorten aus der Heimat, um Artenvielfalt und um die richtige Bienenzucht.

Und es wurde gesungen, getanzt und viel gelacht. Ein Gegenbesuch der bosnischen Frauen in Neuruppin war schnell verabredet. Alle Frauen eint das Schicksal, die Schrecken des Krieges erlebt zu haben und viele Narben und Traumata verarbeiten zu müssen.

Eine solche Anekdote liest man in der Berichterstattung deutscher Medien über Tschetschenen kaum. Die Rede ist von „unkontrollierter Zuwanderung“, „gefährlichen Islamisten“ und einer bedrohlichen „tschetschenischen Mafia“. Auch die Berliner Zeitung veröffentlichte kürzlich einen Text (Paywall), der Tschetschenen pauschal mit Islamismus und Terrorismus in Verbindung bringt. In dieser Verkürzung ist das falsch und kontraproduktiv.

Zweifellos gibt es islamistisch geprägte Anhänger des Salafismus und Wahabismus aus der Zeit der Tschetschenienkriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009), die als Kämpfer in Syrien und anderswo angeworben wurden und von der Errichtung eines islamischen Emirats oder Kalifats überzeugt sind. Ohne Zweifel gibt es organisierte tschetschenische Kriminelle, die auch in Deutschland bei der Aufteilung des Drogenhandelsmarktes und bei anderen kriminellen Geschäften mitmischen.

Die Mehrheit sind Anhänger eines liberalen Sufismus

Sie sind eine kleine Minderheit unter den Zehntausenden Tschetschenen in Deutschland, die nur eines ersehnen: ein Leben in Sicherheit und Frieden für sich und ihre Familien. Die große Mehrheit der Asylbewerber aus Tschetschenien sind Frauen und minderjährige Kinder. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Jahr 2019 hervor. Dort ist ebenfalls nachzulesen, dass Brandenburg in den Jahren 2014 bis 2019 Schwerpunktland war bei der Zuweisung tschetschenischer Asylbewerber, noch vor Nordrhein-Westfalen und Sachsen.

Die übergroße Mehrheit der tschetschenischen Immigranten sind weder Salafisten noch Wahabisten, sondern Anhänger eines jahrhundertealten liberalen Sufismus sunnitischer Prägung. Ihr Lebensalltag war Jahrhunderte lang von den kulturellen Traditionen der mündlich überlieferten Adate, den verbindlichen Regeln des Zusammenlebens in den Familien und den Tejps (Familienverbänden), geprägt. Dazu gehört bis heute die Tradition der Ältesten und Ältestenräte, die Rat geben und Streit schlichten.

Erst durch die Tschetschenienkriege gewann der Islam salafistischer und wahabistischer Prägung an Einfluss. Alles geriet durcheinander, die Spaltung geht durch die Familien, durch die Tejps, durch die Gesellschaft. Seitdem gelten drei Rechtssysteme nebeneinander: das russische, das traditionelle tschetschenische und die Scharia.

Das durch und durch korrupte Regime des tschetschenischen Machthabers Ramzan Kadyrow nutzt die Situation in eigenem Ermessen und lässt Willkür walten. Wer sich dem in den Weg stellt, wird oft genug als Islamist betitelt, bedroht, erpresst, bestraft. Nächtliche Überfälle bewaffneter „maskierter Männer“, Entführung, Folter und Verschwindenlassen sind Alltag. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Seit 2014, mit Beginn des Krieges in der Ostukraine, gibt es für Tschetschenen neue Fluchtgründe: Die russische Armee braucht Soldaten. Kadyrow liefert sie seinem Mäzen Putin gern.

Bereits zu Beginn der 2000er-Jahre etablierte der erste Statthalter von Putins Gnaden, Achmat Kadyrow, eine Diktatur. Seit 2007 leben die Tschetschenen unter der noch schlimmeren autokratischen Herrschaft seines Sohnes Ramzan Kadyrow.

Unterstützer der Tschetschenischen Republik Itschkeria

Viele Tschetschenen sind Unterstützer der Tschetschenischen Republik Itschkeria. Sie kämpfen für ein unabhängiges, von der Hunderte Jahre währenden russischen Kolonialherrschaft befreites Tschetschenien – und werden verfolgt. Vor der Privatarmee des Machthabers, den Kadyrowzy, sind die Familien nicht sicher. Die Flucht ist oft die einzige Alternative.

Die Menschen stellen in Deutschland und anderen EU-Staaten Asylanträge, von denen die übergroße Mehrzahl abgelehnt werden. Laut Bundesregierung beschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwischen Januar 2014 und August 2019 nur rund 6 Prozent der Anträge mit einem Schutzstatus oder einem Abschiebeverbot.
Den Abgelehnten bleibt dann nur der Klageweg in den Verwaltungsgerichten. Die tschetschenischen Geflüchteten warten lange – teils zehn Jahre oder länger – auf eine gerichtliche Anhörung und Entscheidung. Und oft vergebens. Zwischen Januar 2014 und August 2019 endeten nur drei Prozent der Gerichtsverfahren positiv.
Das bedeutet allerdings nicht, dass alle abgelehnten Asylbewerber ausreisen müssen oder abgeschoben werden können. Manchmal gibt es humanitäre Gründe. Außerdem besteht bei guten Integrationsnachweisen, zum Beispiel erfolgreich abgeschlossenen Deutschkursen, Schulbesuch, Lehrausbildung und Arbeit die Chance, bleiben zu dürfen.

