Sie scheinen die Faxen dicke zu haben. Die Geduld der Bundesregierung mit ihren ukrainischen Schützlingen scheint endlich zu sein. Die EU hatte die Ukraine unter deutscher Führung vor den Knoten geschoben: entweder Westbindung oder nicht – Spagat geht nicht. Unter diesem Vorzeichen “gelang” die Maidan-Revolution mit ihrer Konfrontation gegen Russland. Mit dem Ergebnis kann kaum jemand zufrieden sein.
Die ukrainische Regierung sieht nur eine Chance ernst genommen zu werden: sie muss ihre Problemkonflikte “internationalisieren”. Dafür ist es notwendig, sie so gross aufzublasen, dass international überhaupt von ihnen Notiz genommen wird. Der innenpolitisch günstige Zusatzeffekt für die Regierung ist dabei immer, die Reihen nationalistisch zu schliessen. Präsident Poroschenko ist bekanntlich in grosser Bedrängnis – er hat kurz vor seinem Wahltermin noch schlechtere Zustimmungswerte als Markus Söder oder Emmanuel Macron. Aber natürlich ist das auch Zündeln mit sehr explosivem Material.
Gestern fand ich zwei stark polarisierende Texte zu dieser Konstellation:
der sonst so abgeklärt denkende Sascha Lobo publizierte ein umfangreiches Register der politischen Sünden des Putin-Regimes;
Jochen Mitschka/telepolis war einer der wenigen, der in seiner Konfliktbeschreibung dem russischen Blickwinkel breiten Raum gibt.
Mein erster Eindruck: klassischer Fall von beide haben Recht. Reflektieren dabei allerdings in gleicher Weise die Paranoia beider Seiten. Einen Ausweg zeigen sie nicht.
Irgendein Funke dieses Gedankens scheint auch in die Bundesregierung eingeschlagen zu sein. Selbstverständlich muss sie sich diplomatisch streng verklausuliert äussern. Auch SWP-Forschungsgruppenleiterin Susanne Fischer tat das. Verbal unverbrüchlich solidarisch mit der armen, kleinen ukrainischen Oligarchenregierung – subtil eingebaut jedoch die Signale, dass es dafür Grenzen gibt. Der Austausch russlandorientierter Oligarchen (Janukowitsch) durch nicht minder korrupte ukrainisch-nationalistische mit wenig Sinn für internationalen Realismus – das muss einige in Berlin langsam aber sicher sehr enttäuschen.
Das deutsche Grosskapital ist in gleicher Weise hin und her gerissen wie die Regierung. An erster Stelle stehen die Exportinteressen, d.h. Einheit der EU wahren, das Trump-Regime nicht unnötig teuer verärgern und provozieren, das China-Geschäft weiter ausbauen so gut es geht. Dahinter erst rangiert Russland, zweifellos relevant wg. Rohstoffen und als Exportmarkt mit Wachstumspotenzial. Ausserdem ist es strategisch nicht so erpressbar, wie es die Ukraine war: es kann auch mit beliebigen Anderen, Grossen (China) und Kleinen (Iran, Türkei, Syrien u.v.a.). Daran sind deutsche Kapitalgruppen sehr unterschiedlich interessiert, woraus sich politisch recht gegensätzliche Prioritätensetzungen ergeben. Der Systemjob der Bundesregierung ist, das unter einen Hut zu bringen.
Weil es so schön plakativ und personalisierbar ist, fixiert sich die symbolische öffentliche Debatte an der in Bau befindlichen Gaspipeline Northstream 2. Die Bundesregierung scheint entschlossen, sie in Betrieb gehen zu lassen, ohne sie glühend verteidigen zu müssen. Kritiker*innen soll ihre Kritik abgekauft werden: der Ukraine durch weitere Milliardensubventioenen, dem Trump-Regime durch Abkauf von teurem Flüssiggas aus Fracking-Produktion. Demnächst betritt das östliche Mittelmeer einschl. Israel den Gasmarkt. Dann wird sich ökonomisch und politisch einiges weiter umwälzen. Die Peilung der Bundesregierung scheint das schon jetzt behutsam zu verschieben.
Das hat auch Matthias Platzeck wahrgenommen, der sich seit Beendigung seiner SPD-Karriere dem deutsch-russischen Dialog und der Bundeskanzlerin neuerdings regelrechte Lobeshymnen widmet – etwas, worauf sein Parteigenosse Maas noch lange warten kann.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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