Wikipedia meint, das Wort sei in den 90ern erfunden worden. Es gab Bedarf, nach dem Wegfall des “Systemgegensatzes”, dem Sieg des real existierenden Kapitalismus, was Neues zu erfinden, um die Dummen bei Laune zu halten. “Geht doch rüber!” ging ja nicht mehr. Bzw. die von “drüben” taten es massenhaft – aus guten Gründen. Seitdem haben die “Narrative”, als Stiefgeschwister der “Fakenews”, eine Spur der intellektuellen Verwüstung hinter sich hergezogen.

Im real existierenden Kapitalismus wäre das so oder so so gekommen. In der West-BRD waren diejenigen, die nach dem 2. Weltkrieg an die Zeitungslizenzen der Alliierten gekommen waren, und die sich nicht übereilt hatten aufkaufen lassen, allesamt zu Milliardenvermögen gekommen. Schon vor der DDR-Einverleibung war die BRD bedeckt mit zahllosen Ein-Zeitungs-Kreisen. Je früher Zeitungsverleger*innen so ein Monopol realisieren konnten, umso unbegrenzter flossen Milch und Honig auf ihre Festgeldkonten. Mangels Konkurrenz schienen teure Investitionen nicht erforderlich. Als sie später “dieses Internet” bemerkten, war es zu spät zu strategischer Umkehr. Kollateralschaden war der Niedergang von Journalismus.

Das lässt sich über die Jahrzehnte in unsere Gegenwart fortschreiben. Heute gibt es längst Landkreise ohne lokales Medium. Es rechnet sich nicht, in dünnbesiedelte Gegenden zu schreiben und zu senden. In den USA ist das längst Epidemie, hierzulande hat sie begonnen (Thüringen, Sachsen-Anhalt etc.). Es gibt Leute, die hierin einen Zusammenhang mit AfD-Wahlergebnissen sehen. Richtig daran ist mindestens, dass dort, wo Infrastrukturen abgebaut werden, Faschist*inn*en immer leichteres Spiel haben. Ich kenne das aus dem Ruhrgebiet, wo sogar Fussballstadien abgerissen werden … aber ich schweife ab.

Es soll hier um den Zusammenhang von Narrativen und schlechter werdendem Journalismus gehen. Dazu fand ich heute drei eindrucksvolle Beispiele.

Der spektakuläre Fall Assange ging heute auf eine für ihn persönlich lebensrettende Zielgerade, die aber gleichermassen tödlich für Medien- und Pressefreiheit zu verlaufen droht. Denn die USA bestehen darauf, dass er von ihrem Rechtssystem als Krimineller gebranded wird. Das wäre mir in seiner Lage so egal, wie es ihm offenbar ist. Für die Demokratie der USA ist es ein Totalschaden.

Maike Gosch/nachdenkseiten beschreibt, wie sie als junge Studentin zunächst auf Narrative hereinfiel, aber, anders als die Mehrheit der was-mit-Medien-Menschen, sich der Arbeit ihrer politischen Entschlüsselung unterzog: “‘Scripted Reality’ – Wie Narrativ-Konstruktionen unser Denken und Handeln bestimmen”. Mit einer ihrer Berufskolleginnen in Köln – aus Halle rübergemacht – bin ich gut befreundet – die ist so erfolgreich, dass sie mich zu einem EM-Spiel einladen konnte, und ich nur die Bratwurst selbst zahlte (darauf habe ich bestanden). Ein weites Feld also, in dem ich auch ein Jahr selbstständig gearbeitet und nie wieder so viel Geld verdient habe.

Wie furchtbar schlimm aber die Einkommensmillionäre dieser Aufschneiderbranche ihr Niveau herunterwirtschaften, darüber hat der gute Thomas Knüwer mal wieder eine extrem eindrucksvolle Fallstudie veröffentlicht. Ich gestehe: das mediale KI-Gelabere kann mich nur noch langweilen und mobilisiert in mir Abwehrreflexe und Desinteresse. Auch von der Firma, die Knüwer behandelt, habe ich nie gehört oder gelesen. Aber für die ist das, was er da schreibt – normalerweise – so geschäftsschädigend, dass der Exitus nah sein müsste: “Das Märchen von der 500-Millionen-Finanzierungsrunde bei AlephAlpha”. Ich fürchte nur, im real existierenden Kapitalismus der Superreichen geht es so irre und wirklichkeitsblind zu, dass das noch nicht mal ein KO ist. Und was sagt es uns, wenn die Medienmehrheit willfährig mitspielt?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net