Die Kinder sind nach so einer langen Zeit tatsächlich längst integriert, haben einen Schulabschluss oder sind in der Berufsausbildung. Trotzdem ist es nicht leicht. In Tschetschenien erlebten sie Gewalt und Hunger, sahen Menschen durch Bombenangriffe sterben. Nach Aussagen von Khisir Sulimanov, dem Vertreter der Tschetschenischen Republik Itschkeria in Deutschland, hat das tschetschenische Volk in den letzten zwei tschetschenisch-russischen Kriegen bis zu 300.000 Menschen, darunter 43.000 bis 44.000 Kinder, verloren.

Deportation auf Befehl Stalins

Auch für die Eltern ist es schwer. Auf ihnen lasten zusätzlich die Traumata vorheriger Generationen. Dazu gehört das Grauen der Vertreibung des gesamten tschetschenischen Volkes während des Zweiten Weltkrieges: Auf Befehl Stalins begann am 23. Februar 1944 die Deportation von mehr als 500 000 Tschetschenen, wie es in einer Dokumentation der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft aus dem Jahr 2003 heißt.

In einer konzertierten Aktion der Sowjetarmee und des NKWD (sowjetische Geheimpolizei) wurden Männer, Frauen und Kinder ohne jede Vorwarnung auf Viehwagen getrieben und in den Osten Kasachstans und nach Sibirien verfrachtet. Auf dem wochenlangen Weg dorthin starben Tausende an Kälte und Hunger. Durch die unvorstellbar harten Lebensbedingungen im Exil waren laut der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft schätzungsweise 260.000 Todesopfer zu beklagen. Die Odyssee endete erst nach dem Tod Stalins, als den Tschetschenen im Jahr 1957 erlaubt wurde, in ihre Heimat zurückzukehren.

Kathrin Willemsen ist eine erfahrene Flüchtlingsberaterin und Kreistagsabgeordnete der Linken in Oberhavel. Sie ärgert sich: Der Bundesregierung sei bekannt, dass Tschetschenen in Russland diskriminiert würden und in Tschetschenien der Willkürherrschaft Kadyrows ausgeliefert seien. Die Bundesregierung wisse ebenso, dass Kadyrows Schergen tschetschenische Männer zum Kriegsdienst zwängen. Das geschehe bereits seit der russischen Annexion der Krim an der damals schon bestehenden russisch-ukrainischen Front. Dennoch würde Tschetschenen jeder Schutzanspruch regelhaft abgesprochen.

Mit der fehlenden Anerkennung als Schutzberechtigte würde die Integration massiv behindert und oft durch Arbeitsverbote weiter erschwert. Die mangelnde Integration im Vergleich zu anderen Schutzsuchenden würde den Tschetschenen dann zum Vorwurf gemacht. Das sei an Zynismus nicht zu überbieten, so Kathrin Willemsen weiter.

Junge Kriegsdienstverweigerer aus Tschetschenien

Dietrich Koch arbeitet bei XENION, einem Verein, der psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte anbietet. Er sagt: „Seit 2014 kenne ich tschetschenische Familien, die zur Flucht gezwungen wurden, weil ihre wehrfähigen Söhne entführt und sie damit erpresst wurden, dass sie in die Ostukraine geschickt würden, wenn sie das Lösegeld nicht bezahlen würden. Ich kenne junge Kriegsdienstverweigerer aus Tschetschenien, die nicht bereit sind, für Putins Kriegsziele in der Ukraine elend zu krepieren und einfach abhauen.“

Die Männer aus bekannten oppositionellen Familien würden ohne Einberufungsbefehl an die Front geschickt, so Koch weiter. „Folgen sie dem ‚Auftrag‘ nicht, werden ihren Familien ‚Konsequenzen‘ angedroht. Schriftliche Beweise für das Asylverfahren gibt es für alle diese Vorgänge nicht. Ich schreibe das in meine Stellungnahmen für Bundesamt und Gerichte. Es hält mich offen gestanden sehr in Atem.“

All das hört und liest man selten. Stattdessen werden die immer gleichen Schlagworte der „Flüchtlingskrise“ wiederholt. Geht es nicht stattdessen um pragmatische Konzepte für eine nachhaltige Integration zum gegenseitigen Nutzen, um das Reden und Handeln miteinander statt einer Beförderung von Vorurteilen? Zum Beispiel könnten wir uns über den Kinderreichtum tschetschenischer Familien freuen und sie besser unterstützen.

Die Frauen der Gruppe „Lebensfreude“ und die Mitglieder des Ältestenrates sind jederzeit offen für eine Einladung zu Gesprächen. Die Tschetschenen nennen sich selbst Nochtschi (die Menschen). Das dürfte schon der kleinste gemeinsame Nenner sein.

Karin Hopfmann ist Diplomphilosophin und Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet seit 34 Jahren mit Migranten und Geflüchteten. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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