Vorletzten Sommer sah ich ihn noch gutgelaunt auf der Rheinterasse des Hotel Königshof dinieren, am Nebentisch. Bis Ende 2012 lieferte er noch regelmässig Kolumnen für das Meinungsressort des Berliner “Tagesspiegel“. Dort predigte er die Einsicht in eine “multipolare Welt”. Heute Nacht ist sie Gewissheit für alle geworden, die das bisher nicht verstanden haben.

“Make America great again” ist paradoxerweise das untrügliche Zeichen, dass es mit der unipolaren Weltherrschaft der USA zuende geht. Und das ist aktuell die größte Gefahr: der Abstieg. Das wissen Bergsteiger. Und die Biologie weiss, wie gefährlich verwundete Raubtiere sind. Genscher war Außenminister (1974-92), als wir in den 80ern das letzte Mal vielleicht nur Sekunden am atomaren Fallout vorbeigeschrammt sind. Helmut Schmidt betrat auch deswegen den Irrweg, die Stationierung neuer US-Atomraketen zu fordern, weil ihn die Administration des missionarischen US-Präsidenten CARTEr bis 1981 in ähnlicher Weise an nervliche Grenzen getrieben hatte, wie die Terroristen der Raf. Ähnliches steht nun Frau Merkel bevor. Zur damaligen Zeit waren wir politische Gegner, aber einen Atomkrieg zu verhindern war ein gemeinsames Interesse. Gibt es diese Verbindung gesellschaftlich und global heute noch, nachdem die Kriegserinnerungen aus den Weltkriegen weitgehend weggestorben sind? Wie weit ist die soziale Vererbung dieser Erinnerungen gelungen? Oder verblasst?

Um nicht von Trumps und der USA Kampf gegen den dadurch nur sich verstärkenden Niedergang mitgerissen zu werden, sind wir heute zuvörderst auf die kühle Vernunft der Großmächte China und Russland angewiesen, die heute weder demokratisch noch kommunistisch sind, sondern eher Beispiele für besonders brutale Interpretationen kapitalistischer Ungleichheit. Vieles spricht immerhin dafür, dass die dort – aktuell – herrschenden Oligarchen berechenbar und zu strategischer Vernunft fähig sind. Während diese Eigenschaften bei “uns” rund um den Nordatlantik immer mehr auf dem Rückzug sind.

Nach Genscher kam hierzulande kein besserer Außenminister mehr. Immerhin können die Hauptstadtpolitiker*innen auf kompetente Politikberatung zurückgreifen. Hoffentlich sind sie beratbar; die meisten die ich kenne sind es kaum.

Wie können unsere Lehren aus dem aktuellen Geschehen aussehen? Norbert Röttgen artikulierte heute morgen bereits einen Anflug von politökonomischer Analyse, die ich bei ihm nicht erwartet hätte. Da er versucht sein dürfte, für seine Kanzlerin zu sprechen, könnte man fast in den Chor derer einfallen, die sie zur Wiederkandidatur bewegen wollen, am gleichen Tag, an dem ihr potenzieller SPD-Gegenkandidat den Klimaschutzplan sabotierte. “Schöner” hätte es Merkel nicht inszenieren können.

Die heute klügste Analyse in der deutschen Onlinewelt lieferte Franz Sommerfeld. Die größte Zeit seines Berufslebens war er Chefredakteur (von “rote blätter – Ich mag die DDR” bis “Kölner Stadt-Anzeiger” und zuletzt Vorstand bei DuMont-Schauberg). Seine politische Verortung wechselte oft und mit starken Ausschlägen, aber sein kluges strategisches Denken hat er sich erhalten. Das Schlüsselproblem, das sich in Europa und Deutschland stellt wie in den USA, formuliert er richtig so: “Aber es geht nicht nur um einen kulturellen, sondern auch um einen sozialen und wirtschaftlichen Klassenkampf. Die Trump-Wähler beklagen zu Recht, dass ihre Jobs nach China exportiert werden. Aber das ist noch gar nichts, gemessen an der Vernichtung von Arbeitsplätzen, die ihnen die Digitalisierung bescheren wird. Auch wenn sie es vielleicht nur ahnen, haben sie also allen Grund zur Furcht.” Und bleibt die Antwort schuldig, wie die EU und die Bundesregierung, die derzeit freudig und unbeachtet von der Öffentlichkeit ihre Fehler fortsetzen lässt, vom “beliebtesten” deutschen Politiker Schäuble.

Europäische Politiker wie Blair, Schröder, Hollande und Renzi haben die Überreste relevanter linker Kräfte in Europa weitgehend ruiniert. Kohl-Erbin Merkel ist es durch Schäubles Wirken gelungen, die einst aus mehreren Machtzentren geführte EU unter alleinige deutsche Führung zu zwingen. Und sie damit im Ergebnis in ähnlicher Weise zu zerstören, wie es Trump mit der Nato und der Führungsstärke der USA tun wird.
Wenn die “kulturelle Linke” sich nicht zu einer strategischen Antwort auf das oben von Sommerfeld skizzierte Problem herablässt, und wenn sie weiterhin auf die Entwicklung von Empathie, Verhandlungsintelligenz, Bündnis- und Kompromissfähigkeit verzichtet, dann …… vielleicht der Papst?

Zum Weiterlesen: Eine Guardian-Analyse im Freitag zu Ostasien, der vermutlich derzeit gefährlichsten Zuspitzung aller Großmachtkonflikte; sowie ein wichtiger Hinweis zu deutschen Großspendern für Trump.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net