Die Welt verändert sich mit wachsender Geschwindigkeit, und unsere Republik auch. Vieles, aber nicht alles davon, liegt am Kapitalismus. Und andere Widersprüche, als der zwischen Kapital und Arbeit, sind mitunter keine Nebensache. Z.B. ob man in einer Gesellschaft leben will, die auf Rassismus baut, oder in einer, in der er bekämpft wird. Voraussetzung für Letzteres ist, dass Rassismus-Opfer nicht Gegenstand und Objekt, sondern Subjekt entsprechender politischer Strategien sein müssen. Dazu gehören mitunter auch Kapitaleigner, Präsidenten oder Kanzlerinnen.

Es kann wohl kaum linker Ernst sein, Vegetierende und Ertrinkende erst mal auf Hilfe warten zu lassen, bis der Kapitalismus kapituliert hat. Zumindest in Deutschland und Österreich, aber selbst in den regierungsoffiziell feindlich gesinnten Balkanländern, hat das die Zivilgesellschaft, im besten Sinne dieses Wortes, längst selbst in die Hand genommen. Ebenso geschah es in der Hauptstadt des Seehofer-Landes.

Die Nudging-Experten des Bundeskanzleramtes haben feine Antennen für solche grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen. Die Friedensbewegungen der 80er Jahre in beiden deutschen Staaten, der Widerstand gegen die Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl und faschistische Brandschatzungen in den 90er Jahren, hatten offensichtlich einen tieferen Sinn, als damals zu erkennen war. Die damals Aktiven haben – oftmals ganz anders organisierte – Familien gegründet, sie sind nicht im Generationenkrieg, sondern im Einvernehmen mit ihren Eltern und Kindern aufgewachsen. Sie hassen Gewalt und lieben die Liebe und in glücklichen Fällen auch sich selbst.

Das ist nicht mehr das Land von Helmut Kohl und Erich Honecker, auch wenn es noch kapitalistisch organisiert und in Fragen der Ökonomie so analphabetisch ist, dass ein Minister wie Schäuble ahnungslosen Beifall bekommt, während er die Europäische Union zerstört.

Nicht der Widerstand revolutionärer Linker oder gar Gewerkschaften, sondern das Verhalten der bestens informierten Flüchtlinge setzen jetzt seinem Modell einer gehüteten Wohlstandsburg Grenzen. Das Kapital hat schon seit mehreren Jahrzehnten vollständige gesellschaftliche Bewegungsfreiheit. Warum sollten die Menschen sie sich nicht auch nehmen und ihm folgen? Es werden immer mehr, auch wenn die meisten mit den oftmals besten Gründen es gar nicht schaffen. Es kommen nicht “alle”, sondern nur die “Besten”, die Leistungsfähigsten, die solche traumatisierenden Strapazen überstehen können.

Heute kann man sich auf anderen Kontinenten bestens mit Informationen über Europa und Deutschland versorgen. Aus welchem Grund sollten Flüchtlinge in Griechenland oder Italien verharren? Oder in Spanien? De Maiziere, Seehofer (und Merkel!) können Gesetzesverschärfungen und Grenzkontrollen erdenken, wie sie wollen. Es wird nichts daran ändern, dass neben Kapitalzirkulation und Informationsfluss auch die menschlichen Bewegungen sich globalisieren und beschleunigen.

Die vielen Tausend, die sich jetzt hierzulande in der Flüchtlingssolidarität betätigen, nicht zuletzt um auch das vermisste Glücksgefühl gebraucht zu werden auszukosten, wissen das längst und haben mit dieser Erkenntnis die herrschende Klasse in Ökonomie, Medien und Politik hinter sich gelassen. Die Blase in Berlin dreht sich noch mitten in ihrem Ukraine-Feldzug nach Westen um und erschrickt: wie ist das denn passiert? Ist das noch irgendwie umzukehren, so wie es früher einmal war? Pegida, AfD, CSU, was ist mit Euch? Sogar BILD ist schon opportunistisch umgefallen.

Im Schatten der spektakulären Ereignisse und Abläufe wird schnell noch in verfassungswidriger Weise das Asylbewerberleistungsgesetz verschlechtert, das Grenzregime nach spektakulärer Öffnung umso konsequenter verschärft, und denen, die noch einen Arbeitsplatz haben, schon mal prophylaktisch Angst vor den neuen Mitbewerbern gemacht.

Doch sollen wir uns unsere Humanität so billig abkaufen lassen? Das wird nicht mehr so gelingen, wie es in den 90ern noch geklappt hat. Die Kanzlerin weiss das und surft darauf, bevor SPD, Grüne und Linke bis Drei zählen konnten. Seehofer weiss es auch, und versucht die asymmetrische Demobilisierung auf der Rechten zu verhindern. Wenn ihm das nicht gelingt, wird seine CSU an der nächsten Regierung nicht mehr beteiligt sein. Merkel kann es gleich sein, ob es ihm gelingt oder nicht. Und kann sich an den baden-württembergischen Grünen erfreuen, die ihr ihre Partei unter der Türritze reinschieben wollen. Und die SPD? Ist eigentlich auch egal.

Der Keil steckt jetzt mitten in der CDU/CSU – und übrigens auch mitten in der EU. Es gibt ein Europa nicht nur gegen Schäuble, sondern mehr noch gegen Orban, Cameron und Rajoy. Und zwar vor allem in deren eigenen Ländern. Es sind die Flüchtlinge, die das pragmatischer und schneller begreifen, als deutsche Blogger und Kolumnisten. Das wertvolle dieser turbulenten politischen Phase sind nicht selbstreferentielle Analysen und Strategiediskussionen, sondern die sozialen Lernprozesse. Dieses Lernen ist sehr aufregend.

Nachdem ich diesen Beitrag verfasst hatte, sah ich mir die letzte Ausgabe von “Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs” an. In dieser Sendung war ein Statement des Fußballtrainers Christian Streich enthalten, nach dem ich dachte: da hättest Du Dir Deinen eigenen Text auch sparen können. Danke Christian Streich für so viel artikulierte Vernunft! Danke Zeigler und WDR fürs senden!

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net